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Das Ende des Sommers, lange als Zumutung empfunden, erlebt Johanna seit einigen Jahren als Erleichterung. Die Hoffnung, mit der Zeitenwende das wirkliche Leben erst zu beginnen, ist dem Gefühl gewichen, nichts zu können, was die veränderte Welt braucht. Früher hat sie geheime Botschaften in ihren Vor- und Nachworten und in überliefernswerten Biografien versteckt, eine plötzlich überflüssige Fähigkeit, wie auch die weltabgewandte Charakterfestigkeit von Achim, ihrem Mann, eine überflüssige Tugend geworden ist. Auf dem Land, in einer nordöstlichen Endmoränenlandschaft, versucht sie, gleichsam in…mehr

Produktbeschreibung
Das Ende des Sommers, lange als Zumutung empfunden, erlebt Johanna seit einigen Jahren als Erleichterung. Die Hoffnung, mit der Zeitenwende das wirkliche Leben erst zu beginnen, ist dem Gefühl gewichen, nichts zu können, was die veränderte Welt braucht. Früher hat sie geheime Botschaften in ihren Vor- und Nachworten und in überliefernswerten Biografien versteckt, eine plötzlich überflüssige Fähigkeit, wie auch die weltabgewandte Charakterfestigkeit von Achim, ihrem Mann, eine überflüssige Tugend geworden ist. Auf dem Land, in einer nordöstlichen Endmoränenlandschaft, versucht sie, gleichsam in einem Panoramablick, ihren biografischen Standort zu bestimmen, rückblickend, vergleichend und ratlos, was die vor ihr liegende Zeit angeht.
Johannas entschlossene und lebenskluge Freundin Elli benutzt das Wort Glück seit langem nur in seinen trivialen Zusammenhängen. Die erfolgreiche Malerin und Erbin eines Verwalterhauses Karoline Winter, vor jeder Flugreise in Todesangst, verzweifelt am Verfassen ihres Testaments, weil sie keine Erben hat. Christian, der alte Freund aus München, Lektor in einem Wissenschaftsverlag, erlebt den Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Die Lebensentwürfe aller scheinen erschöpft, und die Zeit vor ihnen ist noch lang.
Autorenporträt
Maron, Monika§
Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, darunter »Flugasche«, »Animal triste«, »Endmoränen«, »Ach Glück« und »Zwischenspiel«, außerdem mehrere Essaybände, darunter »Krähengekrächz«, und die Reportage »Bitterfelder Bogen«. Zuletzt erschienen die Romane »Munin oder Chaos im Kopf« (2018) und »Artur Lanz« (2020). Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kleist-Preis, der Carl-Zuckmayer-Medaille, dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg, dem Deutschen Nationalpreis und dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen.

Literaturpreise:

unter vielen anderen:
Kleist-Preis 1992
Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2003
Ida-Dehmel-Literaturpreis 2017
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.09.2002

