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Produktdetails
  • Verlag: Aufbau-Verlag
  • Seitenzahl: 447
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 674g
  • ISBN-13: 9783351024932
  • ISBN-10: 3351024932
  • Artikelnr.: 24173088
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2000

Ein paar Narren
Harro Schulze-Boysen, die "Rote Kapelle" und ein bisschen ganz persönliche historische Illusion

Hans Coppi, Geertje Andresen (Herausgeber): Dieser Tod paßt zu mir. Harro Schulze-Boysen. Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915 bis 1942. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 447 Seiten, 21 Abbildungen, 49,90 Mark.

Landesverrat: So lautete die Anklage des Reichskriegsgerichts vom November 1942 gegen Oberleutnant Harro Schulze-Boysen und das Urteil der Zeitgeschichtsforschung in der alten Bundesrepublik über die "Rote Kapelle". Denn die Männer und Frauen der Berliner Widerstandsgruppe, die ihren Namen von der deutschen Abwehr im besetzten Belgien erhielt (das "Konzert" der von Moskau aus dirigierten Funkstellen in Westeuropa unter nationalsozialistischer Herrschaft), hatten 1941/42 "Geheime Reichssachen" an die Sowjetunion übermittelt. Damit standen sie in westdeutscher Sicht "im Dienst des feindlichen Auslandes" (Gerhard Ritter). Demgegenüber wurden sie in ostdeutscher Perspektive zu makellosen Helden stilisiert, die sich stets an den Beschlüssen der KPD-Führung in Moskau orientiert hätten.

Erst in den achtziger Jahren setzte sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik eine Neubewertung der "Roten Kapelle" ein, die 1992 zu einer Sonderausstellung der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand und einer wissenschaftlichen Tagung führte. Statt der jahrzehntelang behaupteten pauschalen Moskau-Hörigkeit, KPD-Gläubigkeit und Kundschafter-Bewunderung interessierten nun endlich individuelle Lebenswege und Motive der Mitglieder der "Roten Kapelle".

Einen solchen Weg in den Widerstand veranschaulichen die eindrucksvollen Briefe an Eltern, Verwandte und Freunde, die Harro Schulze-Boysen zwischen 1915 und 1942 verfasste. Der Sohn eines Seeoffiziers und Großneffe des Großadmirals Alfred von Tirpitz (Staatssekretär im Reichsmarineamt bis 1916) nahm schon als Dreizehnjähriger während des Ruhrkampfes 1923 an Aktionen gegen die französische Besatzungsmacht teil, kam für kurze Zeit in Haft und schloss sich begeistert einer Jugendgruppe des Jungdeutschen Ordens an.

Als Student in Freiburg zog er "gründlich gegen Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung zu Felde" und erläuterte am 12. August 1929 dem Großonkel Tirpitz, warum der Jungdeutsche Orden alle Parteien unter dem Schlagwort des "Parteiismus" ablehnte: Sie lebten "auf Kosten der Volksgesundheit" nur "von Hetze und Demagogie", seien "keine organischen Volksvertreter mehr", sondern zum großen Teil nur wirtschaftliche Interessengruppen.

Durch den Wechsel des Studienortes verstärkte Schulze-Boysen in Berlin zunächst seine Aktivitäten für den Jungdeutschen Orden. Die Aufgabe seiner Generation definierte er am 25. Oktober 1930 als "Synthese der Werte, die in unserem Volk lebendig sind, nicht in der Herrschaft des geistig beschränkten Gummiknüppels". Hitlers "Mein Kampf" empfand er als "Sammelsurium von Plattheiten", die "Rassentheorie" als "Unsinn".

Seit Ende 1930 ließ er zum Leidwesen der Eltern das Jurastudium schleifen und schrieb Artikel für "Die Tat", bis er im November 1931 zu Franz Jungs Zeitschrift "Gegner" wechselte, deren Schriftleitung er am 5. März 1932 übernahm. Erste Differenzen mit der Politik des Jungdeutschen Ordens zeichneten sich ab, weil er die "oberflächliche Hetze ,Gegen den Marxismus'" nicht mitmachen wollte. Stattdessen befürwortete er jetzt die Abschaffung des kapitalistischen Systems, die Einführung der Planwirtschaft und die "Liquidierung des Diktats von Versailles".

Auf Hitlers Machtantritt folgte kein sofortiges Verbot des "Gegners". Dennoch riet ihm der besorgte Vater, die Berliner Gefahrenzone zu verlassen und einen einjährigen Fliegerlehrgang an der Deutschen Verkehrsschule in Warnemünde zu absolvieren. Der Sohn zögerte noch, weil er kein "fanatischer Kommunist" sei. Ende April 1933 wurde dann die Redaktion von SS-Leuten besetzt. Schulze-Boysen und sein jüdischer Mitarbeiter Henry Erlanger mussten sich in einem zur Folterkammer umfunktionierten Kegelkeller von SA-Männern auspeitschen lassen. Erlanger überlebte diese Tortur nicht, Harro wurde nur durch seine beherzte Mutter gerettet, die sich an Magnus von Levetzow wandte, den Berliner Polizeipräsidenten, ein früherer Admiral und Marinekamerad ihres Mannes.

