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Mit seiner ungewöhnlichen Technik der Autofiktion, der literarischen Beschreibung tatsächlicher Ereignisse in seinem Leben, hat Grégoire Bouillier in Frankreich Kultstatus erlangt. Erfrischend und geistreich erzählt er hier seine Geschichte und die seiner Familie und liefert damit zugleich eine aparte Weltbetrachtung. Als der siebenjährige Grégoire seiner Mutter auf die Frage, ob er sich von ihr geliebt fühle, schüchtern antwortet: "Vielleicht etwas zu sehr", will sie sich sofort aus dem Fenster stürzen. Keine Frage, sie ist ein hysterischer Freigeist, und das prägt Grégoires Weltbild genauso…mehr

Produktbeschreibung
Mit seiner ungewöhnlichen Technik der Autofiktion, der literarischen Beschreibung tatsächlicher Ereignisse in seinem Leben, hat Grégoire Bouillier in Frankreich Kultstatus erlangt. Erfrischend und geistreich erzählt er hier seine Geschichte und die seiner Familie und liefert damit zugleich eine aparte Weltbetrachtung. Als der siebenjährige Grégoire seiner Mutter auf die Frage, ob er sich von ihr geliebt fühle, schüchtern antwortet: "Vielleicht etwas zu sehr", will sie sich sofort aus dem Fenster stürzen. Keine Frage, sie ist ein hysterischer Freigeist, und das prägt Grégoires Weltbild genauso wie das Verhältnis von Literatur und Hochstapelei. Ein witziges, launehebendes Vergnügen und einiger Stoff zum Nachdenken über die eigene Biografie.
Autorenporträt
Grégoire Bouillier, geboren 1960, lebt in Paris als Maler, Autor und Journalist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2010

Diesen Dornröschen-Erweckungskuss der ganzen Welt

Stete Improvisation stärkt die Seele und die Kunst: Grégoire Bouilliers Lebensbericht "Ich über mich" liest sich wie ein Krimi in eigener Sache.

Von Ingeborg Harms

Leibniz schloss den Zufall aus, indem er erklärte, dass jede Monade eine Spezies für sich ist und durch die Gesamtheit ihrer Prädikate definiert wird. Alles, was demnach einem Menschen widerfährt, ist charakteristisch für ihn und gehört zu seinem Wesen.

Auch der autobiographische Roman Grégoire Bouilliers "Ich über mich" handelt von untergründigen Gesetzen und Bedeutungen, die so scheinbar belanglose Dinge wie das Muster einer Bluse oder der Vokal in der letzten Silbe eines Namens für sein Leben haben. Ihr Einfluss auf ihn entfaltet sich in der Sprache. So setzt er die Tintenflecke, als die er das Blusenmuster einer ihn faszinierenden Frau identifiziert, in einen ursächlichen Zusammenhang zum Tintenfass, das er vier Jahre später im Streit mit ihr an die Wand wirft. Und eine gemeinsame Amerika-Reise ergibt für ihn erst Sinn, als ihn der Golf von Mexiko an eine Kindheitsepisode erinnert, in der es um einen Golfausflug ging, der nie stattfand. Dass er mit vierzig zu schreiben begann, erklärt er mit einer gefährlichen Infektion, derentwegen er als Kind in Quarantäne lag. Quarante, vierzig: "Ein Wort mit sieben Buchstaben zog also die Grenzen meiner Welt. Als mir klarwurde, dass Sprache mein Leben strukturierte, war ich niedergeschmettert." Bouilliers Kabbalistik des Ephemeren ist ein existentieller Strukturalismus, eine Landschaft der Wortriffs, radikal individuell und nur literarisch zu erkunden.

Seit Sigmund Freud die sprachliche Struktur des Unbewussten entdeckte, wissen wir, dass sich der Mensch durch Wortverschiebungen, Metonymien und Metaphern Zugang zu seinen Verdrängungen ertrotzt. Bouillier entdeckt, dass die Psyche auch in libertinären Zeiten noch sprachliche Rätsel und Mythen generiert. Für ihn enthalten sie das schicksalhafte Muster seiner Existenz, seinen seelischen Gencode sozusagen. Dabei variiert er die These vom Todestrieb, der nach Freud alles Lebendige ins Anorganische zurückstreben lässt. Bei Bouillier gibt es eine Instanz, die an biographischen Schlüsselereignissen hängt und diese fortwährend repliziert. Gerade weil es dabei auf Namen und historische Details ankommt, hat er auf jede Retusche verzichtet. Sein entwaffnend offener Lebensbericht liest sich wie ein Krimi in eigener Sache.