Die Herbstzeitlosen
Von der Kunst, Botschaften in Biografien zu verstecken: Monika Marons unruhiger Vorruhestandsroman „Endmoränen”
„Endmoränen”, so steht es im Lexikon, „vor dem Rand eines vorrückenden Gletschers zu einem Wall zusammengeschobenes Material (Gesteine, Ablagerungen, Holz u.a.)”. Wer ist in Monikas Maron neuem Roman der Gletscher, wer der Wall und was das Material? Der Titel, denkt man, war in Marons Œuvre schon länger überfällig. Handelten nicht schon die letzten Romane grimmig oder heiter von einer Zeit, in der einen kaum noch etwas am Leben hält? Die wirkliche Welt, so konnte man meinen, war 1989 untergegangen, und was nun noch folgte, dauerte, gemessen an seiner Bedeutungslosigkeit, schon viel zu lange. Da wo Marons „Endmoränen” spielen, irgendwo im Urstromtal unweit von Berlin, leben Menschen, die sich fühlen, als hätte ein Gletscher sie zu einem Wall zusammengeschoben. Sie fühlen sich von der Zeit überrollt, und trotzdem geht ihnen das Altern nicht schnell genug. „Vor drei Jahren”, beginnt Johanna ihren Bericht, „habe ich zum ersten Mal bemerkt, daß ich erleichtert war, als der Herbst kam.” Im Herbst fühlt man sich weniger unnütz, mehr im Einklang mit dem rundherum herrschenden Blätterfall.
Märkische Müdigkeit
So ein Anfang könnte auf einen Fortgang ganz im Zeichen von Trübsal und Weinerlichkeit deuten, aber so ist es dann doch nicht. Johanna ist nämlich, ihrem gelegentlichen Weltschmerz zum Trotz, eine robuste Person, ausgestattet mit Selbstironie, was sowohl die Hinfälligkeit ihres Fleisches wie die Nutzlosigkeit ihrer zu DDR-Zeiten erworbenen Fähigkeiten betrifft. Zwar entgeht ihr keinesfalls die „in grellem Sonnenlicht schon sichtbare Gravur der Greisenhaftigkeit auf meiner Haut”, andererseits ist sie bereit zu konzedieren, dass so ein bisweilen fast toskanahafter Vorruhestand inmitten brandenburgischer Endmoränen auch sein Gutes hat. Immerhin ist trotz aller Bemühungen, sich alt zu fühlen, das Alter, wie Johanna sorgenvoll bemerkt, noch immer Jahrzehnte entfernt. Als Johanna und Achim, ihr Mann, noch in der DDR lebten und sich schreibend von der Welt abwandten, lebten sie in jener Nische, die der Staat unauffälligen Privatgelehrten bot.
Achim interpretierte Tag und Nacht Kleist gegen den Strich. Johanna verfasste Vor- und Nachworte, „Begleittexte zu literarischen Schallplatteneditionen” oder „kurze und längere Biografien”, in denen sie politisch Unbotmäßiges versteckte. Nun, nach der Wende, sitzt Achim noch immer über Kleist und wendet seiner Frau bei Tag und Nacht den Rücken zu. Johanna hält sich meistens auf dem Lande auf und schreibt noch immer Biographien. Aber oft ist sie des Arbeitens müde, dann blättert sie in Illustrierten oder schreibt Briefe an alte Freunde, in denen die Sehnsucht nach einem anderen, weniger herbstlichen Leben durchschimmert. „Ich habe jetzt schon das Gefühl”, schreibt sie an einen Münchner Freund aus Vor-Wende-Zeiten, „daß ich nichts kann, was diese Welt noch braucht. Ich konnte Botschaften in Biographien verstecken, und das ist über Nacht eine ganz überflüssige Fähigkeit geworden.” „Die Überflüssigen”, so könnte der Roman auch heißen, Porträt einer intellektuellen Elite von gestern, die im märkischen Exil ihren Überdruss an der westlichen Welt kultiviert. Ein anderer Titel, der einem in den Sinn kommt: „Lerne klagen, ohne zu leiden.”
