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"Mit der Veränderung der Persönlichkeit ändert sich auch die Qualität der Erinnerung." Diesen Satz zitiert Hans Keilson gleich zu Beginn seiner rückblickenden Erzählung. Es sind Spiegelungen und Splitter, leise und zweifelnde Betrachtungen, die in diesen ebenso bewegenden wie heiteren Erinnerungen aufscheinen. Die Jugend in Brandenburg, das Studium und das rauschende Leben in Berlin, das Exil in Holland - das sind die äußeren Stationen dieses Lebens. Wirtschaftskrise, Antisemitismus, Krieg, aber auch Freundschaft, Musik und Hoffnung bilden den Rahmen dazu. Entstanden in den neunziger Jahren,…mehr

Produktbeschreibung
"Mit der Veränderung der Persönlichkeit ändert sich auch die Qualität der Erinnerung." Diesen Satz zitiert Hans Keilson gleich zu Beginn seiner rückblickenden Erzählung. Es sind Spiegelungen und Splitter, leise und zweifelnde Betrachtungen, die in diesen ebenso bewegenden wie heiteren Erinnerungen aufscheinen.
Die Jugend in Brandenburg, das Studium und das rauschende Leben in Berlin, das Exil in Holland - das sind die äußeren Stationen dieses Lebens. Wirtschaftskrise, Antisemitismus, Krieg, aber auch Freundschaft, Musik und Hoffnung bilden den Rahmen dazu.
Entstanden in den neunziger Jahren, findet Hans Keilson in diesem Buch einen literarischen Ton, der seinem grandiosen und weltweit übersetzten Werk eine weitere Facette hinzufügt.
An Stelle eines Nachworts findet sich am Schluss des Bandes ein ausführliches Gespräch über "hundert Jahre" Lebens- und Schaffenszeit.

Gleichzeitig erscheinen ausgewählte Essays von Hans Keilson unter dem Titel 'Kein Plädoyer für eine Luftschaukel' und die Neuausgabe des frühen Romans 'Das Leben geht weiter'. Lieferbar sind außerdem die Novelle 'Komödie in Moll' und der Roman 'Der Tod des Widersachers'.
Autorenporträt
Hans Keilson wurde 1909 in Bad Freienwalde geboren. Der Arzt und Schriftsteller emigrierte 1936 in die Niederlande, wo er bis zu seinem Tod 2011 lebte. Sein erster Roman 'Das Leben geht weiter' erschien 1933 bei S. Fischer. Die Novelle 'Komödie in Moll' wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und 2010 zum Weltbestseller. Hans Keilson wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, zuletzt mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis, der Moses-Mendelssohn-Medaille, der Humboldt-Medaille und dem "Welt"-Literaturpreis.

Literaturpreise:

"Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay" der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2005
Moses-Mendelssohn-Medaille 2007

Zuletzt wurde er ausgezeichnet mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis, der Moses-Mendelssohn-Medaille, der Humboldt-Medaille und dem WELT-Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2011

Schön, gefragt zu werden

Hans Keilson ist 101. Jetzt erscheint seine Autobiographie. 1936 floh er vor den Nazis, seither lebt er in Holland. Und im Alter kommt mit einem Mal der Ruhm, und seine Bücher werden auf der ganzen Welt gelesen

Hans Keilson lacht. Hans Keilson wundert sich. Ein alter Mann schaut auf sein Leben und staunt. Immer wieder wird er an diesem Nachmittag sagen: "Ist das nicht herrlich?", und dabei fragend hinüberschauen, von seinem großen Sofa in seinem Haus in Bussum bei Amsterdam, in dem er seit mehr als fünfzig Jahren lebt. Er erzählt vom Tod und vom Leben und immer wieder lachend von diesem späten, großen, unglaublichen Ruhm. "Ja meinen Sie, dass das echter Ruhm ist? Oder ist das Mache?" Hmm, nicht schwer, darauf zu antworten: Wenn es so etwas gibt wie echten Ruhm, ja, dann erlebt ihn der Sportlehrer, Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Hans Keilson jetzt, im Alter von 101 Jahren.

