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Wie wurden totalitäre Ideen und Systeme in den Geistes- und Sozialwissenschaften rezipiert? Wie groß war der Einfluss des Totalitarismus auf die universitären Diskurse? Eine disziplinenübergreifende Aufarbeitung der Zeit nach 1945 blieb bis heute weitgehend aus oder auf isolierte Aspekte beschränkt.
Eine Gesamtschau auf das heikle Thema steht noch immer aus. Der vorliegende Band trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der Rezep-tion des Totalitarismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945 in Deutschland und Italien. Der Sammelband präsentiert
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Produktbeschreibung
Wie wurden totalitäre Ideen und Systeme in den Geistes- und Sozialwissenschaften rezipiert? Wie groß war der Einfluss des Totalitarismus auf die universitären Diskurse? Eine disziplinenübergreifende Aufarbeitung der Zeit nach 1945 blieb bis heute weitgehend aus oder auf isolierte Aspekte beschränkt.

Eine Gesamtschau auf das heikle Thema steht noch immer aus. Der vorliegende Band trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der Rezep-tion des Totalitarismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945 in Deutschland und Italien. Der Sammelband präsentiert die Beiträge einer von der Alexander von Humboldt Stiftung geförderten internationalen Tagung ("Humboldt-Kolleg") des Kulturwissenschaftlichen Instituts der Universität Luzern in Zusam-menarbeit mit der Universität Florenz.
Autorenporträt
Enno Rudolph, geboren 1945, Professor für Philosophie an der Universität Luzern und geschäftsführender Direktor des kulturwissenschaftlichen Instituts der Universität Luzern.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2006

Die Fächer verlassen den Saal
Philosophie und Totalitarismus in Deutschland und Italien
Zwar tritt immer wieder jemand auf, der zu beweisen versucht, Martin Heidegger sei nicht nur gelegentlich seiner Rektoratsrede von 1933 ein Nationalsozialist gewesen: Eher biographisch hatte Victor Farías in den späten achtziger Jahren diesen Verdacht zu begründen versucht, eher philologisch erst vor kurzem der französische Philosoph Emmanuel Faye (siehe SZ vom 24. Juni 2005). Entschieden aber wurde nur wenig – die große Wirkung Heideggers auf die gesamte europäische Philosophie der Nachkriegszeit ließ sich dadurch ebensowenig verändern wie die Überzeugung seiner Anhänger, jede noch so dezidierte Forderung Martin Heideggers nach Affirmation von Führerwillen und Gewalt sei nur Schein.
Die Schwierigkeiten mit Martin Heidegger mögen indessen damit zusammenhängen, dass er stets die Indizien gleichsam selber liefern soll, in Gestalt von inkriminierbaren Stellen. Dass es auch anders gehen kann, nämlich in Gestalt einer Auseinandersetzung mit der akademischen Philosophie insgesamt an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung, zeigt ein Band über die „Rezeption des Totalitarismus in den Geisteswissenschaften”, in dem zwei nationale Entwicklungen, nämlich die deutsche und die italienische, einander gegenübergehalten werden. Wie so oft, entsteht darin unter dem Zwang, Fremden etwas Einheimisches erklären zu müssen, ein höheres Maß an Klarheit.
So ist es auch im Beitrag des Marburger Philosophen Reinhard Brandt, der sich mit der Rolle des „Selbst” in Martin Heideggers „Sein und Zeit” und eben jener Rektoratsrede auseinandersetzt. Die Lehre zum „selbstbezogenen, sich selbst entschließenden Sein”, erklärt er, werde durch das Bekenntnis zu Deutschtum und Führerwillen nur realisiert. Im Zentrum stehe die Forderung nach unbedingter Affirmation, erkennbar darin, dass alles „aus dem Saal entfernt” sei, was noch an Reflexivität, an tatsächliches philosophisches Denken erinnere – sei es im Theoretischen, etwa wenn es um das Verhältnis von Subjekt und Prädikat bei Platon gehe, sei es im Praktischen, etwa im Hinblick auf Kants Begriff der Freiheit. In Martin Heideggers Philosophie, so ist dieser Gedanke weiterzuentwickeln, vollendet sich die Geschichte eines Faches, das die Einzelwissenschaften aus sich entließ, um als pure Form des Denkens zurückzubleiben. In dieser Gestalt aber ist Philosophie eine wissenschaftsfeindliche Disziplin – ein bloßes Hinnehmen des Vorhandenen.
Manch einem erscheint da Hans-Georg Gadamer, der Philosoph des unendlichen Deutens, als demütiges, bedächtiges Gegenüber – in Deutschland ohnehin, aber mehr noch in Italien, wo er als „angesehenster und glaubwürdigster Interpret des zeitgenössischen deutschen Denkens” gilt. Aber auf welcher Basis? Auf Grundlage einer „argwöhnischen Haltung gegenüber der szientifischen Rationalität”, erklärt Massimo Ferrari, und Dominic Kaegi erläutert, was dieses Misstrauen gegenüber dem urteilenden Verstand mit der übergroßen Bedeutung der philosophischen Tradition in Gadamers Hermeneutik verbindet: eine „konsequent vollzogene Affirmation der Geschichte”. Die unbedingte Lehre vom tiefsten Grund allen Seins und die radikale Skepsis der Hermeneutik geraten so in eine unmittelbare Nachbarschaft – als Konstruktionen von eigengesetzlichen Gegenwelten.
Aber wie geht die Geschichte weiter, wenn das „Sein” das „Nichts” ist? Nicht in der Philosophie, so viel lässt sich sagen, oder wenn in der Philosophie, dann in Gestalt eines systematischen Rückschritts, in der Auseinandersetzung mit (auch der eigenen) Geschichte wie mit dem Bekenntnis zur Tradition. Der Band vollzieht ihn, indem er neben der Philosophie auch die Sozialgeschichte und die politische Geschichte zu Wort kommen lässt – bis hin zum Soziologen Hans-Georg Söffner, der im letzten Beitrag des Buches die deutsche Erinnerungspolitik der vergangenen Jahrzehnte, von der Frage nach den Gedenkstätten für den Holocaust bis hin zu W. G. Sebald, der die Wandlungen eines „Täterkollektivs” zu einer „Sühnegemeinschaft” verfolgt, letztere vereint in der Hoffnung, es gebe so etwas wie „Selbsterlösung”: einen Weg aus der Geschichte hinaus. Es ist das nicht geringe Verdienst dieses Buches, diesen Weg an einigen entscheidenden Stellen zu sperren.
THOMAS STEINFELD
STEFANO POGGI, ENNO RUDOLPH (Hrsg.): Diktatur und Diskurs. Zur Rezeption des Totalitarismus in den Geisteswissenschaften. Orrell Füssli Verlag, Zürich 2005. 368 Seiten, 32,80 Euro.
Die Lehre von der unbedingten Affirmation: Martin Heidegger
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Verdienstvoll findet Rezensent Thomas Steinfeld vorliegenden Sammelband über die Rezeption des Totalitarismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945 in Deutschland und Italien. Er attestiert den diversen Beiträgen eine klare und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Neben Reinhard Brandts Beitrag über Martin Heideggers wissenschaftsfeindliche Seinsphilosophie, die sich im Bekenntnis zu Deutschtum und Führerwillen verwirklicht, hebt er die Beiträge von Massimo Ferrari und Dominic Kaegi zu Hans-Georg Gadamer hervor. Deutlich wird für Steinfeld dabei die Verbindung von Gadamers Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Rationalität und der übergroßen Bedeutung der philosophischen Tradition in seiner Hermeneutik in einer "konsequent vollzogenen Affirmation der Geschichte".

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