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Brandbomben auf Köln, brennende Nachbarhäuser, und Mutter Helene sagt zum sechsjährigen Sohn: Schau es dir genau an! Und es gab viel zu schauen: erst Herrsching am Ammersee, wohin die Familie flieht, dann das vom Bombenkrieg völlig vernichtete Düren. Aber Kühn belässt es nicht beim Beobachten und Schreiben, er mischt mit: Macht Wahlkampf auf dem platten Land, gründet einen deutsch-türkischen Verein, ist Schöffe am Jugendgericht und Betreuer eines Strafgefangenen, arbeitet in der Drogenhilfe und in einer Gentechnik-Kommission. Zum ersten Mal erzählt der Mann, der in seinen Büchern von so vielen…mehr

Produktbeschreibung
Brandbomben auf Köln, brennende Nachbarhäuser, und Mutter Helene sagt zum sechsjährigen Sohn: Schau es dir genau an! Und es gab viel zu schauen: erst Herrsching am Ammersee, wohin die Familie flieht, dann das vom Bombenkrieg völlig vernichtete Düren. Aber Kühn belässt es nicht beim Beobachten und Schreiben, er mischt mit: Macht Wahlkampf auf dem platten Land, gründet einen deutsch-türkischen Verein, ist Schöffe am Jugendgericht und Betreuer eines Strafgefangenen, arbeitet in der Drogenhilfe und in einer Gentechnik-Kommission. Zum ersten Mal erzählt der Mann, der in seinen Büchern von so vielen bedeutenden historischen Persönlichkeiten erzählt, von sich selbst und seiner Zeit - auf eine Weise, die jede konventionelle Autobiographik sprengt. Und die das Lebensbuch des Dieter Kühn zu unserem eigenen macht.

"Je mehr Grün das Magische Auge unseres alten Radios zeigte, desto besser war der Empfang. Jetzt ist Erinnerung auf Empfang gestellt. Das Magische Auge leuchtet."
Dieter Kühn
Autorenporträt
Dieter Kühn, geboren 1935 in Köln, starb im Juli 2015 in Brühl. Für seine Biographien, Romane, Erzählungen, Hörspiele und hoch gerühmten Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen (das 'Mittelalter-Quartett') erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und zuletzt die Carl-Zuckmayer-Medaille. Zu seinen Werken gehören große Biographien (über Clara
Schumann, Maria Sibylla Merian, Gertrud Kolmar sowie sein berühmtes Buch über Oswald von Wolkenstein), Romane ('Geheimagent Marlowe'), historisch-biographische Studien ('Schillers Schreibtisch in Buchenwald') und Erzählungsbände ('Ich war Hitlers Schutzengel'). Zuletzt erschienen die beiden autobiographischen Bände 'Das Magische Auge' und 'Die siebte Woge'.

Literaturpreise:

u.a.:
Hermann-Hesse-Preis
Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
Nominiert für den Deutschen Bücherpreis 2002
Carl-Zuckmayer-Medaille 2014
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2013

Stampft mein Werk ein
Dieter Kühns Lebensbilanz "Das magische Auge"

Wer die Lektüre von "Das magische Auge" durchstehen will, muss sich auf einen Marathonlauf einstellen. Das autobiographische Mammutwerk schöpft aus einem riesigen Reservoir von Lebensstoffen, Erinnerungen, Assoziationen, die wie Treibgut im Bewusstsein des Autors anschwemmen. Hier folgt Dieter Kühns Schreiben dem Leitbild einer "symbiotischen Autobiographie", die sich dem Gesetz der Chronologie verweigert und der Diskontinuität Rechnung trägt, mit der Erinnerungen wiederauftauchen.

Dennoch sind zunächst einige biographische Daten festzuhalten. Der 1935 in Köln geborene Sohn eines im Bankfach arbeitenden Vaters und einer Mutter, die einer Familie mit jüdischem Einschlag entstammte, begann seine literarische Laufbahn mit Hörspielen in jener Zeit, als in den Rundfunkanstalten Experimente mit der Form überwogen. Von seinem Großonkel Friedrich von der Leyen, dem germanistischen Mediävisten, von dessen völkisch-nationaler und sogar antisemitischer Frühzeit Kühn erst durch Karl Otto Conradys Untersuchung erfuhr, "erbte" er wohl ein besonderes Interesse für das Mittelalter. So wurden seine Biographie eines Sängers, "Ich Wolkenstein" (1977), seine Rahmenbiographie "Herr Neithart" (1981) und seine Übersetzungen von Gottfried von Straßburgs "Tristan und Isolde" (1991) und des "Parzival" von Wolfram von Eschenbach" (1994) zu durchschlagenden Erfolgen. Seiner Bonner Doktorarbeit über Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" und dessen "Möglichkeitssinn" verdankt Kühn wohl die Anregung zu Alternativentwürfen der Biographie Napoleons in "N" (1970).