Botschaften in Biographien verstecken, das ist tatsächlich nicht der skill, auf den es im Moment ankäme. Aber Johanna versucht es trotzdem. Sie sammelt und präsentiert Material für eine Biographie von Wilhelmine Enke, der Mätresse Friedrich Wilhelms II., und man darf annehmen, dass sie das nicht täte, wenn es darin keine Botschaft zu verstecken gäbe. Von der „Chance eines zweiten, unverhofften, ihr durch Geburt nicht zugedachten Lebens” ist da die Rede, von einer Frau, die alles, was das geschenkte Kokottenleben hergab, aus ihm heraus sog: „Kunst, Philosophie, Musik, Architektur” und wohl auch die Freuden des Fleisches. Ist das Leben der Kurtisane womöglich ein sinnenfroher Gegenentwurf zu dem etwas mürben Abgesang, den zuvor ihre Biographin in eigener Sache angestimmt hat? Wie fertig ist Johanna wirklich mit ihrem Leben? Gibt es nicht sogar bei ihr trotz aller alters- und wendebedingten Grundtrauer einen unerklärlichen Rest von Lebenslust? Wer möchte schon auf Dauer eine Endmoräne sein?
Und so schickt Monika Maron ihre Johanna, dieweil ihr Mann über Kleists Werke gebeugt bleibt, auf einen erotischen Sommerhaus-Parcours, an dessen Ende nicht das Ende wartet, sondern, letzter Satz des Romans, „ein wunderlicher Anfang”.
Frauenkörper, Jahresringe
Man könnte Marons Roman vorhalten, dass nichts Nennenswertes in ihm geschieht. Man sieht sich, man besucht sich, man schwatzt ein bisschen von Zaun zu Zaun, manchmal kommen Tochter oder Mann oder Nachbarn vorbei, man erinnert sich an alte Zeiten und klagt über die Gegenwart. Dazwischen eingestreut Fragmente einer Biographie, Posteingang und Postausgang, all das sehr verhalten, unaufgeregt, manchmal müde. Endmoränen eben. Wenn von kaum etwas oder von gar nichts die Rede ist, werden die meisten Bücher langweilig, andere, wie dieses, werden erst interessant. Ob Johannas kleines Herbst- Memento schon für einen Roman ausreicht, ist auf einmal nicht mehr die Frage, auf die es ankommt. Entscheidender ist, dass da eine Stimme ist, der man glaubt. Es ist Johannas oder Monika Marons Stimme, eine manchmal resignierte, dann wieder resolute, eine mit sich und der Welt schonungslose Stimme. Man stellt sich vor, dass sie berlinert, und dass Johanna am Ende einem herrenlosen Hund von der Autobahn hilft, passt ins Bild.
Besonders trefflich eignet sich Marons böser Blick zur Beschreibung alternder Frauenkörper, etwa den der Nachbarin Friedel Wolgast. „Bis zum Tod ihres Mannes hatte Friedel Wolgasts Körper Jahr für Jahr eine Schicht zugelegt, wie Jahresringe um einen Baum, und sich mit der Zeit zu einem in dieser Gegend üblichen, derben, konturlosen Frauenkörper ausgewachsen, mit schweren Brüsten und der gleich darunter ansetzenden Wölbung des Bauches, von ähnlicher Masse an der Hinterseite im Gleichgewicht gehalten.” Da passt jedes böse Wort.
So wie Friedel Wolgast will Johanna nicht enden. Sie will sich noch einmal lebendig fühlen und was vermittelt am verlässlichsten das Gefühl des Lebendigseins? Igor heißt er und ist Russe, ein Kunsthändler, der bei ihrer malenden Nachbarin Karoline ein- und ausgeht, ein Mann, den man sich unweigerlich wie einen der Klitschko-Brüder vorstellt. Nicht unbedingt der Richtige für Johanna, aber plötzlich steht er vor der Tür. Was dann folgt, der „Rausch der Fremdheit”, „die erschreckende Nacktheit”, „die rasende Verständigung der Zellen, Synapsen und Neurotransmitter”, war in Johannas Selbstbefund als Endmoräne eigentlich nicht vorgesehen. Nun ist alles anders. Hinter dem Wall hat sich plötzlich ein Raum aufgetan, in dem auch auf zerknautschte Lebensläufe ein neuer, ein wunderlicher Anfang wartet, ein Anfang mit Männern und Hunden.
CHRISTOPH BARTMANN
MONIKA MARON: Endmoränen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 252 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Sommerhaus, älter
Was nach dem Rückzug liegenbleibt: Monika Maron blickt Gletschern nach / Von Friedmar Apel

