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Produktdetails
  • Meridiane Bd.29
  • Verlag: Ammann
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 236
  • Erscheinungstermin: 2. Quartal 2010
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 340g
  • ISBN-13: 9783250600299
  • ISBN-10: 3250600296
  • Artikelnr.: 08843264
Autorenporträt
Der Herausgeber Wulf Kirsten, 1934 in Klipphausen (Kreis Meißen) geboren, 1960 bis 1964 Lehrerstudium in Leipzig, 1965 bis 1987 Verlagslektor in Weimar, seither freischaffender Schriftsteller, ist als Lyriker und Herausgeber weit über die Grenzen Thüringens hinaus bekannt geworden. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, der Akademie der Künste, Berlin, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München. 2006 erhielt Wulf Kirsten den Joseph-Breitbach-Preis und 2008 wurde er mit dem Christian-Wagner-Preis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Über Kuppen und durch Dellen
Wulf Kirsten erinnert sich an seine Dorfkindheit auf der Erde bei Meißen: „Prinzessinnen im Krautgarten”
Fünfzehn Kilometer südlich der Kreisstadt Meißen liegt das Dorf Klipphausen. 350 Menschen – Bauern, Handwerker – lebten hier in sechzig Häusern, dazu zwei alte Prinzessinnen auf einem Rittergut. Im Häuschen des Steinmetzen auf einer Bergkuppe, wuchs der 1934 geborene Wulf Kirsten als Ältester von fünf Geschwistern auf. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen: „. . . einfach dazusitzen, zu beobachten, ins Tal und ins Dorf zu blicken, dem blanken Müßiggang zu obliegen, geriet. . . zu intensiver Weltbetrachtung aus eigenem Anschauen, wo nichts im Husch vorüberflog, wo man vielmehr alles schön langsam in sich einziehen lassen konnte. ” Dieser Fähigkeit, einlässlich zu beobachten und alles „schön langsam” mit großen Kinderaugen in sich aufzusaugen und in der Erinnerung zu speichern, verdanken wir Kirstens intensive Beschreibung einer Dorfkindheit. In elf kurzen Kapiteln rekonstruiert der Autor, wie der Neun- und Zehnjährige die Welt betrachtete, sich mit „unbändiger Wissbegier” für jede Person, jedes Ereignis interessierte. Alles hat er entdeckt, durchstöbert, gemustert – Haus und Scheune, Dorf, Feld und Wiese und – in einer der schönsten Naturschilderungen – das zugefrorene Flussbett der Kleinen Triebisch.
Der Vater ist ein findiger Selbstversorger. Er gräbt selbst einen Brunnen, hält Schwein, Ziege, Kaninchen und Hühner. 1940 wird er zur Wehrmacht eingezogen. Früh wird Wulf Kirsten in ein entbehrungsreiches Arbeitsleben eingespannt – im Garten, bei der Heuernte und dem Verziehen der Rüben. Früh schon steckt ihn die Mutter mit ihrer Leseleidenschaft an. Unter den ambulanten Händlern und Hausierern, die das Dorf besuchen, ist auch der „Heftmann” aus Dresden mit seinen Karl-May-Romanen. In der kleinen Bibliothek der Eltern findet der Sieben- und Achtjährige Ganghofer, Löns und Gorch Focks Seefahrt ist not. Weil Lesen bei der intoleranten Dorfbevölkerung als Laster verpönt ist, liest Wulf heimlich, „buchbesessen und buchhungrig”.
Nichts zu lachen hat der zehnjährige „Pimpf” im Jungvolk der Hitlerjugend, weil er im wichtigsten Fach, in den „Leibesübungen”, versagt. Durch regelmäßiges „unvorschriftsmäßiges Gelatsche” beim Marschieren im Gleichschritt mit Schrittwechsel wird er zum „Schandfleck” und „Heini” des HJ-Fähnleins.
Kirsten, der heimliche Leser, empfindet eine tiefe Abneigung gegen alles Sportliche und Militärische; auch die Jungenschar von Klipphausen, erinnert er sich, bleibt auf Distanz zum Hurra-Geschrei: „Wenn wir auch politisch Unwissende waren, weder Zusammenhänge erkannten noch Konsequenzen absahen fürs Ganze, dessen Teil wir waren, für unser Dorf, für jeden einzelnen von uns, so steckte doch ein unbändiger emotionaler Drang in uns: Das Aufbegehren gegen etwas, das uns allen zuwider war. Dazu gehörte die Dauerparole ,Erscheinen ist Pflicht!‘, der Drill. ”
Zu Kriegsende – ein Strom von Flüchtlingen aus dem Osten wälzt sich durch Klipphausen – haben das Dorf und die Kirstens in ihrem Haus auf dem Berg Glück. Klipphausen, dessen Einwohner sich in den Rübenkeller eines benachbarten Dorfes zurückgezogen haben, um den erwarteten Beschuss zu überstehen, bleibt unzerstört. Schlaflos verbringt Wulf Kirsten die letzte Nacht im Korbstuhl, eingehüllt in den Geruch von „Kartoffelmuff und Rübenacker”, im Ohr das „Stimmengemurmel der Verängstigten” und das „Rasseln der Panzerketten”.