Die "New York Times" schrieb: "Keilson ist ein Genie"; seine Bücher wurden in Amerika neu aufgelegt, wurden aus dem Stand, mehr als fünfzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, zu Bestsellern; Übersetzungen erscheinen in der ganzen Welt, "mit Ausnahme von China und Japan", wie er sagt; Journalisten von überallher kommen, um ihn zu besuchen, ihn auszufragen. "Ich treffe nur nette Leute", sagt er jetzt, und wie schön es sei, gefragt zu werden.

Noch schöner ist es: fragen zu können. Den letzten jüdischen Debütanten im ruhmreichen S.-Fischer-Verlag vor dem Zweiten Weltkrieg, damals noch unter der Führung des alten Samuel Fischer. Wie das war, als er 1932 sein Manuskript abgab bei den Lektoren Oskar Loerke und Peter Suhrkamp. Den autobiographisch gefärbten Bericht über eine Jugend nach dem Kriege, den Untergang des Geschäfts seines Vaters in Bad Freienwalde, die aufkommenden Unruhen, das Gespür eines nahen Untergangs. Für den er irgendeinen pseudoliterarischen Titel vorgeschlagen hatte, worauf Loerke und Suhrkamp sagten, das ginge gar nicht, ob er nicht einen anderen wüsste, "und ich sagte ,Das Leben geht weiter', und da sagten beide: ,Das ist gut, den nehmen wir.'"

Und so ist das Buch 1933 noch erschienen. "Gerade noch rechtzeitig, um verboten zu werden", und das Leben ging weiter, und das Buch lebte weiter, wird wieder und wieder neu aufgelegt, und jetzt und heute ist Hans Keilson auch noch der älteste Autor, von dem bei S. Fischer je ein neues Buch erschienen ist. Es heißt "Da steht mein Haus", liegt in allen Buchhandlungen und ist eine Autobiographie in kurzen Skizzen. Es beginnt mit der Geburt in Bad Freienwalde bei Berlin im Dezember 1909, und schon auf der zweiten Seite steht: "Mein Leben und meine Erinnerungen sind verätzt von den Schwaden der Zerstörung. Auch diese Aufzeichnungen, selbst dort, wo es sich um freundlichere, beglückende Erlebnisse handelt, deren man sich tröstlich erinnert, sind durchtränkt von bitteren Erfahrungen, unersetzlichen Verlusten und Abschieden, freiwilligen und ungewollten, zwei Weltkriegen."

Schwaden der Zerstörung

Ein Mann blickt zurück auf ein Jahrhundert. Sein Jahrhundert. Er erinnert sich an den Klang der Militärstiefel des Vaters im Flur des Elternhauses während des Ersten Weltkriegs, 1915 war das. Der strenge Vater, der als Frontkämpfer ausgezeichnet wurde und der dann, wie so viele andere deutsche Juden, später dachte, dass die Nazis ihn ja wohl nicht meinen, wenn sie von Volksfeinden sprechen, von Verrätern des Deutschtums. Der nicht fliehen wollte aus Deutschland, auch als die tödliche Gefahr ganz offenbar geworden war, den der Sohn dann doch zur Flucht überreden konnte, gemeinsam mit seiner Mutter. Zur Flucht nach Holland, wo Hans Keilson selbst seit 1936 lebt. Seine Flucht war gut vorbereitet. Jetzt, hier auf dem Sofa, erzählt er von ihr so: "Ich studierte in Berlin mit verschiedenen Leutchen Medizin, unter anderem mit einem Herrn Katz. Er wohnte bei seinen Eltern in Neukölln. Dann lernte ich meine erste Frau kennen, und wir besuchten den Herrn Katz. Sagte seine Mutter: ,Wenn ihr nach Holland geht - in Bussum wohnt meine Schwester.' Da sind wir hingegangen, sie hat uns sehr geholfen, wir sind hiergeblieben." Ein Leben, erzählt als Sekundenroman. - "Wir sind hiergeblieben."