Nach Richard von Weizsäckers gutgemeinter Aufforderung hätten die Deutschen nach der Wende ein einig Volk von Erzählern werden sollen, die immerfort beieinander sitzen und von ihrem Erleben und Erleiden in Ost oder West berichten. Tatsächlich war in der Folge ein Anschwellen biographischer Mitteilungen zu verzeichnen, ob sie das Verständnis verbessert haben, wie es sich der Bundespräsident erhoffte, steht dahin. Es waren nicht nur die Stasi-Unterlagen, die eine Diskussion um geschönte, erfundene oder enteignete Biographien auslösten, sondern auch die Berichte der letzten Überlebenden der Nazi-Diktatur. Das Mißtrauen gegenüber all den Erzählungen von Opfern und Tätern, offenem oder subversivem Widerstand, von Bescheidung, Solidarität und menschlicher Wärme, scheint ebenso gewachsen zu sein wie die Abneigung gegen die gradlinigen Geschichten wohlstandsbürgerlicher Erfolgsmenschen. Manche, die sich gut verstanden, hätten vielleicht voneinander lieber weniger erfahren.

Auch die aus dem Mangel an Zukunftschancen erwachsene Idee der "Bastelidentität" zehrt noch vom stolzen Diktum der modernen Anthropologie, der Mensch als frei handelndes Wesen sei nur, was er aus sich mache. Biographie erscheint da rückblickend als Folge von Ereignissen, die auch anders hätten geschehen können. Die Propaganda der Individualisierung hält die Vorstellung eines in freier Wahl gestalteten Lebens aufrecht, während Naturwissenschaften und Psychologie den Einfluß, den genetische Ausstattung, frühe Prägung, gattungsspezifische Verhaltensweisen und Umweltbedingungen auf menschliches Handeln ausüben, immer höher veranschlagen.

Das alles könnte die Frage, wie denn ein Leben erzählt werden kann, als erledigt erscheinen lassen. Vielleicht ist es ja der menschlichen und natürlichen Gegenwart und Zukunft förderlicher, kurz abzutun wie und warum wir geworden sind, um sich dem zuzuwenden, was jetzt zu leisten ist. Die Natur scheint es zu lehren: Endmoränen sieht man in der blühenden Landschaft nicht mehr an, daß sie einmal das Geröll waren, daß der eiszeitliche Gletscher vor sich herwälzte, um es bei seinem Rückzug achtlos liegenzulassen. Monika Marons neuer Roman aber zeigt in ambivalenter Auslegung seines Titels, wie sehr uns bei allem Mißtrauen gegen die selektive Konstruktion an erzählter und nach dem Stand des menschlichen Wissens reflektierter Biographie gelegen sein muß. Denn nur in der Form der Erzählung kann ermessen werden, welcher Spielraum der Wahrnehmung und des Handelns bleibt, gerade weil das Wissen längst schon von keinem einzelnen mehr zu überschauen und überdies wankelmütiger ist denn je.

Die Ich-Erzählerin Johanna hat einst das Erzählen als existentiell begriffen: "ich führte ein Doppelleben, ein wirkliches und ein erzähltes, wobei sich das eine vom anderen kaum unterschied, nur verstand ich, was ich erlebt hatte, erst indem ich es erzählte oder mir vorstellte, was geschehen wäre, hätte ich jeweils die andere Entscheidung getroffen". Zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik hat sie ihr Leben mit biographischen Vor- und Nachworten gefristet. Das war weder eine besonders einträgliche noch erfolgreiche Tätigkeit, aber eine sinnvolle. Denn Biographien eigneten sich damals besser noch als Romane dazu, geheime Botschaften der Widerständigkeit am Zensor vorbeizuschmuggeln, und den Aufmerkenden ein Bild der Selbstbehauptung des Individuums zu vermitteln. An ihrer Seite beugte sich ihr Mann Achim über die Werke Heinrich von Kleists und drehte der Wirklichkeit von Partei und Staat, freilich zunehmend auch Johanna, den Rücken zu. Die Wende aber hat sie als Wunder erlebt, belacht und gefeiert. "Daß ich endlich aufhören durfte zu kämpfen, gehörte zum Schönsten."

Aber nun vermißt sie eben das. "Früher war es wichtig Solschenizyn und Koestler zu lesen und weiterzugeben. Es war schon wichtig, einfach nur gegen den Staat zu sein, mehr mußte man gar nicht tun, um wichtig zu sein. Natürlich war das eine ganz idiotische Wichtigkeit, trotzdem fehlt sie mir." Während andere ein neues Leben angefangen haben, Bundestagspräsident geworden sind oder Redakteur bei der Zeitung, die sie vorher nie gedruckt hätte, erforscht Johanna immer noch anderer Leute Leben. Aber es erfüllt sie nicht mehr, "weil Biografien eben nur noch Biografien waren und niemand mehr auf die Idee kam, in ihnen nach geheimen Botschaften zu suchen". Trotzdem hat sie sich verpflichtet, die Lebensgeschichte Wilhelmine Enkes, der Geliebten Friedrich Wilhelms II., der späteren Gräfin Lichtenau zu schreiben.

