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Für den großen amerikanischen Moralphilosophen Peter Singer war sein Großvater immer ein Unbekannter: 1943 wurde David Oppenheim, ein klassischer Gelehrter sowie Mitarbeiter und später Gegner Sigmund Freuds, von den Nazis in einem Konzentrationslager ermordet.
Singer hat sich auf den Weg zu seinem Großvater gemacht und dabei das jüdische Wien zwischen Fin de Siècle und der Nazi-Okkupation entdeckt.

Produktbeschreibung
Für den großen amerikanischen Moralphilosophen Peter Singer war sein Großvater immer ein Unbekannter: 1943 wurde David Oppenheim, ein klassischer Gelehrter sowie Mitarbeiter und später Gegner Sigmund Freuds, von den Nazis in einem Konzentrationslager ermordet.

Singer hat sich auf den Weg zu seinem Großvater gemacht und dabei das jüdische Wien zwischen Fin de Siècle und der Nazi-Okkupation entdeckt.
Autorenporträt
Peter Singer, geb. 1946, war bis 1999 Professor für Philosophie und stellvertretender Direktor des Centre for Human Bioethics an der Monash University Melbourne/Australien. Er lehrt derzeit als De Camp Professor of Bioethics an der Princeton University, USA. International bekannt wurde Peter Singer vor allem durch sein Buch "Animal Liberation". U.a. sind bisher von ihm erschienen: "Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener" (mit Helga Kuhse, 1992) und "Wie sollen wir leben? Ethik in einer egoistischen Zeit" (1996).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Auch mein Großvater liebte euch doch alle
Der skandalträchtige Philosoph Peter Singer kommentiert seine Ethik mit seinem Leben / Von Kurt Flasch

Sollten die Christdemokraten noch einmal eine "Schnittmenge" mit den Grünen suchen, kann man sie daran erinnern, daß sie so etwas schon einmal hatten, nämlich die herzliche Abneigung gegen den Philosophen Peter Singer. Als Verteidiger der Tiere und Philosoph des Vegetarismus müßte er den Grünen lieb und wert sein, aber er hat die Euthanasie verteidigt, zumal gegen behinderte Neugeborene, und das hat im Europarat zu gemeinsamen Entschließungen von CDU und Grünen gegen Peter Singer geführt.

Singer ist 1946 in Melbourne geboren, er lehrt in Princeton Philosophie. Aber er hat besonders in Deutschland ungeheure Gefühlsstürme erregt. Vorträge von ihm wurden boykottiert; er wurde als eine Art Neonazi-Philosoph beschimpft. Universitäten und Kongreßleitungen baten ihn um einen Vortrag und luden ihn wieder aus; die Debatten wurden zu heftig; es wurde mit Gewalt gedroht. Aber jetzt wird es allmählich ruhiger; der Skandal klingt ab.

Singer lehrt philosophische Ethik. Wie die meisten älteren Ethiker geht er davon aus, ethische Regeln sollen für alle gleich gelten; das heißt, er ist Universalist, kein Relativist. Moralische Imperative sollen für alle gelten. Er fügt hinzu: Handlungen sind gut, wenn sie möglichst die Interessen aller fördern. Aber was heißt hier "alle"? Die gewohnte Antwort lautet: "alle" - das sind "alle Menschen", also alle, die zur menschlichen Species gehören. Diese Voraussetzung nennt Singer "Speciesismus". Er hält ihn für einen erweiterten Rassismus und will genauer wissen, worin der Grund von Verpflichtungen liege. Er sieht ihn nicht in der Species-Zugehörigkeit. Ethische Verpflichtungen entstünden vielmehr überall dort, wo wir es mit Wesen zu tun haben, die zu Selbstbewußtsein und Zukunftsinteressen, zu Schmerzgefühl und Glückszuständen fähig sind. Das verändert die Ethik, denn jetzt entstehen moralische Pflichten gegenüber Tieren, selbst gegenüber dem verlästerten Huhn. Andererseits fallen Menschen ohne Möglichkeit zu Zukunftsinteressen aus Singers ethischem Rahmen heraus. Das trifft besonders Föten und Schwerstbehinderte. Daher die Erregung.

Gegen die Ethik Singers lassen sich viele Einwände erheben. Aber man kann verlangen, daß ihr argumentativer Zusammenhang beachtet wird. Peter Singer stammt aus einer uralten Rabbinerfamilie, die in Prag, aber auch in Paderborn und Friedberg zu Hause war. Sein Großvater David Ernst Oppenheim kam aus Brünn zum Studium nach Wien, heiratete die Rabbinertochter Amalie Pollack. Während Peters Eltern 1938 nach Australien auswanderten, blieben seine Großeltern in Wien und wurden im August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Der Großvater starb dort unter elenden Umständen im Februar 1943; die Großmutter überlebte und wanderte nach dem Krieg nach Australien aus.