Die Eltern blieben nicht. Sie wurden von den deutschen Besatzern deportiert und in Auschwitz ermordet. "Sie wollten nicht in den Untergrund. Sie waren alt, sprachen kein Niederländisch. Ich konnte nichts mehr für sie tun." Es ist der Schmerz seines Lebens. Er hat seine Eltern nicht beschützen, nicht vor dem Tod bewahren können. Seine Schwester, die nach Palästina geflohen war, hat ihm das später vorgeworfen. Wenn sie dagewesen wäre, in Holland, hätte sie ihre Eltern gerettet, hat sie zu ihrem Bruder gesagt.

In seinem neuen Buch ist das die bitterste Passage, wenn er sich daran erinnert, an diese Worte seiner Schwester. Er kommt im Gespräch selbst darauf zu sprechen, sagt: "Meine Schwester habe ich ja nicht sehr vornehm behandelt", und gibt einem recht, wenn man sagt, dass ja weite Teile seines Werkes geschrieben wurden, um den Hass zu besiegen, um noch den ärgsten Feind zu verstehen, sich dem ärgsten Feind anzunähern, wie er es vor allem in seinem Roman "Tod des Widersachers" beschrieben hat. Und dass den Leser also diese Passagen der Unversöhnlichkeit mit der eigenen Schwester in der Heftigkeit überraschen. Er sagt: "Ich glaube, dass Sie recht haben. Aber ich hab's geschrieben und ich hab's stehenlassen. Denn dass ich meine Eltern nicht retten konnte, ist für mich ein lebenslängliches Trauma. Selbst wenn ich hier mit Ihnen sitze, ist die Trauer nie verschwunden. Das wusste sie. Und das verzeih' ich ihr nicht. Das ist irreparabel. Verzeihen - das wäre ein Stück Lyrik, die hab' ich nicht mehr."

Keilson hat nach dem Kriege vor allem als Psychoanalytiker gearbeitet, hatte seine Praxis hier im Haus. Das Schild steht noch vor der Tür im Garten, an der Klingel steht, dass Patienten zweimal läuten sollen. Bis vor vier Jahren hat er noch Patienten behandelt. Traumatisierte vor allem. Den größten Raum in seinem Arbeitsleben nahm die Beschäftigung mit traumatisierten jüdischen Waisenkindern ein. Seine Dissertation, die aus dieser Beschäftigung hervorging, ist ihm bis heute sein wichtigstes Buch. Patienten von einst kommen noch immer zu seinen Lesungen. "Für mich ist das eine Bestätigung, dass ich richtig gelebt habe", sagt er.

Und natürlich hängt das für ihn zusammen, Psychoanalyse und Literatur. Im Gespräch mit Heinrich Detering, das sein neues Buch beschließt, hat Keilson gesagt: "Die Einsicht, dass man alles erzählen muss - dass dich das krank macht, was du verschweigst, was du auf deine Feinde projizierst -, diese Einsicht war Freuds große Leistung. Das ist meine Wahrheit. Sie hat auch etwas mit meinem literarischen Schreiben zu tun."

Schreiben gegen das Schweigen, schreiben gegen den Hass, gegen den Vergeltungswillen. Das ist die Botschaft des Hans Keilson. Hass ist selbstvernichtend. "Meinen Sie, dass das in Deutschland verstanden wird?", fragt er hoffnungsfroh und zweifelnd dort auf seinem Sofa, bei schwarzem Tee und Keksen. Und fügt hinzu: "Es wäre schön, wenn mir das gelungen wäre." Und dann sagt er noch, was für ihn das Schreiben ist, das Geheimnis des Schreibens, das Glück dabei: "Schreiben, das ist für mich eine andere Möglichkeit spazieren zu gehen, in der Welt."