Daran wird ihr der Bedeutungswandel erst recht deutlich. "Vor fünfzehn Jahren hätte allein der Hinweis auf das verschollene Grabmal der Gräfin Lichtenau eine simple Biografie in eine Protestschrift verwandelt, weil das Grab der Gräfin Lichtenau 1961 in den Todesstreifen zwischen Ost- und West-Berlin einplaniert worden war." Damals hätte die Biographie Gleichnis und Lehre sein können, nun ist sie nur noch undeutliche Spiegelung der Entbehrungen einer auf sich selbst zurückgeworfenen Individualität. Wilhelmine Enke erscheint der grübelnden Johanna in der Einsamkeit ihres Sommerhauses in der nordöstlichen Moränenlandschaft als eine, die noch wußte, wie man um sein Glück kämpft. Ihr aber scheint jeder Selbstbehauptungswille abhanden gekommen zu sein, und in liebevollem Neid blickt sie auf ihre Tochter Laura, die schnell amerikanisch geworden ist, den Erfolg will und bereit ist, auch die Niederlage auf sich zu nehmen und nicht den Verhältnissen anzulasten.

Derart beschreibt der Text einen Sommer wiederholter Spiegelungen, in denen Johanna aufgeht, was sie aus sich nicht gemacht hat. Dabei scheint ihr Selbstbild zunehmend zu verfallen. Noch der Gedanke an die Bewunderung, die ihre verwachsene Studienfreundin Irene, die sie vergessen hatte, ihr noch bei ihrem frühen Tod entgegengebracht haben könnte, verwandelt sich unversehens in Identitätszweifel: "Im warmen Licht der Eigenliebe aber wog meine Schuld umso schwerer und mein Versagen glich einem Selbstverrat, weil es bewies, daß ich nicht die Person war, die Irene in mir vermutlich gesehen hat." Im Vergleich der Zeiten wie der Konzentration auf sich selbst stechen ihr überdies die Zeichen des Alters, die "Gravur der Greisenhaftigkeit" immer stärker ins Auge, das im Gefühl versäumten Neuanfangs in eine monotone Zukunft blickt. Bei der Wende hatte sie gedacht, das wirkliche Leben fange jetzt an, nun aber fürchtet sie, "es könnte schon wieder vorbei sein mit dem eigentlichen Leben, weil es zu spät angefangen hat, weil wir gar nicht mehr dran sind mit dem richtigen Leben, sondern daß für uns bald diese öde lange Restzeit beginnt". Denn sie weigert sich, das Alter nach den medialen Wunschbildern als Stadium fortgeschrittener Erlebnisfähigkeit zu begreifen und liebäugelt sogar mit nonchalantem Starrsinn.

Die Erinnerung an Christian P., den kultivierten Münchner Verlagslektor, mit dem sie sich vor der Wende gut verstand, dem sie aber später das Verständnis nicht mehr glaubte, weil sie sich ihres schäbigen Ostlebens schämte, läßt sie über die Mißverständnisse zwischen Ost und West nachdenken. "Es dauerte einige Zeit, ehe ich lernte, die Zeichen der Welt, der wir nun angehörten zu deuten, die Rituale der Einladungen, die Signale der Kleidung, der Sprache, der Bilder an den heimischen Wänden. Irgendwann begann ich zu ahnen, daß Christian P., als er uns glauben ließ, er lebe ähnlich wie wir, weniger an sein Porzellan gedacht hatte als an seine Bücher, an seine Freunde, und an seine Vorlieben und Abneigungen und daß wir, Achim und ich, die Idioten waren, die plötzlich, weil die Welt sich verändert hatte, ihren eigenen Maßstäben nicht mehr trauten, daß wir, weil uns ein ungewohnter Wohlstand erschreckt hatte, seinen Besitzer verdächtigten, ein anderer zu sein, als wir bis dahin geglaubt hatten." Im übrigen erfährt Johanna, daß der Geisteswissenschaftler Christian P. sich in München ebenfalls zu nichts mehr nütze fühlt, was die heutige Welt zu brauchen glaubt.

