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Entgleisungen erzählt die innere und äussere Reise des Zugfahrenden Pavlos, eines jungen Mannes, der an Aids erkrankt ist.

Produktbeschreibung
Entgleisungen erzählt die innere und äussere Reise des Zugfahrenden Pavlos, eines jungen Mannes, der an Aids erkrankt ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2001

Götterspeise von der Minibar
Das scheppert aber gewaltig: Patrick Kokontis' Krankheitserzählung

Die alten Götter haben den Sterblichen die Leiden gebracht, damit sie von ihnen erzählen, heißt es bei Homer. Aber die Sterblichen erzählen sie, damit sie nie an ihr Ende kommen und sich ihre Vollendung in der Ferne der Worte verflüchtigt, fügte Michel Foucault hinzu. Erzählen, um vom Leiden zu berichten und um den Tod fernzuhalten: Man darf vermuten, daß diese Motive ganz besonders für einen schreibenden Aids-Kranken gelten. Mittlerweile hat die Immunschwäche eine Geschichte, und Bücher, die von der Krankheit handeln, haben ihre Unschuld verloren. Der 1964 geborene, 1993 an Aids erkrankte Patrick Kokontis bekam das zu spüren, als er letztes Jahr in Klagenfurt aus seiner damals noch unveröffentlichten Erzählung "Entgleisungen" vorlas und damit den heiligen Zorn der Kritik auf sich zog, die ihm großes Unvermögen vorwarf. Götter begnügen sich heutzutage nicht mehr damit, daß von den Leiden erzählt wird. Sie fragen danach, wie erzählt wird.

Vermutlich waren aber selbst die Götter ein wenig verblüfft, als ihnen Harold Brodkey in einer Situation, in der man es nun wirklich nicht erwarten würde, etwas rein Menschliches entgegengeschleudert hat - das Staunen. "Ich habe Aids. Ich bin erstaunt darüber", notierte der amerikanische Dichter 1993 in der "Geschichte meines Todes", persönlich und distanziert zugleich, den Leser sofort gewinnend. Wenig später fügte er hinzu: "So endete mein Leben. Und mein Sterben begann." Kokontis dagegen hat, um seine Geschichte zu erzählen, eine dritte Person gewählt und ihr den Namen Pavlos gegeben. Das ist beileibe kein ungewöhnliches Verfahren für einen Schriftsteller. Hier wird die Wahl mit den tragischen Umständen selbst begründet, und das nötigt zuerst Respekt ab: "Du hast AIDS. Es sollte noch eine schwierige Zeit verstreichen, bis er endlich ICH sagen konnte. Das Leben begann", steht da, und wir wollen es als trotzige Replik auf Brodkeys furiosen Abgesang lesen.

Aber leider droht dieses Leben unter einer Sprache, die kaum zur Ruhe kommt, beinahe zu ersticken. Pavlos ist geschwätzig, und das nimmt nicht für ihn ein. Fast immer ist da ein Satz, eine Wendung oder auch nur ein Beiwort zuviel. So stellt sich jene Distanz gerade nicht ein, die der Einsatz einer dritten Person verspricht. Aber umgekehrt vermittelt ein "Du", das ein verkapptes "Ich" ist, auch keine echte Nähe, sondern Intimitäten aus zweiter Hand.

Die Erzählsituation ist dagegen schlicht und doch nicht ohne Hintersinn. Pavlos fährt mit dem Zug durchs Schweizer Mittelland. Eine kleine Havarie in einem Tunnel führt zur Unterbrechung der Fahrt und läßt ihm viel Zeit, seinem Leben nachzusinnen. Ausgehend von aktuellen Begebenheiten, denkt er zurück an eine Reise nach London, die ihn in ein falsches Bordell geführte hatte, erinnert sich an einen Trip in die nächstgrößere Stadt, der dann in einer Männersauna endete, an den Gang ins Krankenhaus, an die Infusionen, an den Schüttelfrost, an den Geliebten, der in Griechenland für einen Moment göttergleich wurde, denkt an einen todkranken Bekannten, von dem er sich soeben per Handy endgültig verabschiedet hat - dabei hat er nur aus Versehen dessen Nummer gewählt. Es stört aber, daß das Assoziieren so oft in ein altkluges Räsonieren übergehen würde, an dessen Ende manchmal sogar eine lateinische Sentenz steht.

Mitunter wird die Schweiz zum Ziel seiner Gedanken. Nun ist dieses reiche Land auch reich an Merkwürdigkeiten; zum Beispiel wird in den blitzblanken Zügen der Schweizerischen Bundesbahnen über alle Maßen gekifft. Auch Pavlos denkt von Joint zu Joint und, nun ja, auch mit dem Joint: "Das Scheppern der Minibar, das ihr Kommen in Pavlos' Waggon akustisch vorwegnimmt, rüttelt ihn aus dem quecksilbrigen Bett, in das er sich in seinem Kiff bisweilen zur Ruhe legt."

Nicht nur an dieser Stelle des Buches scheppert es gewaltig, sondern, wie man sich nun denken kann, während der ganzen Reise. Das wäre nicht nötig gewesen, hätte man den Text gründlich überarbeitet, bevor er zum Buch wurde. Aber wo ein fähiger Lektor die störenden Flaschen entfernt hätte - um im Bild zu bleiben -, scheint dieser hier sie leer getrunken und wieder in den Wagen gestellt zu haben. Ein gutes Lektorat wäre dem Autor, dem die alten und neuen Götter so schwer zugesetzt haben, freilich gleich doppelt zu gönnen gewesen. Nun aber kann man noch nicht einmal den Titel seiner Erzählung für ganz gelungen halten.

MICHAEL ANGELE

Patrick Kokontis: "Entgleisungen". Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 2001. 182 S., br., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Michael Angele ist alles andere als begeistert von Patrick Kokontis, der als selber Betroffener einen Roman über eine Aids-Erkrankung geschrieben hat - und dass, obwohl das Buch nach Meinung des Rezensenten durchaus gute Elemente hat. Zum Beispiel die Situation, aus der heraus erzählt wird (eine Havarie bei einer Zugfahrt durch die Schweiz lässt dem Protagonisten viel Zeit zum Kiffen und zum assoziativen Nachdenken) gefällt Angele recht gut. Leider wird dieses Bonus aber durch die Geschwätzigkeit, die der Rezensent dem Protagonisten und damit auch seinem Erfinder attestiert, zunichte gemacht. Zudem stört ihn, dass "das Assoziieren so oft in ein altkluges Räsonieren übergehen würde, an dessen Ende sogar manchmal eine lateinische Sentenz steht." So wünscht sich der Rezensent, dass dieses Buch ordentlich lektoriert und von Überflüssigen befreit worden wäre - das hätte dem Leser und dem Autor, der schon bei seinem Vortrag in Klagenfurt schwer in die Kritik geraten war, einiges erspart.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein raffinierter, sensibler Meister der freischwebenden Gedanken, der fliegenden Assoziationen, Flashbacks und Cuts." (Nicolas Gattlen, Aargauer Zeitung)