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Richard Powers arbeitete als Programmierer in den Docks von Boston. Während der Nachtschicht las er Thomas Manns »Zauberberg«. Als er im Museum die berühmte Fotografie des Kölner August Sanders von drei jungen Männer aus dem Jahr 1914 entdeckt, denkt er, dem Jahrhundert in die Augen zu schauen. Der Erzähler Richard Powers war geboren. Der Held in Powers Geschichte ist ebenso von Sanders Fotografie in Bann gezogen. Fieberhaft recherchiert er die Hintergründe der Bildes, bis die drei Bauern aus dem Westerwald ihre Lebensgeschichten erzählen: vom Verschwinden und vom Überleben im Ersten…mehr

Produktbeschreibung
Richard Powers arbeitete als Programmierer in den Docks von Boston. Während der Nachtschicht las er Thomas Manns »Zauberberg«. Als er im Museum die berühmte Fotografie des Kölner August Sanders von drei jungen Männer aus dem Jahr 1914 entdeckt, denkt er, dem Jahrhundert in die Augen zu schauen. Der Erzähler Richard Powers war geboren.
Der Held in Powers Geschichte ist ebenso von Sanders Fotografie in Bann gezogen. Fieberhaft recherchiert er die Hintergründe der Bildes, bis die drei Bauern aus dem Westerwald ihre Lebensgeschichten erzählen: vom Verschwinden und vom Überleben im Ersten Weltkrieg, und von der fast unmöglichen Wende zum Glück, als sich der Weg des einen mit der Biographie von Henry Ford, dem großen Erfinder und Autobauer, kreuzt.
Autorenporträt
Wie kaum ein anderer ist Richard Powers der Gegenwart auf der Spur: Das Wissen unserer Zeit will er in Geschichten erfahrbar, die Verwerfungen emotional erlebbar machen. Er wurde 1957 geboren und lebt in den USA. Auf sein Romandebüt ¿Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz¿ (1985) erschienen neun weitere Romane. Sie wurden Bestseller wie ¿Der Klang der Zeit¿ und mehrfach preisgekrönt. 2006 erhielt er den National Book Award für ¿Das Echo der Erinnerung¿, es folgte ¿Das größere Glück¿. In der Reportage ¿Das Buch Ich #9¿ beschreibt Richard Powers den Prozess, als neunter Mensch überhaupt sein Genom vollständig entschlüsseln zu lassen. Für seinen Roman ¿Die Wurzeln des Lebens¿ (2018) wurde Richard Powers mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. 2021 erschien sein Roman ¿Erstaunen¿, der für den Booker Prize und den National Book Award nominiert ist, Heute lebt Richard Powers in den Great Smoky Mountains der Appalachen.Literaturpreise:Pulitzer Prize 2019 für 'Die Wurzeln des Lebens'National Book Award 2006 für 'Das Echo der Erinnerung'
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011

