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Auch rund 100 Jahre nach der Niederschrift noch unbedingt lesenswert: die erlebte Literaturgeschichte des Revolutionärs Fürst Pëtr Kropotkin.

Produktbeschreibung
Auch rund 100 Jahre nach der Niederschrift noch unbedingt lesenswert: die erlebte Literaturgeschichte des Revolutionärs Fürst Pëtr Kropotkin.
Autorenporträt
Pëtr Kropotkin, geboren 1842 in Moskau, war Geograph, Revolutionär und einer der bedeutendsten Theoretiker des Anarchismus. 1874 wurde er aus politischen Gründen verhaftet, 1876 gelang ihm die Flucht nach England. Er kehrte erst nach der Revolution 1917 nach Ruà land zurück. 1901 erhielt er eine Einladung des Lowell-Instituts in Boston, eine Vortragsreihe über die russische Literatur zu halten, auf welcher Ideale und Wirklichkeit basiert. Kropotkin starb 1921 in der Nähe von Moskau.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Michael Martens ist dieses wieder aufgelegte Buch von Pjotr Kropotkin bis heute eine der besten Einführungen in die russische Literatur. Der Rezensent feiert es zudem als ein spannendes Werk über Russland überhaupt, wo seiner Meinung nach "Geschichte und Literaturgeschichte noch weniger voneinander zu trennen sind als in anderen Ländern" und als "ein Roman über russische Romane und ihre Leser" und "schließlich auch ein Selbstbildnis eines ihrer originellsten Denker". Das Buch ist, wie Martens berichtet, aus Vorträgen über die russische Literatur des 19. Jahrhunderts hervorgegangen, die Kropotkin 1901 in Boston gehalten hat. Martens lobt das "Talent zur Aussparung" des Autors, der "sein umfangreiches Lese- und Lebenswissen" darum "bequem auf weniger als fünfhundert Seiten" unterbringen konnte. Und weil Kropotkin nicht nur die russische Literatur gut kenne, sondern in vielen Fällen auch "die Wirkungen persönlich erlebte, welche die großen Romane des 19. Jahrhunderts im lesenden Russland hatten", seien außerdem, lobt der Rezensent weiter, Kropotkins "gelegentliche Abschweifungen meist mindestens so interessant wie sein eigentliches Thema". Da können dann selbst die "manchmal plüschigen literarischen Vorlieben" des Autors, und dass seine ästhetischen Kriterien "etwas Ohrensesselhaftes an sich" haben, den Wert des Buches für den Rezensenten nicht schmälern.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2004

Karamasow? Ein paar gute Stellen
Unbegrenzt haltbar: Pjotr Kropotkins russische Literaturgeschichte

Vor gut einem Jahrhundert trat das Lowell Institute in Boston mit einem ungewöhnlichen Angebot an Pjotr Kropotkin heran, den damals schon weltbekannten Theoretiker des Anarchismus: Kropotkin wurde gefragt, ob er einige Vorträge zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts halten wolle. Zum Glück nahm er das Angebot an, denn aus seiner Vortragsreihe, gehalten im März 1901, wurde später ein Buch, das bis heute eine der besten Einführungen in die russische Literatur ist - und gleichzeitig ein spannendes Werk über Rußland, wo Geschichte und Literaturgeschichte noch weniger voneinander zu trennen sind als in anderen Ländern.

Kropotkins "Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur" - der Autor nennt seine Aufzeichnungen bescheiden eine Skizze - sind ein Leitfaden durch eine immens reiche Literaturlandschaft, ein Nachschlagewerk, ein Roman über russische Romane und ihre Leser, ein Beitrag zur Geistesgeschichte Rußlands und schließlich auch ein Selbstbildnis eines ihrer originellsten Denker. Kropotkin (1842 bis 1921) begegnet dem Leser als ein Mann, der in seinem bewegten Leben, das äußerlich zunächst der Geographie, dann der Politik, aber keineswegs der Literatur gewidmet war, in jeder freien Minute gelesen haben muß: Nicht nur die russischen Schriftsteller seiner Zeit, sondern das Maßgebliche bis zurück zu den Stadtchroniken und dem Igorlied, der russischen Urdichtung. Weil er Talent zur Aussparung hat, bringt Kropotkin sein umfangreiches Lese- und Lebenswissen dennoch bequem auf weniger als fünfhundert Seiten unter. Einiges übergeht er so souverän, wie es nur jemand kann, der sich auf vertrautem Terrain bewegt. ("Er wurde, wie bereits erwähnt, in einem Duell getötet", heißt es etwa lapidar über Puschkins Tod, der anderen Stoff für ganze Bücher bot.)

Dabei bleibt Kropotkin auch in seinen lakonischsten Momenten ein Patriot der russischen Literatur, deren zentrale Figuren er genauso detailliert porträtiert wie die Schriftsteller, die sie erfanden. Ob er den kauzig-genialen Gogol beschreibt oder dessen Tschitschikow, den nicht zu dicken und nicht zu mageren Helden der "Toten Seelen", ist dann ohne Unterschied, beide waren gleich wichtig und wirklich für Kropotkins geistige Entwicklung - wie für ungezählte andere russische Frauen und Männer seiner Zeit auch.

