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Ein Schriftsteller stirbt bei einer Gasexplosion in Wien, drei tschetschenische Flüchtlinge werden ermordet, eine Apothekerin versucht sich mit ihrem Kind gegen widrige Umstände zu behaupten, ein Schauspieler kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, eine Journalistin reist auf der Flucht vor sich selbst nach Japan, und ein alter Mann ist Augenzeuge, als 1902 in Venedig der Campanile einstürzt. In Gerhard Roths grandiosem Roman der Täuschungen ist nichts, wie es scheint, und alles möglich: Die Ungewissheit ist das verborgene Abenteuer des Alltags. 'Grundriss eines Rätsels' ist selbst ein…mehr

Produktbeschreibung
Ein Schriftsteller stirbt bei einer Gasexplosion in Wien, drei tschetschenische Flüchtlinge werden ermordet, eine Apothekerin versucht sich mit ihrem Kind gegen widrige Umstände zu behaupten, ein Schauspieler kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, eine Journalistin reist auf der Flucht vor sich selbst nach Japan, und ein alter Mann ist Augenzeuge, als 1902 in Venedig der Campanile einstürzt.
In Gerhard Roths grandiosem Roman der Täuschungen ist nichts, wie es scheint, und alles möglich: Die Ungewissheit ist das verborgene Abenteuer des Alltags. 'Grundriss eines Rätsels' ist selbst ein Rätsel, Spiegel des großen Rätsels unseres Lebens.

»Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Die Wirklichkeit ist ein zufälliges Gemisch aus Sichtbarem und Unsichtbarem.« Gerhard Roth
Autorenporträt
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen.Literaturpreise (Auswahl):Preis der »SWF-Bestenliste«Alfred-Döblin-PreisMarie-Luise-Kaschnitz-PreisPreis des Österreichischen BuchhandelsBruno-Kreisky-Preis 2003Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003Jakob-Wassermann-Preis 2012Jeanette-Schocken-Preis 2015Jean-Paul-Preis 2015Großer Österreichischer Staatspreis 2016Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2015