Das Kriegsende schlägt in eine „halbwegs behütete Kindheit”, „wie etwas Unfassbares” ein: mit Gewalttaten – Vergewaltigungen und Selbstmorden. Das Ende als Befreiung vom mörderischen NS-Regime wird deshalb, so Kirsten, „als solches nicht erkannt und angenommen”.
Kirstens Gedächtnis hat, wenn er sich aus der Distanz eines Menschenalters dem Umbruch von 1944/45 und darin sich selbst, „diesem doch recht verschwommen aufblinkenden Früh-Ich”, nähert, erstaunlich viel Details bewahrt. Zudem ist er alte Wege nachgegangen, hat mit Weggefährten gesprochen. Wenn er, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, nachsimuliert, wählt er den Gestus der Vermutung: „Es könnte so gewesen sein”. Jede Einzelheit ist ihm dagegen gewärtig über seine ersten Fahrten nach Meißen. Als der Vater nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, fährt er mit dem Elfjährigen an einem Julitag 1945 in die Stadt. Hier lässt er sich auf dem Landratsamt als Hilfspolizist anstellen. Drei Jahre später, beim zweiten Meißen-Besuch hat Wulf Kirsten die Aufnahmeprüfung für die Oberschule zu bestehen; es folgen zwei Jahre mühseligen Schulbesuchs: Mit dem hartgummibereiften Fahrrad durch die südmeißnerische Hügellandschaft, auf und ab zwischen „Kuppe” und „Delle”.
Wulf Kirsten, ein sprachbewusster Melancholiker, dem sich in dieser lautmalenden Prosa – nicht weniger als in seinen Gedichtbänden Die Erde bei Meißen und Stimmenschotter – die Worte zu Poesie zusammenfügen, beharrt auf dem Wort; er greift zurück auf „Stimmenschotter”, auf die aus der Sprache ausgeschiedenen oder an ihren Rand gedrängten Wörter. Da hat ein Gang die Breite einer „Heiste”, da „zuscheln und ruscheln” zwei Jungen auf dem Eis eines Baches und da „pfatscht” der Schuh ins Wasser. Sächsisches Wortgut wie „lawede” und „Zutsch” wird mit Sinn für Rhythmus und Klang integriert. Schade, dass Kirsten, dieser bedächtige, wortmächtige – an Huchel und Bobrowski geschulte – Erzähler, sich hier nicht auch noch der Jahre 1946/47 erinnert, aber vielleicht holt er das demnächst noch nach.
STEPHAN REINHARDT
WULF KIRSTEN: Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit. Ammann Verlag, Zürich 2000. 240 Seiten, 36 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Noch vor die "meisterhafte Darstellung" und Kirstens "sensible Sprache" möchte Rezensent Hans-Herbert Räkel als Hauptqualität dieses "bescheidenen, aber unbestechlichen" Romans dessen "Grundehrlichkeit" setzen . Seinen Titel findet Räkel "wohl absichtlich irreführend". Den Untertitel "Eine Dorfkindheit" viel zutreffender, denn darum handele es sich hier. Erst ein paar Zeile später räumt er auch die Berechtigung des märchenhaften Titels ein. Denn hier gehe es um eine "versunkene, überrollte, zugeschüttete Wirklichkeit", der nichts anderes übrig geblieben sei, als "zum Märchen zu mutieren". Eine Kindheit vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. Trotzdem habe Kirsten versucht, "prinzipiell" der Wirklichkeit den Vortritt zu lassen. Kapitel für Kapitel behutsam kommentierend, arbeitet sich der Rezensent sich durch diese Kindheits- und Jugendgeschichte. Er ist hingerissen von der "meisterhaften Sprache", von Kirstens Strenge und seinem sicheren Gefühl für das Angemessene. Räkel begleitet Kirstens "Früh-Ich" bis dem Schriftsteller in diesem "fremden Kind, dass er einmal war", der Zeuge abhanden kommt, weil aus dem Kind der erwachsene Kirsten geworden ist. Eine "Erinnerungshilfe" für die Generation seiner Altersgenossen sei Kirstens Buch, eine "Entdeckungsreise" für Jüngere ins Land der Väter und Mütter.

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