Singer wußte, daß sein Großvater ein interessanter Mann war. Mehr als hundert Briefe von ihm hatten die Katastrophe überstanden. Es waren noch Manuskripte von ihm erhalten, gedruckte und ungedruckte Arbeiten. 1926 war ein Buch von ihm erschienen: "Dichtung und Menschenkenntnis. Streifzüge durch alte und neue Literatur". Unter seinen ungedruckten Texten befindet sich ein Manuskript, das er mit Sigmund Freud gemeinsam verfaßt hatte: "Träume im Folklore". David Ernst Oppenheim war ein gut ausgebildeter klassischer Philologe mit breiten literarischen Interessen; er hat über Horaz und Tibull, Shakespeare und Thomas Mann gearbeitet, und Freud erwartete von ihm Auskünfte über verschlüsselte sexuelle Symbole in der antiken Literatur, in volkstümlichen Erzählungen und Träumen.

Das alles wußte Peter Singer von seinem Großvater, aber er kümmerte sich nicht weiter um ihn. Jüngere Philosophen halten in aller Regel nicht viel von Biographien. Sie wollen nicht erzählen, sondern argumentieren. Sie unterstellen, erst mit ihnen komme Vernunft in die Welt. Peter Singer hatte außerdem alle Hände voll zu tun, seine "Praktische Ethik" und seine "Befreiung der Tiere" zu verteidigen. Aber jetzt geht er gegen Sechzig; die heftigsten Kämpfe hat er hinter sich, und jetzt will er wissen, wo er herkommt und vertieft sich in die Familienpapiere, schreibt das vorliegende Buch. Was herausgekommen ist, ist ein faszinierendes Porträt seines Großvaters (1881 bis 1943). Er entwirft ein Bild vom reichen kulturellen Leben Wiens zwischen 1900 und 1914. Über die Welt der damals bedeutenden Wiener Professoren und das Studium Davids bei ihnen geht er etwas zu rasch hinweg, um zu beschreiben, wie sein Großvater sich löst aus der Welt des orthodoxen Judentums, wie er sich begeistert hat für humanistische Werte und die Psychoanalyse. Alles, was er studierte, sollte der Erkenntnis der menschlichen Seele dienen.

Aber da gab es auch das Brodeln der Gefühle und die Stürme der Leidenschaft. David hatte eine homosexuelle Beziehung; er fühlte sich dabei schuldig und näherte sich zaghaft seiner Freundin Amalie, die ebenfalls eine gleichgeschlechtliche Affäre hatte. Es sind viele Liebesbriefe erhalten, die er seiner Verlobten Amalie geschrieben hat. Selbst ohne komplizierte Vorgeschichten und neue Überlappungen waren diplomatische Verrenkungen nötig, um einer Frau der besseren Gesellschaft zu sagen, daß man sie liebt. Von Wiener Leichtigkeit sind wir weit entfernt. Die Irrungen und Wirrungen des Studenten Oppenheim erzeugten ungeheure verbale Ergüsse, bis sich David und Amalie unter feierlichen idealistischen Schwüren gestehen, daß sie beide zu heftigen homosexuellen Neigungen fähig sind. Man arrangiert sich; David wird Gymnasialprofessor. Leidenschaftlich sucht er den Zusammenklang von Wissenschaft und Leben. Es ist das Jahrzehnt der Lebensreformen und des kulturellen Aufbruchs im Namen Diltheys und Nietzsches.

David begnügt sich nicht mit den Durchschnittsansichten der Altertumsgelehrten, er tritt ein in den engsten Umkreis von Freud; dieser plant mit ihm gemeinsame Publikationen. Aber in dem Streit Freuds mit Alfred Adler stellt Oppenheim sich auf die Seite von Adler. Der Übervater der Psychoanalytiker duldet keine Abweichler; es kommt zum Bruch. Freud streicht zornig seine früheren Oppenheim-Zitate. Aber der untreue Schüler behält sein Interesse an Psychologie, an Märchen und Mythologie; er arbeitet über das Thema der rituellen Nacktheit.

Doch dann kommt der Weltkrieg. Oppenheim war damals Monarchist und konservativ, er war kein begeisterter Soldat, aber er nahm teil an der geistigen Mobilmachung und publizierte über "Horaz im Schützengraben". Er kämpft an der Ostfront und am Isonzo. Verwundet und enttäuscht kehrt er zurück und nähert sich dem Sozialismus und Pazifismus; er wird Republikaner. Nach dem Krieg kann er seine Forschungen fortsetzen; er gewinnt in Wien Reputation zwischen Gymnasium und Wissenschaft. Der begeisterte Lehrer inspiriert seine Schüler - darunter übrigens Friedrich Heer - zu einem für die Gegenwart aufgeschlossenen Humanismus.