Und obwohl er zur Generation Michel Houellebecqs gehört, könnten die Unterschiede nicht größer sein. Wie sein Kollege ist Bouillier Kind freizügiger Eltern, die sich gerne zu mehreren vergnügten und die die zum Gruppensex geladenen Gäste hinterher auf dem Wohnzimmersofa übernachten ließen. Doch im Gegensatz zu Houellebecq hat die Erfahrung Bouillier nicht zynisch gemacht. Eine Dame, die er schlafend auf der Couch entdeckt, zieht ihn so magisch an, dass er ihre Brüste entblößt: "Ich möchte mich zu ihr legen, sie soll mich in ihre Arme nehmen, mich küssen und sich von mir berühren lassen." Mit dieser Begegnung verbindet der Autor seine Vorliebe für das Dornröschen-Märchen: "Später küsste ich die Frauen, die mir begegneten, mit Leidenschaft und hoffte, sie endlich zu erwecken." Wo Houellebecq sich für ein bitteres "Alles schon gesehen" entscheidet, rettet Bouillier die Naivität des amoralischen Kinderblicks. Gerade aus seinen erotischen Grenzerfahrungen werden ganze Sinnsysteme generiert. Die Einladung zur Golfpartie stammt von der Mutter eines Schulfreunds, die er kurz zuvor im Bad am Bidet überrascht hat. Gebannt betrachtet er ihren nackten Rücken und das hohle Kreuz. Sie bemerkt ihn nicht und schlägt den Kindern kurz darauf gut gelaunt den Golfausflug vor: "Ich kann nicht ermessen, was ich diesem Lächeln verdanke. Es sagt mir, dass ich nicht schuldig bin, dass niemals alles verloren ist, dass das Dasein reine Freude ist und das Unvorhergesehene das einzig Lebensbejahende." Doch dann informiert die Großmutter ihre Tochter über den Voyeur, und die Reaktion ist vernichtend. Nicht nur wird der Ausflug abgesagt, jeder Kontakt des Helden mit der Familie bricht ab, und sie selbst siedelt kurz darauf auf einen anderen Kontinent über.

Bouillier trägt aus der Episode keinen Menschenhass davon, er gewinnt ihr eine private Utopie ab, die unter dem Stichwort "Golf" archiviert ist. Was seinen Wortzauber so provokativ macht, ist, dass er ihn nicht den Triebinteressen des Unbewussten zurechnet, sondern eine Schicht tiefer in einer Realität ansiedelt, die jenseits von Zeit, Raum und Kausalität liegt. Die sprachlichen Entdeckungen, durch die er sich diesem Bereich nähert, sind nichts als Kontrastflüssigkeit für seine Lebensthemen. Daher gibt es noch eine andere Traditionslinie, die an Freud vorbei zu Bouillier führt. Sie läuft von den Jenaer Romantikern mit ihrer divinatorischen Kritik und der Suche nach einer Neuen Mythologie über die Surrealisten bis zu Walter Benjamins Opiumexperimenten.

"Ich über mich" ist ein esoterisches Manifest, das sich gegen den Konsum kollektiver Fetische, Spektakel und trivialer Gemeinplätze wendet. Bouillier ist überzeugt, dass es weder Vergnügungen noch Nachrichten für alle geben kann. Dramatische Vorkommnisse, die gemeinhin Stoff der Sensationspresse sind, handelt er als Haikus des Lebens lakonisch in zwei Sätzen ab. Homers "Odyssee" hingegen, die er mit neun Jahren verschlang, ist in seiner Welt ein Leitartikel: "Es war, als würde mir plötzlich die Sonne ins Gesicht scheinen. Jeder Vers schien für mich bestimmt." Szene für Szene projiziert er das antike Epos auf die eigene Biographie und sondiert mit ihrer Hilfe künftige Ereignisse. Mit der Odyssee glaubt er den Schlüssel zu seinem Leben, ja, "den Plan der Zeit" in Händen zu halten. Die aufgespürten Analogien sind so verblüffend wie banal und könnten als solche aus Joyces "Ulysses" stammen.