Lieber im Auge als im Herzen

Draußen ist ein grauer Tag, gelbe Forsythienblüten leuchten durch das Fenster. Hans Keilson sieht nur noch sehr schlecht, bei Regenwetter geht es besser. Also ist heute ein guter Tag zum Sehen. Er hat einen Thrombus hinter dem rechten Auge, sagt er, mit dem sehe er gar nichts mehr. Wenn man darüber nun aber sein Bedauern ausdrückt, entgegnet er gleich: "Ach, lieber im Auge als im Herzen." Das ist die Keilsonsche Sicht auf die Welt. Ich sehe fast nichts mehr? Ja, aber gut, dass mein Herz noch schlägt.

"Ich lebe gern", sagt er und denkt doch viel und häufig an den Tod. Er sagt, dass er sich auf dem jüdischen Friedhof der Stadt, neben seiner ersten Frau, die vor vierzig Jahren starb, beerdigen lassen wird. Im neuen Buch steht, dass jeder Mensch den Tod in sich identifizieren müsse. "Ja", sagt er, "der Tod spielt im Leben eine große, wenig beneidenswerte Rolle." Und die Frage "Welcher Tod spielt in deinem Leben eine Rolle?", die solle man sich früh stellen. Sehr früh.

Er selbst hat sie sich früh gestellt, sie hat ihn begleitet ein Leben lang. Jetzt schaut er allem, was kommt, beinahe interessiert entgegen. So scheint es.

Mehrmals, an diesem Nachmittag in Bussum, zitiert er eigene Gedichte, unendlich langsam, dunkel und genau. Eines, es heißt "Dawidy", endet so: "Verwaist, was bleibt: als wäre er nie gewesen, mein Vater - / hieß Max, trug später den verordneten Namen Israel, / mit Würde. / Hat nicht viel erzählt, hab ihn zu wenig befragt. / Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte - / sprachloser Himmel . . ."

Hans Keilson hat wunderbare Gedichte geschrieben. Einige hat er immer wieder überarbeitet, hat sie um und um gedichtet. Die Gedichte über seinen Vater vor allem - ein Leben lang. Keilsons Werk ist nicht sehr umfangreich. Die Werkausgabe, die vor einiger Zeit erschien, umfasst tausend Seiten. Sein letzter Roman ist 1959 erschienen. Was hat ihn einst zum Schreiben gebracht? Es gibt einen wunderbaren Text von Hans Keilson über Klaus Mann, den Generationsgenossen, den er selbst ein paar Mal aus der Ferne sah. Er habe ihm die Welt der Literatur erschlossen. Zunächst als literarische Figur, wenig verhüllt als Bert, der Sohn des Professor Cornelius in Thomas Manns Erzählung "Unordnung und frühes Leid", in der der Vater erkennt, "dass möglicherweise ein Dichter in ihm steckt". Keilson war begeistert, "es klang, als wären alle Berts in der Welt gemeint". Klaus wurde Dichter, und Keilson tat es ihm nach. Er schreibt: "Es bedurfte des zeitgenössischen Erlebens, um die Brücke zu schlagen zu uns selbst."

Heute ist Hans Keilson diese Brücke. Ein Ermutiger, in seinem Leben, seinem Schreiben. Eine Brücke, hinüber in die große Zeit jüdischen Lebens und Schreibens in Deutschland. Natürlich ist das das große Geheimnis seines Erfolges in aller Welt. Sein Triumph. Wenn man es ihm sagt, lächelt er. "Ja, ich kann es selbst kaum fassen. Ein kleiner Junge aus Bad Freienwalde. Ja."

VOLKER WEIDERMANN

Hans Keilson: "Da steht mein Haus. Erinnerungen". S. Fischer, 130 Seiten, 16,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2011