Das Geheimnis
einer alten Fotografie
Heimgekehrt nach Deutschland: Richard Powers’ „Drei
Bauern auf dem Weg zum Tanz“ Von Hans-Peter Kunisch
Drei Gesichter, drei dunkle Anzüge: drei junge Bauern auf einem schmalen, sandigen Feldweg. Der mittlere der Bauern wirkt etwas eleganter, er hat lange und breite Schuhe, Flundern, die gerade irgendwo Mode gewesen sein dürften. Der hinten will sich den Anschein geben, als sei er der lässigste. Sein Hut sitzt so schief auf dem Kopf wie die Zigarette im Mund hängt. Der dritte, der vorn geht, macht einen sehr jungen, überraschten, dabei stumpfen Eindruck. Ein misstrauischer Bauer, der sich beunruhigt fragt, was der Mensch mit der Kamera will.
Alle drei blicken so eindrücklich wie anachronistisch. Und das soll der Ausgangspunkt für den im Original vor einem Vierteljahrhundert erschienenen Erstling von Richard Powers sein, einem der wachsten Schriftsteller der Gegenwart? Einem, der in seiner jüngsten Veröffentlichung „Das Buch Ich 9#“ die Entzifferung des eigenen genetischen Codes zum Thema gemacht hat?
Wenn man nur ein wenig genauer hinsieht, geht es auch in „Drei Bauern ...“ um Technik und Mensch. Allerdings über eine Zeitreise in die Vergangenheit. In seinem ersten Roman hat Richard Powers der Übergangszeit und -gesellschaft um den ersten Weltkrieg herum ein Denkmal gesetzt. Auf ihr Empfinden passt das berühmte Diktum des sozialistischen Katholiken Charles Péguy aus dem Jahr 1913: dass sich die Welt in den letzten dreißig Jahren mehr verändert habe, als in allen Jahrhunderten seit Jesu Tod. „Der erste Weltkrieg war ein Weg des zwanzigsten Jahrhunderts, mit sich Schritt zu halten“, meint der Ich-Erzähler.
Ausgangspunkt von Powers Bauern-Roman war ein Zwischenhalt in Detroit, einer Stadt, die dem Erzähler nie viel bedeutet hat: „Ich fühle mich in Autos unwohl und habe nie eins besessen. Wenn ich etwas rieche, das auch nur entfernt an Autositze erinnert, wird mir übel.“ Doch jetzt hat er, zwischen zwei Zügen, länger Zeit, entdeckt Diego Riveras monumentale Wandmalerei, in der dieser die mechanischen Werkstätten Henry Fords zur Macht erhob und das Fließband feierte.
Erschüttert von der Wucht der Technik im Bild, taumelt der Ich-Erzähler durchs Museum und trifft an der nächsten Ecke auf August Sanders „Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz. 1914.“ Er erholt sich im Zauber dieser Fotografie, aber ihr Geheimnis lässt ihn nicht mehr los. Er beschließt, den Bauern nachzuspüren. „Schon das Datum verriet mir, dass sie, nicht wie erwartet, zu einem Tanz gingen.“ Es gibt kein Entkommen, auch der Tanz der Jungbauern ist der große, blutige Tanz, der das 20. Jahrhundert eröffnet. „Wir alle würden mit verbundenen Augen auf ein Feld irgendwo in diesem geschundenen Jahrhundert geführt werden und tanzen müssen, bis uns die Luft ausgeht. Tanzen, bis wir zusammenbrechen.“
So übergangslos wie detailliert führt Powers seine Leser in die Geschichte der drei Figuren: Hubert, ein Sozi mit Zigarette; Peter, der Sänger mit den Schuhen, und Adolphe, dessen Mutter die beiden anderen als seine Halbbrüder angenommen hat. Peter, den Limburger Sohn ihres untreuen Ehemanns.
Von Beginn an überblendet Powers im Stil des großen Historien-Romans. Über einen Marschtritt, der unter dem Fenster der Redaktion einer Computerzeitschrift zu hören ist, gerät man in die Gegenwart der frühen achtziger Jahre. Schon da kümmert sich Powers also um die Spitze der Entwicklung. Wer sich damals, wie der Zeitschriftenredakteur Peter Mays, der den Marschtritt hört, mit Microchips beschäftigt, hat früh erkannt, wohin der Wind weht. Doch Mays ist nicht bei der Sache. Er hört den Marsch, schaut aus dem Fenster und sieht eine Rothaarige, deren Bild ihn fortan verfolgt.