Von 1938 an wird sein Leben immer enger, immer bedrohter. Die Kinder, also Peters Eltern, wandern aus; er erwägt, ihnen zu folgen, kann sich aber nicht entschließen. Er kann sich nicht vorstellen, daß ihm, dem dekorierten Weltkriegsoffizier, Gefahr drohe; es fällt ihm schwer, sich von seinen Büchern zu trennen. Als seine Frau und er sich zur Auswanderung durchgerungen haben, bricht der Krieg aus. Das Nazi-Verbrechen nimmt seinen Lauf.

Reden wir nicht nur von David, sondern auch von Amalie. Vom Großvater existieren mehr Dokumente, aber auch die Großmutter gewinnt an Statur. Sie war eine der ersten Frauen, die in Wien promoviert wurden, in Mathematik und Physik. Sie war eine orthodoxe Jüdin, aß nur koscher und hielt den Sabbat ein. Als sie verheiratet war, betete sie, Gott möge ihr keinen Sohn schenken, denn der Vater war gegen die Beschneidung, die sie doch wünschte. Nach dem Tod ihres Mannes fiel das orthodoxe Regelwerk von ihr ab. Sie sagte: "Wenn Gott einen guten Menschen wie meinen Mann sterben läßt, brauche ich seinen Gesetzen nicht zu folgen."

Peter Singer erzählt gegenständlich; er mischt kaum eigene Reflexionen ein. Er berichtet, wie er die Briefe findet und wie er 1998/1999 die Schauplätze besucht, er notiert, warum ihn sein Großvater und dessen Schicksal nun doch, relativ spät, interessiert. Von dem Sohn eines Geschäftsmanns hatten alle erwartet, er werde den Spuren des Vaters folgen, aber er wurde Philosoph wie sein Großvater. Der Autor Singer macht sich daran, Parallelen zwischen sich und dem philosophierenden Großvater zu ermitteln. Knapp entgeht er der Gefahr, die Annäherung zu überziehen. Schließlich liegen Welten zwischen dem idealistischen Humanisten von einst, dem Seelenforscher von 1910 und dem evolutionstheoretischen Ethiker von 1990. Peter Singer hält nicht viel von Freud und Adler, zwischen denen sein Großvater zu wählen hatte; beide sind ihm zu spekulativ. Aber eine Gemeinsamkeit bringt seine gut geschriebene Erzählung doch zutage: Großvater und Enkel teilen das philosophische Interesse am Ganzen des menschlichen Lebens; beide treibt die Leidenschaft für eine universalistische Ethik. Was gut ist, soll für alle gut sein.

Peter Singer: "Mein Großvater". Die Tragödie der Juden von Wien. Aus dem Englischen von Wolfdietrich Müller. Europa Verlag, Hamburg 2005. 320 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Durchaus positiv beurteilt Rezensent Alexander Kissler dieses Buch des australischen Philosophen Peter Singer über die Geschichte seiner Wiener Großeltern, die in Theresienstadt ermordet wurden. Da Singer, Sohn österreichischer Juden, wegen seiner Bioethik höchst umstritten ist und mitunter als "Vordenker der Vernichtung", der das nationalsozialistische Euthanasie-Programm wiederbelebe, kritisiert wird, stellt sich für Kissler natürlich die Frage, ob dieses Buch nur eine Rechtfertigung in eigener Sache ist, ein Buch also, "das die Welt nicht braucht". Das kann er so nicht bejahen. Ausführlich schildert er das Leben von Singers Großeltern, der Mathematiklehrerin Amalie Pollak, und des Altphilologen David Oppenheimer, beide entschiedene Gegner und Opfer des Nazi-Regimes. Zwar zählt Kissler Singers Buch "nicht unbedingt zu den Höhepunkten der Memorialliteratur". Er nennt es "hölzern im Ton", "derb in seinen Personenbeschreibungen", "zu beiläufig" in der Abhandlung philosophischer Fragen. Dennoch fühlt sich Kissler von der Lektüre "bereichert und bewegt". In der Geschichte von Amalie und David nämlich findet er eine "eindrückliche Erinnerung an die Welt vor der Shoah und an die Shoah, an den wunderbar vielfältigen deutsch-jüdisch-österreichischen Kulturraum, den es nie wieder geben wird." Peter Singers "monströse Bioethik" bleibe davon unberührt.

© Perlentaucher Medien GmbH
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