Den Gedanken der virtuellen Geschichte nimmt Kühn in seinem "Lebensbuch" wieder auf mit der Frage: "Verkürzte de Gaulle den Krieg?" Schon bei Herodot ließen sich Vorformen eine "virtuellen" Geschichtsschreibung entdecken. Unter dem Stichwort "Heinsberg" imaginiert Kühn eine alternative Biographie, durch die er zwar sich ähnlich, aber nicht mehr mit sich identisch geblieben wäre.

Andererseits bleibt Kühn auf dem Boden realer Vorgänge seiner lebensgeschichtlichen und schriftstellerischen Entwicklung. Als eine kopernikanische Lesewende hat er den ersten Band von Hans Benders und Walter Höllerers "Akzenten" erlebt. Für sein Leben prägend geblieben ist seine Freundschaft mit Heinrich Böll. Realpolitisch wirksam zu werden, versuchte er während seiner Zeit in Düren als Stadtverordneter. In die Klause eines Poeten der Innerlichkeit hat sich Kühn nie zurückgezogen.

Zu den Versuchen, neue Formen autobiographischen Schreibens zu entwickeln, gehört auch Kühns Rückgriff auf das System der "Ars magna combinatoria", mit dem sich der spanische Höfling und Troubadour Ramón Llull um 1300 neue Einsichten in die Ordnung der von Gott geschaffenen Welt verschaffen wollte. An die Stelle dieses chiffrenreichen Systems setzt Kühn nun eine dem eigenen Bedürfnis entsprechende Spielart: "Statt theologischem Kosmos ein Ich-Containment". Dieses neue System kann hier in seiner ganzen Kompliziertheit nicht erläutert werden - es ist ohnehin zu ambitiös.

Halten wir uns besser an drei ausgewählte "Sequenzen" (so Kühns eigener Begriff) in diesem "Lebensbuch", zunächst an die Sequenz "Sphären und Galaxien". Bei seinen Studien zum Mittelalter und seinen Vorarbeiten zur Übertragung mittelalterlicher Dichtungen in ein poetisches Neuhochdeutsch stieß Kühn auch auf die Gestalt Hermanns von Reichenau. Der Sohn eines schwäbischen Adligen ist bekannt geworden unter dem Namen "Hermann der Lahme". Der Schwerbehinderte wurde zu einem berühmten Mathematiker, Astronomen und Musiker. Noch dachte man sich die Erde überwölbt von Kristallschalen, an denen jeweils ein Planet fixiert war, die Fixsterne an der äußersten Hohlkugel - der Platz darüber blieb Gott vorbehalten. Da er die harmonische und "übersichtliche Ordnung im Raum von Sonne und Planeten" verbürgte, war Gott zugleich der Große Musiker ("archimusicus").

Unter den Gelehrten, die unsere heutige Astronomie repräsentieren, sieht Kühn einen Leidensgenossen Hermanns des Lahmen, den schwerstbehinderten Stephen Hawking, den Erforscher der "Schwarzen Löcher". Heute ließen die leistungsfähigsten Teleskope vermuten, "dass es Milliarden von Galaxien gibt" und dass sich der Weltraum, vom Punkt des Urknalls weg, "ständig erweitert mit rasenden Geschwindigkeiten". "Wo bleibt da Gott?", fragt Kühn. Wird er "mit hinausgerissen von den zentrifugalen Kräften? Ein Deus fugitivus?" Überrollt vom Ansturm immer neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, resigniert Kühn: "Heimisch fühle ich mich in diesem Weltraum nicht, eher: wie ausgesetzt. Meine zwei Quadratmeter Haut; ja, noch immer; die Pfirsichhaut der Atmosphäre (mit Ozonlöchern): ja, noch immer, doch weiter draußen, rundherum: Todeskälte."