Vor allem sind es die Extremzonen von Sexualität und Gewalt, aus denen der Erzähler gestärkt zurückkehrt. Sein seelisches Überleben verdankt er einer hyperaktiven Reflexion, die den akuten Gefahren und Verstörungen neue Erkenntnisse abgewinnt. Er beweist die List des Homerischen Helden, wenn er Ungeheuern begegnet, die sich bei Bouillier als wechselnde Gestalten der herrschenden Moral erweisen. Beim ersten Beischlaf gelingt ihm der Akt nicht, bis er sich zusammenreimt, was weder in Büchern noch Filmen erzählt wird: "An diesem Tag verstand ich, dass das Leben da begann, wo die Bilder aufhörten. Da, wo ich improvisieren musste und auf mich gestellt war." In diesem experimentellen Dasein, das auf der Suche nach Wahrheit "alles aufs Spiel" setzt, gibt es eine Unfehlbarkeitsfrequenz, auf der sich der Protagonist in extremen Momenten bewegt. Als ihm in so einem hellwachen Augenblick auf dem Schulhof ein Murmelwurf vereitelt wird, schlägt er ohne Bedauern wie ein nietzscheanischer Übermensch zu. Die Strafe erreicht ihn nicht, er staunt nur "über die teuflische Präzision" seines Wurfs und entdeckt angesichts der Wetttrophäe, die so viel Aggression entfesseln konnte, seine "Abneigung gegen die Warenwelt".

Nur wenn das Individuum sich nicht vom Kollektivwahn blenden lässt, so das Fazit, und ein geschärftes Bewusstsein für die Dinge entwickelt, die für es bestimmt sind, kann die Gewalt, die am Nullpunkt der Konventionen lauert, gebannt werden. Der gleichfalls in dieser Extremzone angesiedelte Eros ist davon nicht betroffen, denn seine Winke verheißen ein radikal individuelles Schicksal, etwa wenn sie den Erzähler einem Straßenmädchen von grotesker Hässlichkeit nachlaufen lassen. Mit seiner Privatmythologie sieht sich Bouillier unterwegs ins Mittelalter; dies betrifft nicht nur das Denken in Korrespondenzen, sondern auch das Glücksrittertum, das er für die Prosa der aufgeklärten Welt zurückerobert. Glück versteht er im weiten Sinne heftiger Peripetien: Obwohl seine Jugend strapazenreich war, beginnt sein Buch mit der auf Tolstois "Anna Karenina" bezogenen Antiphrase: "Ich hatte eine glückliche Kindheit."

"Ich über mich" ist ein kosmopolitisches Epos, dessen Drachen in den Städten wohnen. Doch Grégoire Bouilliers sprachliche Meditationen lassen den Dschungel von "Berlin Alexanderplatz" oder "Manhattan Transfer" weit zurück. Die biographischen Themen, die er entdeckt, multiplizieren, kopieren und fächern sich auf wie Mandelbrotsche Mengen, auf jeder Ebene kehrt der Mastercode variiert zurück. Kein Wunder, dass selbst mathematische Spekulationen über Wurmlöcher in der Zeit bei ihm ein Echo finden. Auch die Metamorphosen, um die es dem Autor geht, sind spekulative Früchte, poetische Formeln für Zufälle, Koinzidenzen und andere Rätsel des alltäglichen Lebens. Ein Lieblingswort des Autors ist Entrückung, er versteht es im antiken Sinn des erotischen Verkehrs mit Göttern, die auf Erden wandeln. Das erlösende Wort liegt in der Divination der mythischen Rolle, die sie dem Einzelnen anbieten. Wer sie entschlüsselt, dem bleiben auch die Helfer nicht verborgen. Insofern ist "Ich über mich" ein Metaroman, nämlich die Deutung des Romans, der das Leben selbst ist.

Grégoire Bouillier: "Ich über mich". Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2010. 160 S., geb.,15,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Thomas Laux hat sein Vergnügen an diesem autobiografischen Roman von Gregoire Bouillier, der zwar voller tragischer Ereignisse und Abgründe steckt, aber durch den trotzdem kein Hauch von "Tristesse" wehe. Dem Rezensenten gefällt der "frische" Erzählstil, die Erzählung wirkt wie eine "grandiose, unhintergehbare Missachtung von Schicksal". Das Heranwachsen von Bouillier gleicht einem "Vorwärtsirren", das abseits der Norm vonstatten geht, was aber weniger an einem Protestentwurf des Protagonisten liege als an dem "Ausfall entscheidender Parameter elterlich sanktionierter Gesetze". Dafür hält sich Bouillier an die Literatur und lässt sich von ihr retten. Damit kommt in Laux' Augen eine "Rezeptur" zur Anwendung, die er nur "klassisch" nennen könne.

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