Der Tanz der Staubpartikel
In seinem Roman „Grundriss eines Rätsels“ entwirft der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth
ein kunstvolles Labyrinth der Schriften und Zeichen und begibt sich auf die Suche nach der „Mündung der Sprache“
VON JÖRG MAGENAU
Ein Schriftsteller ist nicht so leicht aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wie Gerhard Roth das mit seinem Schriftsteller-Helden tut, per Gasexplosion in die Luft jagen und mit ihm seine Wohnung, seine Bücher und seine Papiere. Aber das nützt nichts. Die erste Lektion in diesem „Grundriss eines Rätsels“ besteht darin, dass der Text allemal ein längere Halbwertszeit hat und dass der Autor, der am Ende des ersten Kapitels pulverisiert wird, eben doch das Zentrum des weiteren Geschehens bildet. Auch nach seinem Tod dreht sich alles um ihn und seine Abwesenheit. Philip Artner heißt dieses Schriftsteller-Alter Ego, in dessen Name nicht zufällig „Art“ steckt, denn um Kunst geht es, um den Entwurf von Welten, um Sprache, Schrift und Zeichen und um die Künstlichkeit des eigenen Ich.
  Roth umkreist diesen ihm selbst nicht unähnlichen Mann in kapitelweise wechselnden Perspektiven. Da ist zunächst der junge Archiv-Mitarbeiter, der sich um den Nachlass kümmern will und Artner wie einem Meister folgt. Da ist die Geliebte auf dem Lande, mit der Artner ein geheimes Doppelleben aufbaute, und der gemeinsame Sohn, der Schauspieler wird und 25 Jahre später auf die Ereignisse zurückblickt, aus einer erzählerischen Zukunft im Jahr 2040. Da ist Artners Ehefrau, die erst nach dem Tod ihres Mannes von seinem anderen Leben erfährt, und schließlich, als habe er sich selbst überlebt, kommt auch er noch einmal zu Wort, (vielleicht ein hinterlassenes Manuskript?), wenn er von einem Krankenhausaufenthalt in Venedig und von einem alten Mann erzählt, der beim Einsturz des Campanile im Jahr 1902 dabei gewesen ist.
  Man kann das alles als Selbstbespiegelung eines Schriftstellers im Narzissmuskabinett lesen. Doch ist dieser Roman ein viel größeres Rätsel: So wie der tote Artner aus den Erinnerungen seiner Nächsten ersteht, so verwandelt sich zugleich die ganze Welt in Text – in einen Text, von dem nicht klar ist, wer ihn wann von welcher Position aus geschrieben hat. Im Schlussteil kommt Artner zu der Einsicht, dass „die Sprache ihn spricht“, dass er als Autor ihr folgt, wenn die Sprache durch ihn hindurchgeht. Da befindet er sich traumartig in einer dunklen, würfelförmigen Box, in der die Worte als schwarze Schaben über die Wände krabbeln: eigenständige Lebewesen, die immer schon da sind, wenn der Mensch zu sprechen beginnt. Und schon am Anfang des Buches betrachtet Artner die Spuren der Vögel im Schnee wie Schriftzeichen, sieht die Krähen auf den kahlen Bäumen wie Noten auf Notenlinien und übt sich darin, all diese Zeichen zu lesen. Kein Wunder, dass er sich auch mit Keilschrift, Hieroglyphen und japanischen Schriftzeichen beschäftigt. Die Schriften entfalten eine Welt, so wie die Welt nichts als Schrift ist. Wie könnte ein Schriftsteller da nicht unsterblich sein?
  Gerhard Roth ist ein Meister der Verrätselungen, Verästelungen, doppelten und dreifachen Böden und versteckten Querbezüge. Die formal höchst unterschiedlichen Bände der Septologie „Archive des Schweigens“, die in den Jahren 1980 bis 1991 entstanden, sind nicht nur ineinander verwoben, sondern zugleich mit den acht Bänden des „Orkus“-Zyklus (1995-2011) motivisch verknüpft. Dagegen ist der „Grundriss eines Rätsels“ nun eine formal leichte und geradezu erholsame Übung. Doch auch hier ergibt sich das Gesamtbild aus dem Zusammenklang der einzelnen Teile – mal abgesehen davon, dass Roth eine durchaus spannende Geschichte erzählt.
  Seltsam jedoch, dass er, der in Österreich zur ersten Garde der Autorenschaft gehört, in Deutschland, ohne je wirklich berühmt gewesen zu sein, schon wieder im Status des Vergessenwerdens und des Verschwindens angelangt ist. Die Unmöglichkeit des Verschwindens als Autor, wie sie in „Grundriss eines Rätsels“ vorgeführt wird, lässt sich deshalb auch durchaus als ironische, kraftvolle Selbstbehauptung verstehen. Oder, um es mit Roths Archiv-Mitarbeiter Vertlieb Swinden (was nicht zufällig wie Verschwinden klingt) zu sagen: „Selbst im Nichts war eine unbekannte Welt verschlossen wie ein Staubpartikel in einer leeren Schmuckkassette, das wusste ich, seit ich mich für Dichtung interessierte.“
  Wer also spricht in diesem Roman? Das erste Kapitel hat einen auktorialen Erzähler, der in eher unbeteiligtem, epischem Tonfall mehrere Tage aus dem Leben Philipp Artners begleitet. Da geht es vor allem um Klänge und Geräusche: Während Artner sich mit Musik beschäftigt, mit Schönberg-Quartetten etwa oder mit Arvo Pärts Minimalmusik „Für Alina“, wird er von heftigem Baulärm malträtiert. In einer Nachbarwohnung erschrecken ihn fortgesetzte „Mama! Mama!“-Rufe, die keineswegs von einem Kind stammen, doch zugleich ist er selbst Ursache der Qualen einer wohl ziemlich psychotischen Nachbarin, die seine Musik und seine Schritte auch dann nicht ertragen kann, wenn er gar nicht zu Hause ist. Er unternimmt lange Spaziergänge durch Wien – ganz nebenbei ist der Roman auch ein Porträt der Stadt.