Die zweite eindringliche Sequenz in Kühns "Lebensbuch" ist das Protokoll des Sterbens seiner Mutter Helene. Kühn beschreibt das allmähliche Hindämmern der Kranken, die Versuche, an ihrem Tumor vorbeizureden, die zunehmenden Phasen der Sprachlosigkeit, aber auch des Zärtlichkeitsbedürfnisses, die aufs Nicken und die Blicksprache eingeschränkte Verständigung, das Anwachsen des "Niemandslands". Der Beobachter versucht die entstehende Leere mit Erinnerungen aufzufüllen. Aber ihm erscheint die Welt der Mutter inzwischen wie eine Scheibe, von deren Rändern immer größere Schollen abbrechen, die ins Bodenlose sinken. Ihm drängt sich das Bild vom alles verschlingenden Schwarzen Loch auf. Das alles ist beschrieben mit fast wissenschaftlicher Kühle, in der gleichwohl ein starkes Gefühl pulst, mit einer Mischung aus Unbestechlichkeit und Dezenz, wie sie uns in der Literatur des letzten Jahrzehnts noch nicht begegnet ist.

Zu einer eigenen Sequenz fügt sich auch der Bericht Kühns über sein Verhältnis zu Siegfried Unseld. Er wirft zumindest ein Schlaglicht auf die Geschichte des Suhrkamp Verlags. Bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre wünschte sich Unseld eine Frankfurter Poetikvorlesung von Kühn. Im Wintersemester 1992/93 hielt er dann mehrere Vorlesungen zu seinem Lebensbuch-Projekt. Unseld drängte auf den Abdruck der Vorlesungen in der "edition suhrkamp", Kühn winkte fürs Erste ab. Sein späteres Angebot, dem Verlag einen Band mit Erzählungen zu überlassen, wies Unseld zurück. Schlimmer: Er ließ alle im Suhrkamp Verlag erschienenen Bücher Kühns sperren und blieb auch in den nachfolgenden Verhandlungen unbeugsam. Der Bruch blieb unheilbar. Worauf man sich verständigte, war das Einstampfen aller Bestände.

Die Vorgänge sind im "Lebensbuch" aus Kühns Sicht dargestellt; selbstverständlich müsste man sie auch an Unselds Aufzeichnungen zum Fall überprüfen. Exemplarisch aber bleibt die Auseinandersetzung: Sie zeigt, welche Verluste das Machtbewusstsein eines Verlegers und der Selbstbehauptungswille eines Autors in Kauf zu nehmen bereit sein können. Oder sollte man sagen: wie unversöhnlich der eine Michael Kohlhaas dem anderen gegenüberstehen kann?

Der Leser, der sich durch die mehr als 1270 Seiten geschlagen hat, fühlt sich wie nach einem bestandenen Härtetest. In der Familiengeschichte mütterlicherseits mag er angesichts der vielen Namen manchmal den Überblick verloren haben, und mitunter mag ihm der Autor mit seiner Agilität wie ein Hansdampf in allen Gassen des literarischen und des öffentlichen Lebens erschienen sein. Aber nie hat die Faszination nachgelassen. Der Leser ist zum Mitbeobachter einer individuellen und doch sehr zeitgenössischen Lebenswelt geworden. Dieses Buch lässt etwas vom großen Atem der Epen spüren.

WALTER HINCK

Dieter Kühn: "Das magische Auge". Mein Lebensbuch.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 1274 S., geb., 30,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Hans-Herbert Räkel ist dieser Autor ein virtuoser Amateur, der der Erinnerung oder der Wirklichkeit immer wieder grandios auf die Sprünge hilft. Dem Rezensenten ist es gleich, ob Dieter Kühn tatsächlich mit dem Schiff bis nach Grönland oder nur bis Brest gelangt. Wichtig ist doch, dass er vom Nordlicht so wunderbar zu erzählen vermag. Wunderbar ordnungsmäßig ordnungslos auch, wenn Kühn die Erinnerungschronologie immer wieder mit Einwürfen unterbricht, bis eine neue Ordung entsteht, wie Räkel amüsiert feststellt. Als Anrufung der Wirklichkeit und ihrer möglichen Alternativen macht die Behandlung des autobiografischen Stoffes in diesem Buch für Räkel erst so richtig Sinn.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2014