Essayistische und erzählerische Passagen sind ineinander geschoben. Der Ich-Erzähler meditiert über Zeit, Krieg, Frieden und die Maschinen, verknüpft dies mit Gedanken zu August Sander, selber eine Zwitterfigur. Mit modernster Technik widmet sich Sander der Systematisierung einer im Augenblick schon vergangenen Gegenwart. Er ist kein Maschinenmann. Auch Henry Ford ist nicht leicht einzuordnen. Bei Beginn des Kriegs ist er einer seiner wenigen Gegner – als sein Projekt eines Friedensschiffs kläglich scheitert, wird er zum Profiteur.
Die Spur der drei Jungbauern führt direkt auf die Schlachtfelder, zur Problematik europäischer Grenzregionen und in die Liebesbeziehungen der drei Burschen. Sander hat einen wunderbaren Auftritt als Radfahrer auf der Jagd nach Motiven, eine Szene, die das Entstehen des Fotos zelebriert. Doch was soll die Geschichte um Mays? Was hat er mit den Bauern zu tun?
Powers, ein Wissenschaftler unter den Dichtern, inszeniert ein Verwirrspiel um das Zusammenkommen von Geschichte, Schicksal und Identität. Die Rothaarige, deren Spur Mays monatelang verfolgt, ist Sarah Bernhardt. Am Veteran’s Day wurde sie von einer Schauspielerin dargestellt: Mays hat sich also in ein Phantom verliebt. Kein Wunder: Er ist, wie Sander, teils rückwärtsgewandt, ein unbestimmbarer, beschränkt lebenstauglicher Melancholiker. Im Zeitungsgebäude interessiert ihn Frau Schreck, die Putzfrau. Wie Mays Eltern Migrantin mit europäischem Hintergrund, kennt auch sie das Foto, für das sich Mays begeistert. Auch deswegen, weil das Gesicht des mittleren der Bauern ihm zu gleichen scheint. Ist das eigene Antlitz das der Zeit? Souverän macht Powers nach der Mitte des Romans vorerst nur deutlich, dass Mays und der Ich-Erzähler identisch sind.
Das Verführerischste an Powers’ Erstling ist die Verknüpfung dokumentarischer Elemente mit träumerisch-fiktionalen. Der sachlich-getragene Ton der dokumentarischen Passagen macht die darin verborgenen Erfindungen umso plausibler. Über Seiten hinweg hört man wahre Geschichten, bis der Erzähler mit einem Schlag das Gebäude der Möglichkeiten einstürzen lässt, um ein neues zu errichten. Alle Figuren arbeiten mit, aber erst als das Erzähler-Ich die Putzfrau und ihren Umgang mit der Fotografie begreift, gelingt es ihm, seine Faktensucht abzuschütteln. Frau Schreck hat sich in das Foto hineingedacht, es als Aufruf verstanden, von den drei Bauern wie vom eigenen Leben zu erzählen.
Frau Schreck, der Erzähler und August Sander sind Powers’ stärkste Figuren. Manchmal, etwa bei Sarah Bernhardt, gerät er ins Dozieren. Manchmal verschwimmen ihm, bei den vielen Grenzüberschreitungen, die Identitäten. Aber schon dieses erste Buch von Powers, das Henning Ahrens zuverlässig übersetzt hat, ist eben kein Roman, der brav am Schnürchen funktionierte, sondern ein groß angelegter Versuch, in romantischer Tradition den eigenen Weg zu finden.
Am meisten Glück hat Powers mit der Frau, die Mays nach der Aufklärung der Bernhardt-Geschichte als Bedienung in einem Edel-Restaurant begegnet: Im englischen Gründerzeit-Kostüm verkörpert sie dennoch eine sehr gegenwärtige Attraktivität. Selber fasziniert von der Vergangenheit, die ihr in Gestalt eines Gasts, des alten Juden Krakow, begegnet ist, hat Alison Stark genau die Mischung aus Gegenwartsferne, Lust und Spontaneität, die Mays aus seiner Trägheit lockt. Als Krakow stirbt, erbt Ms Stark. Mays fragt, schon spöttisch, „Computer?“ – „Nein“, meint Alison, „das ist Schnee von gestern.“ Sie habe vor, „alte Sprachen zu studieren und zu reisen.“
Richard Powers
Drei Bauern auf dem Weg
zum Tanz
Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 462 Seiten, 22,95 Euro.
Schon Anfang der Achtziger
war Richard Powers mit den
neuesten Computern vertraut
Ein „Zeitbild“, so hat es August Sander selbst genannt, wollte er mit seinem monumentalen Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ schaffen. Unsere Abbildung der „Jungbauern, 1914“ entnehmen wir der prächtigen, großformatigen Neuauflage des Fotobuchklassikers (Schirmer-Mosel, München 2010, 808 Seiten, 619 Duotone-Tafeln, 98 Euro). Foto: Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln; VG Bild-Kunst, Bonn, 2011
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2012