An ihrer Nachbarin Friedel Wolgast wird ihr deutlich, daß auch das einfache ländliche Leben keine Rettung ist, weil die alten Maßstäbe vielleicht tatsächlich nicht mehr taugen. Es genügt, daß ein unverschämter Wessie das Grundstück nebenan kauft, um die althergebrachten Grundsätze des Zusammenlebens und der Gemütlichkeit außer Kraft zu setzen und die scheinbar festgefügte Identität der Bodenständigen zu zerstören. Aber vielleicht war ja auch das Alte gar nicht gut, vielleicht war es nur nicht zu ändern. "Für Friedel, wie für die meisten Leute hier, galt die Ungerechtigkeit jedweder Obrigkeit als so naturgegeben wie die Abfolge der Jahreszeiten."

Igor, ein arroganter russischer Dandy und Kunsthändler in Majakowski-Tracht, sieht Johannas Schwierigkeiten schließlich im deutschen Wesen: "Man kann die Welt nicht verstehen. Und wer es versucht, wird depressiv oder verrückt. Die Deutschen wären wahrscheinlich ein ganz erträgliches Volk, wenn sie nicht immerzu die Welt verstehen wollten." Stil, ironische Haltung und der Reiz des frischen Handelns selbst sind für ihn die Maßstäbe, die das menschliche Weltverhältnis organisieren. Es dauert dann nur einige Gläser Wein, bis Johanna die beinahe vergessene Erfahrung macht, daß die Natur ein sinnliches Verstehen jenseits der Interpretationen, der politischen Überzeugung, der nationalen Stereotypen und sogar des Altersunterschieds vorgesehen hat.

Am Ende gewinnt der versäumte Anfang als Zuwendung zum Lebendigen schemenhaft neue Kontur. Das ist tröstlich, fast ein wenig kitschig, aber es macht nicht vergessen, was dieses kluge Buch bis dahin schon gelehrt hat: daß nichts gewonnen werden kann, wenn man es sich mit der Biographie, der Handlungsfreiheit und der Wahrnehmung der anderen zu einfach macht. Die Fragmente erfahrenen und erzählten Lebens aber, die Monika Maron auslegt, haben weder einen Zusammenhalt in den äußeren Verhältnissen noch im bewährten Muster, sondern werden bei aller gelegentlichen Larmoyanz von einer eleganten Sprachhaltung und souveräner intellektueller Disposition getragen. Ein der Welt ihren Lauf lassender abgeklärter Altersstil, den Johanna sich gelegentlich wünscht, aber ist das nicht. Allenfalls in den feinen und spitzen Bemerkungen, die den heutigen Jugendlichkeitswahn aufspießen, deutet er sich an. Für Johannas Freundin Elli ist es schon Glück, wenn sie den Zug nicht verpaßt, die Erzählerin aber und ihre Autorin haben das Hadern längst noch nicht verlernt.