Gebleicht im Strom der Zeit
Die Erinnerungen des Arztes und Schriftstellers Hans Keilson gehören zu den wichtigen Büchern deutscher Juden
Es ist ein schmales Buch, in dem ein langes Leben enthalten ist. Es trägt Verse als Motto, wie sie früher in Deutschland in die Wäsche eingestickt waren oder gerahmt an den Kleiderschränken hingen: „Geblüht im Sommerwinde, / gebleicht auf grüner Au, / liegt weiß es jetzt im Spinde / als Stolz der deutschen Frau.“ Der Spruch hat hier eine Überschrift, die er an den Kleiderschränken nicht hatte: „Als ich Deutschland verließ.“ Der Titel des schmalen Buches „Da steht mein Haus“ meint das Haus in Holland, in dem der Verfasser seit über einem halben Jahrhundert lebt. Inzwischen ist er 101 Jahre alt.
Hans Keilson, 1909 in Bad Freienwalde an der Oder geboren, hat als deutscher Jude das von den Nationalsozialisten beherrschte Deutschland 1936 verlassen. Da war er bereits ausgebildeter Mediziner und staatlich geprüfter Turn-, Sport- und Schwimmlehrer, hatte an jüdischen Schulen in Berlin und im Landschulheim Caputh unterrichtet. Und er hatte 1933, gefördert von dem bedeutenden Lektor und Lyriker Oskar Loerke, im Fischer Verlag den Roman „Das Leben geht weiter“ veröffentlicht.
Im niederländischen Exil, in dem er nach der Besetzung durch die Deutschen zeitweilig in den Untergrund ging, setzte er beides fort: Er kümmerte sich um jüdische Kinder, und er begann 1942 den Roman „Der Tod des Widersachers“ zu schreiben, der erstmals 1959 erschien. Das Buch war eine Frucht des tiefen Eintauchens in die Erfahrung der Shoa, hervorgegangen aus den therapeutischen Sitzungen Keilsons mit traumatisierten jüdischen Kindern der Opfer.
Ein Schriftsteller, der sich durch einen Brotberuf finanziert, wollte er nie sein. Seine Arbeit als Arzt und Psychoanalytiker hat er der Literatur immer übergeordnet, seine psychoanalytische Praxis hat er erst vor fünf Jahren aufgegeben. Aus den Nebenstunden ist dieses Buch seit 1990 hervorgegangen, in gelegentlichen Notizen, bis die Augen schwächer wurden, dann als Diktat; beides wurde weggelegt, fast vergessen und erst wieder hervorgezogen, als der Autor aus seiner Nebenrolle unübersehbar hervorgetreten war: durch die 2005 bei S. Fischer erschienene zweibändige Werkausgabe und durch den großen Erfolg seiner Erzählung „Komödie in Moll“ und seines Romans „Der Tod des Widersachers“ in den Vereinigten Staaten im Herbst 2010.
Kommen wir auf das Motto zurück, das dem Leser nicht mehr aus dem Sinn geht. Es zeigt eine deutsche Landschaft so, wie sie von den Deutschen in einen Haushaltsspruch hineingemalt wurde, der das Lob der Reinheit singt. In anderen Büchern könnte das wie Ironie wirken. Hier nicht. Hier ist der Spruch von Spind und Stolz eine Verlustanzeige, in der die Aufeinanderfolge von „geblüht“ und „gebleicht“, obwohl sie doch ins strahlende Weiß münden soll, eine dunkle Färbung erhält.
„Die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist, kann man nicht hassen.“ In Sätzen wie diesen ist der erfahrene alte Psychoanalytiker anwesend, der diese Erinnerungen verfasst hat. Aber er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Er schreibt über seine Kindheit und sein Heranwachsen, über die Lebensalter, in denen Sigmund Freud zufolge zurückkehren muss, wer das Ich verstehen will, zu dem er geworden ist. Aber er räumt dabei der Terminologie seiner Zunft nur eine Nebenrolle ein. Und eine Hauptrolle der Einsicht: „Es sind nicht nur die Erlebnisse und Schrecknisse der Kinderstube – es ist das Zeitalter, das mein Leben geprägt hat.“