Olga hält den Würfel warm
„Das magische Auge“ ist das dickste Buch, das Dieter Kühn je geschrieben hat – er sucht darin nach einer neuen Form des autobiografischen Schreibens
Dieter Kühn ist 1935 in Köln geboren, er hat seine Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit zuerst dort und dann fern vom Bombenkrieg in Herrsching am Ammersee verbracht, das Abitur in Düren absolviert, Germanistik und Anglistik in Freiburg, München, Bonn und in den USA studiert und 1964 mit einer Dissertation über Musil promoviert. Bekannt wurde er als Hörspielautor. Seine Romane und Biografien faszinieren nicht nur durch die lebendige Evokation ihrer Umwelt, sondern auch durch die Einbeziehung „eventualhistorischer“ Alternativen: seine Biografie Napoleons („N“, 1970) beschreibt nicht nur, was geschehen ist, sondern auch, was hätte geschehen können.
  Und was hat er alles unternommen, wenn er nicht am Schreibtisch saß: „Ich gab eine Zeitschrift heraus . . . half mit, einen deutsch-türkischen Verein zu gründen . . . war Wahlkampfleiter einer Partei auf dem platten Land . . . galt als Sozialbetreuer der evangelischen Gemeinde . . . war zwei Jahre lang Stadtverordneter . . . Schöffe am Jugendgericht . . . arbeitete mit in einer Gentechnik-Kommission . . . .“
Aber das Wichtigste im Leben eines Schriftstellers sind ja wohl seine Werke. In seinem jüngsten Buch nimmt Kühn sich vor, „eine neue Form des autobiographischen Schreibens zu entwickeln – um mir damit näher zu kommen.“ Diese „Expedition von mir zu mir selber“ beginnt mit einem „Vorspiel“: die Mutter, nachts vor dem mit einem „Plaid“ abgedeckten Radioapparat, hört, im fahl-grünen Licht des „magischen Auges“, einen verbotenen Sender. Es ist nicht die früheste Erinnerung des Kindes, aber sie ist im Selbstbewusstsein des Erinnernden wie im Buch gesättigt mit Bedeutung. Zur direkten physischen Bedrohung durch den Bombenkrieg kommt ja hinzu, dass die Familie mütterlicherseits einen jüdischen Namen trägt.
  Die frühkindlichen Erinnerungen sind ein Modell für die Behandlung des autobiografischen Stoffs in diesem Lebensbuch. Denn zwangsläufig zielt die Erinnerungsarbeit über die eigene Erinnerung hinaus. Zur Selbstfindung gehört die Entdeckung, bei Ereignissen gefehlt zu haben, diebestimmend in unser Leben eingegriffen haben. Darum hilft Kühn nicht nur der eigenen Erinnerung auf die Sprünge, sondern engagiert Stellvertreter-Erinnerungen: „Die Perspektive des Kriegskapitels muss erweitert werden”, notiert er und zitiert ausführlich aus der Notiz einer Tante über deren Flucht aus Schlesien. Zum Bombenkrieg kann er seine Frau Gisela berichten lassen: „Was ich nicht erleben musste, hat Gisela in Düren erlitten.“ Da ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch die wissenschaftlich-historische Aufarbeitung der Vergangenheit in das eigene Lebensbuch einzubeziehen: „Ich muss Zitate einrücken . . . Ich konsultiere Martin Rüther: Köln im Zweiten Weltkrieg“. Aber nun drehen wir uns im Kreise, denn die Historiker zitieren ihrerseits wieder solche privaten Zeugnisse von Augenzeugen und Opfern, die dabei gewesen sind – wie Dieter Kühn selber, als seine Mutter ihm das brennende Nachbarhaus zeigte und sagte: „Schau genau hin!“
Auf dem Wege „von mir zu mir“ bleibt freilich die eigene Erinnerung die unbestrittene Hauptquelle, wie immer sie korrigiert, interpretiert, erweitert werden kann. Und sie behält ihrer Natur nach etwas Inkommensurables: „Vergangenes fällt mir nie zeitlich geordnet ein, immer nur isoliert. ... also wäre bruchlos durchgeführte Chronologie ein nachträglich produziertes Ordnungsmuster.“ Der moderne Schriftsteller ist sich einen gewissen Abscheu vor der Ordnung, einen „Horror ordinis“ schuldig, und es ist spannend, zu beobachten, wie Dieter Kühn auf dem Wege zu sich selber alles nur Erdenkliche probiert, um den gefürchteten „Ordnungsmustern“ ein Schnippchen zu schlagen. Wenn die Erinnerungen gar zu kontinuierlich fließen, stoppt er sie mit Einwürfen wie „Perspektivwechsel“, „Kontrastprogramm“, „neuer Ansatz“, „ein Bruch. Wird nicht zugekleistert“. Denn: „Was mir im Kopf querschießt, soll auch schon mal in diesem Buch querschießen. Nur so komme ich mir näher.“