Doch auch wenn Kropotkin in seinen Bewertungen oft milde ist und selbst von mittelmäßigen Dichtern noch mit nachsichtiger Achtung spricht, läßt er sich nie forttragen von jener unangenehmen Dichterverherrlichung, die in Rußland bis heute, besonders bei weiblichen Puschkinisten, verbreitet ist. Zwar berichtet Kropotkin in seinen Lebenserinnerungen (den "Memoiren eines Revolutionärs"), in denen viele russische Schriftsteller vorkommen, wie er sich Turgenjew bei einer ersten Begegnung in Paris mit einem Gefühl "beinahe religiöser Verehrung" genähert habe, aber seine Begeisterungsfähigkeit beeinträchtigt nicht seinen nüchternen Common sense. Die tatenlose "Humanitätsduselei" der adligen Gutmenschen seiner Zeit verabscheut er, im Streit zwischen Slawophilen und Westlern steht er auf der Seite der letzteren, mit den "nebelhaften deutschen Metaphysikern" kann er nichts anfangen.

Kropotkin kann schwärmen für eine gelungene Szene oder einen treffenden Satz, um im nächsten Absatz strengste Urteile zu fällen. Etwa, wenn er gewisse Defizite russischer Dichter damit erklärt, daß die gebildeten Klassen nicht Anteil an den von Bauern getragenen religiösen und politischen Bewegungen und Aufständen im Rußland des 17. und 18. Jahrhunderts hatten. Kühl schlußfolgert er daraus: "Der intellektuelle Horizont eines russischen Dichters ist so notwendigerweise begrenzt."

Die Betrachtungen gewinnen auch deshalb, weil Kropotkin nicht nur die russische Literatur gut kennt, sondern in vielen Fällen die Wirkungen persönlich erlebte, welche die großen Romane des 19. Jahrhunderts im lesenden Rußland hatten. Peter Urban, der Herausgeber der deutschen Neuausgabe (eine erste Übersetzung erschien schon 1906), spricht deshalb auch von einer "erlebten Literaturgeschichte". Das wird unter anderem deutlich, wenn der Schriftsteller Kropotkin sich daran erinnert, welche Wellen der Begeisterung Gontscharows "Oblomow" bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1859 hervorgerufen habe (als der Leser Kropotkin siebzehn Jahre alt war). Kropotkin war mit Turgenjew befreundet, kannte aber gewissermaßen auch das typisierte Personal von dessen Romanen persönlich, die Väter und Söhne seiner Zeit.

So geraten Kropotkins gelegentliche Abschweifungen meist mindestens so interessant wie sein eigentliches Thema. Etwa wenn er über die frühen Erzählungen Gogols schreibt, um dann vom Leben in ukrainischen Dörfern zu berichten und davon, wie dort die Beziehungen zwischen Männern und Frauen freier als in russischen Dörfern seien. An anderer Stelle stellt er ein Drama Ostrowskijs vor, in dem die Todesangst vor Gewittern eine Rolle spielt, und erinnert sich: "Dies ist ein Zug, der für die kleinen Städte an der oberen Wolga ganz charakteristisch ist. Ich habe selbst gebildete Damen gekannt, die, wenn sie einmal von einem dieser plötzlichen Gewitter, die dort mit furchtbarer Heftigkeit auftreten, erschreckt wurden, ihr Leben lang eine Furcht vor dem Donner beibehielten." Natürlich ist es möglich, daß sich der temperamentvolle Leser und Erinnerer Kropotkin die ausgeprägte Donnerfurcht an der oberen Wolga nur eingebildet hat (was schließlich im nebligen Nieselregen seiner britischen Emigrationsheimat leicht möglich war), doch gerade durch solche Stellen gewinnt sein Buch einen romanesken Mehrwert.

Kropotkins ästhetische Kriterien haben hingegen etwas Ohrensesselhaftes an sich. Gedichte mochte er gern als gereimte Ideen ("Was wir in der Poesie suchen, ist immer die hohe Inspiration, die großen Ideen"), war aber auch enttäuscht, wenn sie seinen konservativen Erwartungen an die Form nicht standhielten ("Odoevskijs Gedichte ermangeln der Glätte"). In Romanen hatte er es gern edel, hilfreich und gut. Wenn Kropotkin den Realismus lobt, fügt er vorsichtshalber hinzu, damit meine er natürlich nicht "den Realismus in dem Sinne des hauptsächlichen Verweilens bei den niedrigsten Instinkten des Menschen, wie er von einigen französischen Schriftstellern mißverstanden wurde". Hier hebt er "die Tiefe der Auffassung" hervor, dort "die Schönheit der Ausführung", und manchmal ordnet er die Belletristik mit diesem Bewertungsbesteck, als sei die Literaturmeßlatte erfunden und die Kritik eine Sache von Ranglisten. ("Gontscharow nimmt in der russischen Literatur den ersten Platz nach Turgenjew und Tolstoj ein").