Auf den Spuren von Hubert, Peter und Adolphe

Die Geburt des Romans aus dem Geiste der Fotografie: Richard Powers' Debüt "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" aus dem Jahr 1985 ist eine dreistimmige Komposition aus der Autostadt Detroit, die das Werk August Sanders entschlüsselt.

Unter den großen amerikanischen Erzählern der Gegenwart gilt Richard Powers als Formjongleur. Nie hat er einfach eine Geschichte erzählen wollen, mit Einleitung, Klimax, Coda. Und auch sein erst jetzt auf Deutsch veröffentlichtes Debüt "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" aus dem Jahre 1985 ist als Visitenkarte zu lesen, mit klaren Weichenstellungen und der Tendenz zur großen, verschachtelten Form. Powers faltet das zwanzigste Jahrhundert in drei Erzählsträngen auf. Und wie von seinen späteren Romanen gewohnt, grundiert er schon hier alles mit klugen Exkursen, über die Entwicklung der Fotografie, der Industrie, über die daraus folgende Veränderung des Menschen.

Biographien erfundener oder historischer Personen überlappen einander. Der Spaß beim Lesen dieser Romane variiert je nach Erzählstrecke, und zuweilen versinkt man so tief, dass man nur unwillig die Parallelgleise ins Blickfeld rücken mag. Dabei ist gerade der Blick aus größter Höhe auf diese kühne Konstruktion schwindelerregend.

Die Romane von Richard Powers, der 1957 in Evanston, im amerikanischen Bundestaat Illinois zur Welt kam, erwachsen gerne am Nullpunkt, wie unter großem Druck, der sich in üppigen Erzählbächen ergießt. In "Das Echo der Erinnerung" ist es nach einem schweren Unfall die Auslöschung der Vergangenheit, die fortan neu geschrieben werden muss. In "Schattenflucht" ergeben sich die Szenarien innerhalb eines vom Rest der Welt abgetrennten kreativen Zentrums, auf Englisch: eines thinktanks, der Denker unterschiedlichster Temperamente zusammensperrt. Jetzt ist es ein Zeitloch während einer Reise: der auferzwungene Zwischenstopp des Erzählers in Detroit, der Autostadt, die auch Kunst zu bieten hat.

Diesen Erzähler, ein Unternehmer mit technischem Hintergrund, der Autos gar nichts abgewinnen kann, ereilt in seiner Detroiter Warteschleife - die Langeweile spült ihn ins hiesige Museum - fast so etwas wie eine Epiphanie: "tiefes, seelisches Wohlbefinden". Noch im Erdgeschoss hatten ihn Diego Riveras Fresken über Henry Ford und Detroits Industrialisierung aufgewühlt, eine subversive Darstellung des Fließbands als "sehnige, fast organische Maschine, die stampfte, schweißte und schließlich das fertige Produkt, einen Automotor hervorbrachte". Jetzt steht er besänftigt vor einer Fotografie August Sanders: "Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz, 1914".

Zu sehen sind drei junge Männer in Sonntagsanzug mit Gehstock und Hut auf ödem Ackerfeld und auf dem Weg irgendwohin. Dem Letzten hängt die Zigarette lässig am Mund, der Mittlere schaut wie aus allen Träumen gerissen, der Vorderste zieht eine Augenbraue leicht hoch. Alle wenden sich dem sie offenbar überraschenden Fotografen aus der Bewegung heraus zu, ein kurzes Innehalten, bevor sie ihren Weg fortsetzen - als Individuen mehr denn als Typen. In dieser Wartehalle der Geschichte im Detroiter Museum, im Kreuzungspunkt also von Industrie und Kultur, schießen alle künftigen Linien des Romans, noch bevor wir sie kennen, schon gleich zu Anfang zusammen und verdichten sich zu einem Bild, dem Richard Powers seine zunächst dreistimmige Komposition abgewinnt.

Die drei Bauern lassen den Erzähler für lange Zeit nicht mehr los. Er kauft sich ein Notizbuch und schreibt auf, was ihm dazu einfällt. Und so ist dieses Debüt nicht zuletzt auch ein Roman über die Geburt eines Romans; über den Autor selbst, der hier die erzählerischen Freiheiten prüft, die er sodann ergreift: Er erzählt, nach dem umwälzenden Museumsbesuch, die Geschichte dieser drei Bauern Hubert, Peter und Adolphe. Ein- und Auswandererbiographien: Zwei der drei geraten in die Bauersfamilie wie Kuckuckseier der neuen Mutter ins Nest gelegt, die sich rührend kümmert - bis das Militär sie abberuft auf ein Feld "irgendwo in diesem geschundenen Jahrhundert", zum Todestanz.

Ein Sog entsteht spärlich und spät. Lange liest man zwar souverän erzählte, einander abwechselnde, aber zunächst unabhängige Teile: die Spurensuche des Ich-Erzählers; die nacherzählte Geschichte der drei Jungbauern um den Ersten Weltkrieg sowie ein dritter Erzählstrang um einen gewissen Peter Mays, der in den achtziger Jahren spielt. Peter Mays ist beschäftigt bei einer Zeitschrift für Mikro-Computerdesign, jagt aber lieber einer rotschopfigen Schönheit hinterher, die er während einer Parade zum Gedenken an den Waffenstillstand auf der Straße vom Fenster aus erspäht - auch er also erregt wie anfangs der Ich-Erzähler von einem Bild. Ob sich die Frau in der Realität findet, ist hier gar nicht so wichtig, vielmehr, welche Projektionen und Handlungen ausgelöst werden.