Monika Maron: "Endmoränen". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 253 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Lebenslinien in Zeiten des Umbruchs
Eine Frau erinnert sich, sie denkt nach. Mehr als zehn Jahre sind vergangen seit dem Mauerfall. Die Tochter, eines der vielen, von Jana Hensel so treffend beschriebenen Zonenkinder, ist längst aus dem Haus. Und die Eltern? Wie steht es um die Generation, die zur Zeit des Mauerfalls die Mitte des Lebens, ihre "besten Jahre", bereits hinter sich hatte? In Endmoränen erzählt Monika Maron in erster Linie von der DDR-Generation, die die Wende durchaus begrüßt hatte, dann von den vielen Umbrüchen überrollt wurde und jetzt ein wenig ratlos in die Zukunft blickt.
Stillstand im Land des Aufbruchs?
Im Mittelpunkt steht Johanna, eine Schriftstellerin, die sich mit ihrem Mann Achim zu DDR-Zeiten in Basekow, einem Flecken im Umland Berlins, ein Refugium geschaffen hatte. Man hatte sich arrangiert, jeder seine Nische gefunden. Johanna war mit sich und der Welt zufrieden, wenn es ihr gelang in ihren Biografien ein wenig Systemkritik zu vermitteln; ebenso Achim, der seine ganze Energie in die Erforschung des Werks von Heinrich von Kleist steckte.
Zu Beginn des Romans ist es Herbst in Basekow, endlich. Johanna hat sich eine Arbeit über Wilhelmine Enke, die Vertraute und Geliebte Friedrich Wilhelms II., vorgenommen, die aber nicht vorankommen will. Sie ist wie gelähmt, raisonniert über das Fortschreiten der Zeit und das Altern. Was bleibt einer Frau, die - statistisch gesehen - noch zwanzig bis dreißig Jahre zu leben hat, aber das, was um sie herum geschieht, nicht beeinflussen kann?
Sich seine neue Biografie zurechtschreiben
Genau das war es, wozu Johanna nach der Wende nicht bereit war. In der DDR war ihre Arbeit sinnvoll, gesellschaftlich wichtig. Heute ist es ihr Broterwerb, mehr nicht. Etwas anderes, so Johanna, hat sie nicht gelernt. Johanna trauert der Vergangenheit nicht nach, andererseits kommt sie mit der Gegenwart und dem Älterwerden nicht zurecht.
Endmoränen ist nicht nur ein Portrait des Seelenzustands der jetzt etwa 60jährigen Ex-DDR-Bürger. Am Beispiel ihres Freundes Christian P. werden die Brüche sichtbar, auf die sich jeder in unserer Gesellschaft gefasst machen muss. Christian P. verliert nicht nur seine Frau an einen jüngeren Mann, als unrentabler Geisteswissenschaftler wird er von seinem Münchener Verlag in ein Mansardenstübchen "wegrationalisiert".
Abschied nehmen und immer wieder anfangen
Schließlich wird Johanna klar, dass es ihr nicht gelungen ist, in dem Ende der DDR und ihrer Jugend auch die Chance eines Anfangs zu sehen. Doch nicht der Westler Christian P. gibt ihr den Anstoß, sich zu verändern, sondern der Russe Igor, ein geschäftstüchtiger, lebensfroher "Barbar".
In Endmoränen zieht Monika Maron vorsichtig, aber doch klar und deutlich Bilanz. Es ist eine sorgfältig komponierte und zugleich sehr flüssig erzählte Geschichte, mit der der Leser Abstand gewinnen kann von der Aufgeregtheit des Alltags, ein Roman, in dem, wie viele Kritiker bemerkt haben, nicht viel passiert. Seine Botschaft - nicht aufgeben, immer wieder von vorne anfangen - klingt ein wenig banal, aber in Zeiten des Umbruchs, in denen diese Haltung zur Überlebensstrategie wird, ist sie wichtiger denn je. (Birgit Kuhn)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Man weiß nicht, was Martin Krumbholz an diesem Roman gefallen oder was ihm missfallen hat. So recht begeistern kann er sich jedenfalls nicht: Tonlage "weder Dur noch Moll". Ähnlich wie den von ihm nachgezeichneten Charakteren - Johanna, der Protagonistin, samt Mann, Tochter, Geliebten und am Ende noch ein Hund - scheint auch dem Rezensenten ein ödes Gefühl von Vanitas in die Knochen gefahren zu sein. Die Charakterisierungen, die er für Ort, Zeit und Handlung sowie die handelnden (redenden) Personen findet, sind: Desillusion, Spätsommer, Endzeit, Herbst, Melancholie... Krumbholz fragt sich verwundert, ob die Perspektive der Maron'schen Figuren, das Intim- und Gefühlsleben einer gewissen Generation Intellektueller in der Post-DDR, eine verquere Art von "DDR-Nostalgie" sei. Es wirkt alles, urteilt er, "wie in einer Ausnüchterungszelle geschrieben, ein Kopfschmerzbuch".

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