  Nicht erst seit Sigmund Freud ist freilich bekannt, dass gerade das, was im Kopf querschießt, Ordnungsmustern folgt, die nicht nachträglich, sondern vorträglich produziert sind. Genau das scheint der Autobiograf zu befürchten und greift tief in den Fundus seiner Kenntnis des Mittelalters: Nach dem Vorbild des Raimundus Lullus lässt er sich einen Apparat aus fünf Scheiben bauen, auf deren Sektoren verschiedene ausgewählte Lebensbereiche notiert sind (Reisen, Bilder, Musik, Freunde, Werke). Kombination und Reihenfolge der Episoden werden erwürfelt. Zwar erwartet Kühn von dieser Maschine keine transzendenten Botschaften, aber er glaubt doch fest daran, dass er auf diese Weise „dem Ich-Gefühl mitspielt“. Ein wenig stolz lässt er sich mit seinem Episoden-Generator auf dem Rückumschlag des Lebensbuchs ablichten: „ . . . und „Olga hält den Würfel warm!”“Bei Dieter Kühn bekommt der Zufall einen Heiligenschein.
  Kann denn das Leben die Form diktieren? Mit einer großen asketischen Geste bekennt Dieter Kühn sich zum „bewussten und betonten Verzicht auf ästhetisierende Harmonie als kohärenzstiftende Größe“. Wurmt es ihn, wenn wir sein Buch gegen den Strich lesen? Wenn wir den Hasen auf der Wortheide gar nicht aus den Augen verlieren, wie wild er auch Haken schlägt (so hatte einst Gottfried von Straßburg den unübertrefflichen Wolfram von Eschenbach ironisiert)? Der wunderbare Titel„Das magische Auge“steht – Menetekel oder Talisman? – am Anfang seines bewussten Lebens, aber auch am Anfang des Buches, er ist nicht erwürfelt, sondern ein exemplarisches Motiv im Geiste des poetischen Realismus: Die Wirklichkeit lädt sich mit Bedeutung auf – wie Theodor Fontanes unschuldiges „mit canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell“ im Hof der Familie Briest, Effis Grab.
  Das magische Auge „leuchtet, leuchtet nach, grünintensiv, vor allem wenn Erinnerung auf den Empfang solch eines Sendeimpulses justiert ist.“ Es verbindet sich schließlich mit jenem Projekt, mit dem der Autor Dieter Kühn die Wirklichkeit so erfolgreich wie anregend mit ihren nicht realisierten Möglichkeiten konfrontiert. Der letzte Abschnitt berichtet über seine Reise mit dem Forschungsschiffs „Polarstern” im Jahr 2003. In der Wirklichkeit verlässt der Chronist das Schiff in Brest, aber nun fängt die Reise für ihn und für uns Leser erst an – bis er an der Ostküste Grönlands das Nordlicht sieht: „lautlos flackert es auf, grün, oft grün, meist grün wie das Grün des magischen Auges. . .“.
  Das Leben schreibt kein Buch. Es ist dem Dichter vorbehalten, trotz böser Vorsätze und vieler Durststrecken den ästhetischen Bogen „von mir zu mir selber“, also von der ersten zur letzten Seite des Lebensbuchs zu schlagen. Damit bleibt er, wenn auch widerwillig, sich selber treu, der virtuose Amateur.
HANS-HERBERT RÄKEL
Dieter Kühn: Das magische Auge. Mein Lebensbuch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 1280 Seiten, 30 Euro.
Kühn hat sein Buch mithilfe einer
Zufallsmaschine geschaffen
Dieter Kühn hat Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ und Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ übertragen und mit Ludwig Harig den Band „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“ (1974) herausgegeben.
Foto: Regina Schmeken
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Mit seinem Lebensbuch hat Kühn uns ein Geschenk gemacht, wie wir es nur ganz selten von einem Autor erwarten können. Wolf Scheller Nürnberger Nachrichten 20131119