"Menschen des 20. Jahrhunderts" nannte August Sander sein gigantisches Projekt, für das er Menschen in ihrer sozialen Rolle, ihrem gesellschaftlichen Stand extra posieren ließ, unter Aufgabe ihrer Individualität. Er hatte nichts Geringeres im Sinn als die Erschaffung einer Enzyklopädie des Menschen, eines "allumfassenden Katalogs von Gesichtern, der mit deutscher Sorgfäligkeit das Leben in der neuen Ära festhalten sollte". Sanders ist eine der historischen Persönlichkeiten, die der vom "Antlitz der Zeit" so gebannte Erzähler in eigenen Exkursen ergründet, um den Zeitenwandel zu begreifen. Henry Ford, Vater der modernen Massenproduktion, ist die andere wichtige reale Figur. Ford hat nach dem Scheitern seiner Friedensbemühungen vom Ersten Weltkrieg vornehmlich Gewinn eingefahren. Beide verbindet die Maschine - nur dient sie unterschiedlichen Zwecken. Als Stützpfeiler des Romans, den Henning Ahrens souverän übersetzt hat, haben sie auf vertrackte Weise mit den Romanfiguren zu tun.

Richard Powers erzählerischer Anspruch ist hoch und länger nicht recht greifbar. Doch dann kommt es schließlich doch noch zu rätselhaften Überschneidungen. Peter Mays findet sich selbst beziehungsweise den verblüffend ähnlichen Urgroßvater auf einem vergilbten Foto mit Henry Ford, der ihn freundlich als "Erben" umarmt - Anstoß für ihn, seine Familiengeschichte zu erforschen, was einen neuen Blick auf die Vergangenheit beschert. Uns Leser hingegen lässt Powers gegen Ende entdecken, dass Peter Mays und der Ich-Erzähler die gleiche Figur sind, was den dreistimmigen Roman in eine schöne Symmetrie hineingleiten lässt. Vor allem aber konfrontiert uns die Enthüllung mit dem Unterschied von innen und außen - beide Blickwinkel hatte man eingenommen.

Diese doppelte Rollenbesetzung weist der Erzähler als eine der wichtigsten Neuerungen im Zuge der Erfindung der Fotografie aus, die das Jahrhundert entscheidend prägte. Richard Powers geht es also gar nicht so sehr um Entzifferung, vielmehr um den Moment, da die Betrachtung eines Bildes oder eines Menschen den Betrachter verändert - und dem Lebenslauf eine überraschende Biegung einbaut. Seine Spielfläche ist schon hier, vor sechsundzwanzig Jahren, der mysteriöse Erzählraum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich zugegen sind.

Richard Powers machte zuletzt von sich Aufsehen, als er als neunter Mensch sein Genom entziffern ließ. Er schrieb über sein Erstaunen angesichts der klein verpackten Banalität seiner und unser aller Existenz eine Reportage, "Das Buch Ich # 9". Nie hat er auch davor den Eindruck erweckt, dass man sich in seiner Prosa bequem einrichten könne. "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" ist zu dieser Haltung die Ouvertüre. Sie knarzt noch als Ganzes, doch ist sie in manchen Passagen verführerisch dissonant. Andere Autoren erzählen einfach Familiengeschichten. Powers erzählt und spiegelt sie in großen Diagnosen über die Zeit. Das ist als Roman goutiert ein Stück Arbeit und in der Umsetzung um einiges angestrengter als Powers spätere Romane, aber immer noch sättigend.

ANJA HIRSCH

Richard Powers: "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz".

Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2011. 444 S., geb., 22,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Schon in Richard Powers vor rund 25 Jahren erschienenem Debütroman, der um ein Foto von August Sander kreist und von den 1980er Jahre in die Zeit um den Ersten Weltkrieg führt, geht es im Kern um "Technik und Mensch", stellt Hans-Peter Kunisch klar. Ihn hat Powers Vexierspiel um "Geschichte, Schicksal und Identität", in der die drei Bauern auf dem Foto vom Tanzvergnügen direkt auf die Schlachtfelder des Krieges katapultiert werden, sehr beeindruckt. Am meisten fasziniert den Rezensenten, wie es dem amerikanischen Autor gelingt, historische Fakten mit einer mitunter träumerischen Fiktion zu verbinden. Dass er dabei manchmal wie vom Katheder herab klingt und die vielen Figuren und Erzählebenen zu "verschwimmen" drohen, findet Kunisch verzeihlich, weil er hier schon den späteren ausgereiften Schriftsteller Powers erkennen kann, der seinen "eigenen Weg geht", wie er anerkennend vermerkt.

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