Aus 22 knappen Kapiteln, die manchmal nur eine Seite umfassen, besteht dieses Erinnerungsbuch. Die Form der großen, in epischem Bogen ein ganzes Jahrhundert umspannenden Autobiographie schlägt es souverän aus. Und gewinnt stattdessen durch seine Neigung zum Aussparen, Andeuten und Verdichten eine Prägnanz, die ganz aus der einzelnen Episode, dem scharf umrissenen Erinnerungsbild hervorgeht: der Oderlandschaft um Bad Freienwalde mit dem Schlittschuhfahren im Winter, den Doktorspielen der Kindheit oder dem zufälligen Blick, den der Junge auf die Brüste der halb entkleideten Mutter erhascht, Szenen in der Schule oder der Synagoge.
Nie geht die Kinderlandschaft verloren, und nie war sie eine Idylle. Von beginn an liegen über ihr die Drohungen des Zeitalters, das hier besichtigt wird. Im Rückblick zeigen sich die Vorboten der Vertreibung und Vernichtung schon im Bad Freienwalde des 17. Jahrhunderts. Bereits in den frühen 1920er Jahren, im Umkreis des Hitler-Putsches, macht der junge Hans Keilson seine ersten Begegnungen mit dem Antisemitismus.
Der Vater, aus Ostpreußen stammend, ein liberaler Mann, beherrscht die hebräischen Gebetsformeln kaum noch, seine orthodox erzogene Frau, die aus Schlesien, aus dem Riesengebirge kommt, muss ihm aufhelfen. Und langsam, während Hans Keilson eine Schlüsselszene erzählt, in der ihn die Schüler für Jahre in den „Klassenschiß“ tun, weil er Heines Gedicht „Die schlesischen Weber“ zur Rezitation und Interpretation ausgewählt hat, begreift man, warum das Motto des schmalen Buches an alte deutsche Wäscheschränke erinnert. Es gehört zur „Kaddisch“-Seite dieser Erinnerungen, zum Gedenken an die Eltern, die beide aus der Welt der Textilkaufleute kamen und in Birkenau ermordet wurden.
Die andere Seite ist das Ankommen des Autors in Holland, das Annehmen des Exils als „Heimat in der Fremde“. Das Ganze gehört in seiner schlichten, ruhigen Sprachgestalt zu den großen Erinnerungsbüchern deutscher Juden, die der Vernichtung entkamen. Es wird dankenswerterweise ergänzt durch Essays und Interviews, die in die Praxis des Psychoanalytikers Hans Keilson hineinführen – und in seine Biographie.
LOTHAR MÜLLER
HANS KEILSON: Da steht mein Haus. Erinnerungen. Herausgegeben von Heinrich Detering. Mit einem Gespräch zwischen Hans Keilson und dem Herausgeber. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 143 Seiten, 16,95 Euro.
HANS KEILSON: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel. Essays, Reden, Gespräche. Herausgegeben von Heinrich Detering. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 168 Seiten, 9,99 Euro .
Nie geht die Kinderlandschaft
verloren, nie war sie eine Idylle
„Ich bin kein großer Trompeter gewesen, aber die Holton-Trompete hatte einen wunderschönen, warmen und auch lauten Klang, der an Silversterabenden den Sportpalast in Berlin füllte. Ich spielte auf allen großen Bällen der Reichshauptstadt. Wir spielten auch in einem der kleineren, gemütlichen Säle der Krolloper. Wir übten wöchentlich zwei bis drei Stunden an einem Abend in einer Grunewald-Villa.“
Hans Keilson, ca. 1930
Foto: Privatarchiv
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Rezensent Lothar Müller von Hans Keilsons Erinnerungen "Da steht mein Haus". Der inzwischen 101 Jahre alte Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller, der 1936 emigrieren musste und seitdem in den Niederlanden lebt, verzichtet in den 22 kurzen Kapiteln der Erinnerungen laut Müller "souverän" auf jede epische Breite, um stattdessen auszusparen, anzudeuten und zu verdichten. Damit gewinnt das Buch für Müller eine hohe Prägnanz, die in Episoden, Erinnerungsbildern und Schlüsselszenen aus der Kindheit greifbar wird. Die Kinderlandschaft geht Keilson nie verloren, erscheint aber auch nie als Idylle, wird sie doch von Beginn von den "Drohungen des Zeitalters" überschattet. Müllers Fazit: ein Werk, das in seiner "schlichten, ruhigen Sprachgestalt" zu den bedeutendsten Erinnerungsbüchern deutscher Juden zählt.

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