Fremde Luftmächte

Jetzt blieb als Ausweg die Ausbildung zum Seebeobachter, die Schulze-Boysen Mitte Mai 1933 antrat. Seiner Schwester Helga gestand er am 9. Oktober 1933, dass er mittlerweile "zu schweigen gelernt" habe. Im März 1934 bemühte er sich verstärkt um äußerliche Anpassung an das NS-Regime und kam sogar in der Abteilung "Fremde Luftmächte" des Reichsluftfahrtministeriums unter. In dieser Zeit lernte er Libertas Haas-Heye kennen, die Enkelin des skandalumwitterten Fürsten Philip zu Eulenburg-Hertefeld. Sie war am 1. März 1933 in die NSDAP eingetreten und als Pressereferentin bei Metro-Goldwyn-Mayer tätig. Die beiden heirateten 1936 auf dem Eulenburg-Schloss Liebenberg und führten anschließend eine sehr unkonventionelle Ehe, weil Libertas weiterhin "von allen begehrt werden" wollte (so Margit Weisenborn). Übrigens trat Libertas aus der NSDAP unter dem Vorwand aus, als Ehefrau den Anforderungen der Parteiarbeit nicht mehr gerecht werden zu können.

Einer der beiden Herausgeber dieser Briefe, Hans Coppi, publizierte bereits 1993 eine Teilbiographie über Schulze-Boysen bis zum Jahr 1938, was dieser Auswahledition weniger in der Kommentierung als in umfangreichen darstellenden Zwischentexten zugute gekommen ist. Daher lassen sich Schulze-Boysens Kritik am Nationalsozialismus, seine Lebensumstände und die Entwicklung des überwiegend kommunistisch geprägten Freundeskreises zu einer Widerstandsgruppe nachvollziehen. Davon erfährt der Leser der Briefe natürlich nichts.

Den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 verteidigte Schulze-Boysen gegenüber den Eltern vehement. Außerdem vertrat er die abstruse Meinung, dass der britische Premierminister Chamberlain mit der zum Münchener Abkommen führenden Appeasement-Politik "tatsächlich an diesem Krieg weitgehend schuld" sei, wenngleich die tieferen Kriegsursachen "an der verkommenen Struktur unserer ganzen Gesellschaftsordnung, die reif zum Abbruch ist", lägen.

Mitte Januar 1941 erfuhr der im Reichswirtschaftsministerium tätige Universitätsdozent Arvid Harnack von Schulze-Boysen, der zu Jahresbeginn in die Attaché-Gruppe des Reichsluftfahrtministeriums versetzt worden war und nebenher an einer Dissertation über sowjetische Außenpolitik arbeitete, von den Vorbereitungen des Russlandfeldzuges und den Aufklärungsflügen über sowjetisches Territorium. Über Alexander Korotkow (NKWD-Auslandsdienst) wurden diese wertvollen Informationen nach Moskau weitergegeben.

Seit dem Angriff auf die UdSSR vom 22. Juni 1941 lohnte sich für Schulze-Boysen das private Briefschreiben nicht mehr, "es sei denn im Sinne des Lebenszeichens". Nach vierzehn Monaten rassenideologischen Vernichtungskriegs im Osten verstieg er sich im August 1942 zu der Vorstellung von einem anglo-amerikanischen Plan, dass "Deutsche und Russen weiterhin lediglich ,Ad maiorem gloriam der Angelsachsen', wie Onkel Alfred es nannte, verbluten" sollten. Er wünschte sich nun vergeblich Anstrengungen der "beiden Betroffenen", einem solchen "Automatismus zu entrinnen".

Am 31. August 1942 wurde Schulze-Boysen aufgrund entschlüsselter Funksprüche und Beobachtungen der Gestapo enttarnt. Wenige Tage später wurde auch Libertas, die zwischenzeitlich für die Bildstelle der Kulturfilmzentrale arbeitete und für Flugblattaktionen der "Roten Kapelle" Unterlagen über Verbrechen des NS-Regimes gesammelt hatte, festgesetzt. Sie vertraute sich unter dem Druck der Verhöre einer Gestapo-Beamtin an und bat sie, den kommunistischen Dreher Hans Coppi zu warnen. Daraufhin wurden Coppi, seine Frau Hilde und andere verhaftet. So wurde der Herausgeber dieser Briefe im November 1942 in einem Berliner Frauengefängnis geboren. Sein Vater wurde gemeinsam mit Harro und Libertas Schulze-Boysen am 22. Dezember 1942 in Plötzensee hingerichtet, die Mutter am 5. August 1943.

Im letzten Brief an die Eltern dankte Harro Schulze-Boysen für ein "reiches, schönes Leben, von dem so vieles ich Euch verdanke": "Mag sein, daß wir nur ein paar Narren waren; aber so kurz vor Toresschluß hat man wohl das Recht auf ein bißchen ganz persönliche historische Illusion."

RAINER A. BLASIUS

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In seiner Rezension nutzt Rainer A. Blasius die Gelegenheit, ein kleines Porträt Schulze-Boysens zu zeichnen und damit neugierig auf die besprochene Briefsammlung zu machen. In seinen Augen lohnt die Lektüre der Briefe vor allem deshalb, weil sie den Weg Schulze-Boysens in den Widerstand zeigen. Als besonders erhellend empfindet der Rezensent darüber hinaus die Zwischentexte des Herausgebers Hans Coppis, der viele Zusammenhänge und Hintergründe sowie kritische Äusserungen zum Nationalsozialismus, die Schulze-Boysen in den Briefen nicht dezidiert zu Papier gebracht hat, erklärt bzw. ergänzt. Hans Coppi ist der 1942 in einem Frauengefängnis geborene Sohn von Hans und Hilde Coppi, die mit dem Ehepaar Schulze-Boysen befreundet waren und wie diese 1942 bzw. 1943 hingerichtet wurden.

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