 Das Globenmuseum ist die erste Station, bevor er an der Donau entlang nach Gugging wandert, zur Nervenheilanstalt, die als „Haus der Künstler“ unter dem Arzt Leo Navratil berühmt geworden ist. Gerhard Roth interessiert sich dafür schon seit langem, hat die als Künstler ernst genommenen Patienten regelmäßig besucht und einen Band mit Bildern der Gugginger Künstler herausgegeben. Artners Wege durch Wien führen weiter zur Wotruba-Kirche, die mit ihrer Bauweise aus wuchtig aufeinandergestapelten Betonblöcken ein architektonisches Gegenbild des Romans sein könnte (dort kommt es zu einer überraschenden sexuellen Begegnung auf dem Friedhof), und schließlich auch in den Zoo Schönbrunn, wo Artner mit einem Orang-Utan kommuniziert. Bis dann mit einem großen Knall seine Wohnung und sein Kopf explodieren, mitten im Satz, „gerade als er gedacht hatte, er verstehe nichts und habe vermutlich nie etwas verstanden“.
  So exakt, wie Artners Erleben und Denken protokolliert wird, kann er das eigentlich nur selbst aufgeschrieben haben. Doch er ist, mit dem letzten Satz, ja tot. An der Realität des Unglücks lassen die folgenden Teile keinen Zweifel. Im zweiten Kapitel reist Vertlieb Swinden aufs Land, wo er Artners Haus bewohnt und nach mysteriösen Morden an drei tschetschenischen Flüchtlingen in eine kriminalromanhaftes Geschehen gerät. Seltsame Dinge ereignen sich: Einen Pfarrer, dessen Grab schon zu Lebzeiten ausgehoben wird, stopft auf dem Totenbett die zerrissenen Seiten der Genesis in sich hinein, um sie zu vernichten. Ein Schlangenzüchter, der einen unterirdischen Stollen unterhält, Schriftzeichen auf Zimmerwände malt und sich für den fernen Kosmos interessiert, mixt gefährliche Drogencocktails. Und dann ist da noch Artners Geliebte Pia, in die Swinden sich nun seinerseits zu verlieben glaubt, da er sich immer mehr mit Artner identifiziert.
  Einen traumatischen Schock erlebt er, als es ihm endlich gelingt, das hinterlassene Manuskript des verehrten Autors in die Finger zu bekommen und er darin Wort für Wort seine eigenen jüngsten Erlebnisse nachlesen kann. Er muss entdecken, dass er „von Artner geschrieben worden war“, dass er durch und durch dessen Geschöpf ist und nichts darüber hinaus. In seinem Entsetzen zerreißt er das Manuskript, dessen letzter Satz lautet: „Niemand erinnerte sich mehr an ihn“, doch das ändert nichts. Geschriebenheit ist nicht aus der Welt zu schaffen; Fiktion und Wirklichkeit bedingen einander.
  „Die Klein’sche Flasche“ hat Roth dieses Kapitel nach jenem Gegenstand genannt, der wie ein Möbiusband oder ein Gemälde von M.C. Escher funktioniert. Dieses Gefäß ist so in sich verdreht, dass Innen und Außen nicht zu unterscheiden sind. Das ist zugleich das Bauprinzip dieses Romans, der Text und Traum und die sogenannte Realität so ineinander verschlingt, dass sie nur miteinander verschwinden können, weil die Welt, so lange sie existiert, auf Text verweist und umgekehrt. Der Rest sind Varianten des Verschwindens – so wie im Kapitel „An der Mündung der Sprache“, in dem eine alte Frau nach einem Schlaganfall verstummt, so dass ihr Papagei flüssiger zu reden versteht als sie selbst. Aber wo kommen die Worte her, und wohin verschwinden sie?
  Nicht alle Rätsel in diesem schönen, abgründigen, lang nachklingenden Roman lösen sich auf – so wie auch Traumbilder sich nicht in Bedeutungen auflösen lassen. Sie geben Hinweise, bieten Möglichkeiten an und bleiben doch im Dunkel. Rätselhaft sind auch die Affen, die leitmotivisch immer wieder auftreten, vom Orang-Utan in Schönbrunn über Träume von Artners Ehefrau, der ihr toter Gatte als Affe erscheint, über seine eigene Auseinandersetzung mit Francis Bacons „Studie eines Schimpansen“, bis hin zu den berühmten drei Affen, die sich Augen, Ohren und Mund zuhalten.
  Doch hier, in einem japanischen Konfuzius-Band, werden sie nicht wie üblich als Opportunisten gedeutet, sondern sehr viel freundlicher: „Was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht – darauf schaue nicht. Was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht – darauf höre nicht.Was nicht dem Ideal der Schönheit entspricht – davon rede nicht.“ Die Affen als Weltweise: Das ist sicher keine unproblematische Sichtweise. Aber – und auch das ist eine Lektion dieses literarischen Rätsels: Schön ist ja vielleicht gerade das, was sich in seiner Bedeutungsvielfalt nicht sofort erschließt und mit den Sinnen allein nicht zu erfassen ist.
Die ganze Welt verwandelt sich
hier in einen Text – und niemand
weiß, wer ihn geschrieben hat
Die Rätsel dieses abgründigen,
schönen Romans klingen
lange nach – wie Traumbilder
Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth (rechts) im Jahr 1991 mit dem Maler August Walla (1936-2001) im „Haus der Künstler“ in Maria Gugging bei Klosterneuburg. Auch der Held in Roths neuem Roman ist ein Gugging-Besucher.
Foto: Herlinde Koelbl / Agentur Focus
  
  
  
  
Gerhard Roth: Grundriss eines Rätsels. Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2014. 512 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Magischen Realismus entdeckt Ingeborg Waldinger in Gerhard Roths neuem Roman. Der hats in sich wie die alten schon, versichert Waldinger und meint "das Tor zu einem synästhetischen, zeichensatten Kosmos", das der Autor mit dieser Geschichte um sein Alter Ego, einen in Selbstauflösung befindlichen Schriftsteller, öffnet. Beschreibungsfluten und danteske Szenen entzücken die Rezensentin, manche Schwarz-Weiß-Malerei weniger. Spannend aber ist es durchweg, meint sie.

© Perlentaucher Medien GmbH
Wenn Österreichs Schriftsteller Gerhard Roth zu einer Geschichte anhebt, geht das Tor zu einem synästhetischen, zeichensatten Kosmos auf. Ingeborg Waldinger Neue Züricher Zeitung 20150128