Aber ein Philister war er deshalb keineswegs, sondern im Gegenteil begierig, alles in Literatur gebracht zu sehen, was das Leben bestimmen kann. Kropotkins Texte zur russischen Literatur sind wie die vielen Petersburger Museumswohnungen von Malern, Revolutionären, Schriftstellern oder Komponisten, aus denen in der Sowjetunion altbackene Gedenkstätten gemacht wurden, wo dann Lenins Zahnbürste (in Lenins Zahnputzbecher) ausgestellt wurde: Manches in den ehemaligen Wohnungen von Dostojewskij, Nekrassow oder Rimskij-Korsakow könnte abgestaubt werden, es ist recht vergilbt und riecht auch etwas nach Mottenkugeln, aber es hat doch eine starke Ausstrahlung.

Kropotkins Helden waren der in freundschaftlicher Nähe bewunderte Turgenjew und der aus der Ferne nicht ohne Skepsis verehrte Tolstoj. Dem Herrn von Jasnaja Poljana widmet Kropotkin sechzig Seiten, dem ihm persönlich und weltanschaulich näherstehenden Turgenjew immerhin dreißig. Mit Dostojewskij hingegen hält er es nicht, und seine Abrechnung mit ihm gerät spannender als etwa das gleichförmige Lob für Turgenjew. Nur zwölf Seiten kurz schreibt Kropotkin über den Petersburger, und allein dessen "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus", die Erinnerungen an die Verbannungszeit in Sibirien, läßt er ohne Einschränkungen gelten. Ansonsten tadelt er "Nachlässigkeit in der Konstruktion und die unnatürliche Reihenfolge der Ereignisse - ganz zu schweigen von der Irrenhausatmosphäre, die seine letzten Romane durchweht".

"Schuld und Sühne" mag Kropotkin nicht, denn Raskolnikow ist ihm zu konstruiert ("Solche Leute morden nicht"). Bei den Brüdern Karamasow, dieser "seltsamsten Mischung von Realismus und toll gewordenem Romantizismus", verliert der selbst in seinen Abneigungen noch vornehme Fürst sogar die Contenance: "Was auch eine Anzahl der zeitgenössischen Kritiker, die für alle Arten krankhafter Literatur schwärmen, über diesen Roman geschrieben haben mögen, so kann ich doch nur sagen, daß ich all das für so unnatürlich, so absichtlich zusammengestellt finde..., daß ein paar gute Stellen, die sich hier und da verstreut finden, den Leser für die mühevolle Lektüre dieser beiden Bände nicht entschädigen."

Dostojewskijs Petersburger Loser mag der vorsichtige Optimist Kropotkin nicht, und noch über Gorkij schreibend lobt er die Helden von dessen Erzählungen, weil "selbst der geknechtetste von ihnen" weit davon entfernt sei, aus der eigenen Hilflosigkeit eine Tugend zu machen wie Dostojewskis Figuren, die "ihr Leben lang am eigenen Herzen nagen". Gorkij und Tschechow sind die Schlußbetrachtungen des Buches gewidmet, das im übrigen äußerst sympathisch endet, nämlich mit einer groben Fehleinschätzung: Tschechow werde es als Dramatiker außerhalb Rußlands nicht weit bringen, bedauert Kropotkin da, weil seine Dramen zu "russisch" seien und kaum eine Zuhörerschaft jenseits der Grenze ergreifen könnten.

Was das Buch trotz der Irrtümer Kropotkins und seiner manchmal plüschigen literarischen Vorlieben wert ist, hat Peter Urban in seinem Nachwort auf den Punkt gebracht: "Gewiß gibt es inzwischen ,genauere', umfangreichere Literaturgeschichten als Ideale und Wirklichkeit, dennoch können sie den Wert dieses zeit- und ideengeschichtlichen Dokuments nicht vergessen lassen, und unter ihnen gibt es kaum eine, die jemandem, der den russischen Klassikern als Fremder gegenübertritt, einen verläßlicheren Leitfaden böte als Kropotkins Darstellung, die keineswegs als ein ,Nebenwerk' eines großen, zu Unrecht vergessenen russischen Denkers zu bezeichnen ist."

MICHAEL MARTENS

Pjotr Kropotkin: "Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur". Diogenes Verlag, Zürich 2003. 583 S., geb., 29,90 [Euro].

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"Das Buch ist im besten Sinne eine volkstümliche und allgemein verständlich geschriebene Literaturgeschichte, von jener tief humanitären Begeisterung getragen, die den Menschenfreund und Altruisten Kropotkin kennzeichnet." (Julius Hart, Der Tag, Berlin, 1906)

"Spätere Generationen machten Kropotkin zu dem, was nach anarchistischem Credo eigentlich nicht existieren sollte: zu einer Autorität." (Bettina Engels, Frankfurter Rundschau)