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Gertrud Kolmar, geboren 1894 in Berlin, ermordet 1943 in Auschwitz, führte die deutschsprachige Lyrik zu einem Höhepunkt und dies in einer Zeit, die rings um sie herum den Befehlston des Dritten Reichs lernte. In Berlin und im Osthavelland lebte sie an der Seite ihres Vaters, eines Staranwalts der wilhelminischen Epoche. Selbst als Zwangsarbeiterin setzte sie noch ihre literarische Arbeit fort und hinterließ Gedichte im weiten Spektrum zwischen sanfter Naturlyrik und aufwühlender Innerlichkeit: Gedichte, in denen wir uns auch heute finden.
Dieter Kühns große, vielstimmige Biographie der
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Produktbeschreibung
Gertrud Kolmar, geboren 1894 in Berlin, ermordet 1943 in Auschwitz, führte die deutschsprachige Lyrik zu einem Höhepunkt und dies in einer Zeit, die rings um sie herum den Befehlston des Dritten Reichs lernte. In Berlin und im Osthavelland lebte sie an der Seite ihres Vaters, eines Staranwalts der wilhelminischen Epoche. Selbst als Zwangsarbeiterin setzte sie noch ihre literarische Arbeit fort und hinterließ Gedichte im weiten Spektrum zwischen sanfter Naturlyrik und aufwühlender Innerlichkeit: Gedichte, in denen wir uns auch heute finden.

Dieter Kühns große, vielstimmige Biographie der Gertrud Kolmar erzählt die Geschichte einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und ihrer jüdischen Familie, die in die ganze Welt emigrieren musste. Präsent wird die literarische und politische Szene das weite Panorama der Zeit.
Autorenporträt
Dieter Kühn, geboren 1935, war freier Schriftsteller. Für seine Romane, Biographien, Erzählungen, Kinderbücher, Hör- und Schauspiele ausgezeichnet u. a. mit dem Hermann Hesse-Preis und dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war Stadtschreiber von Bergen-Enkheim und Mainz. 2013 wurde Dieter Kühn mit der Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz geehrt. Dieter Kühn verstarb im Juli 2015 in Brühl bei Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008

Engel der Geschichten

Dieter Kühn hat eine Biographie Gertrud Kolmars geschrieben - und vergisst über dem Schicksal der Jüdin die große Dichterin.

Von Ulla Hahn

Gertrud Kolmar: eine bedeutende Stimme im lyrischen Kanon des zwanzigsten Jahrhunderts. Seit 1955 das lyrische Werk der Kolmar vorliegt, kann man dies wissen, spätestens aber seit der dreibändigen kommentierten Gedichtausgabe Regina Nörtemanns von 2003 und dem ausgezeichneten Marbacher Magazin zur Ausstellung im Schiller Archiv, bereits 1993 ausgerichtet von Kolmars Nachlassverwalterin Johanna Woltmann. Diese profunde Kennerin des Werks edierte zudem die Briefe und schrieb die erste gültige Biographie der Dichterin.

Nun legt Dieter Kühn, der sich vor allem mit prallen Lebensbildern mittelalterlicher Dichter einen Namen gemacht hat, eine weitere Biographie vor: 600 Seiten über eine Dichterin, die in ihrer Zeit fast unsichtbar war, sichtbar nur in ihrem Werk geblieben ist. Was erwartete ich von so einem umfangreichen Buch? Ich hoffte, die Entwicklung der Kolmar klarer zu sehen, ihr Beginnen, ihr Reifen, auch ihr Scheitern; wollte erfahren, was ihrer Entfaltung entgegenkam, sie behinderte. Erwartete Dichterin und Dichtung im Mittelpunkt.

Denn Dieter Kühn will eine "polyphone Biographie" schreiben. Und so arbeitet er mit der Hypothese, dass Gertrud Kolmar eine Lebensgeschichte wohl nur hätte "gutheißen können im Rahmen einer Geschichte ihrer Familie". Dieser Konjunktiv führt den Autor in vielfache Mutmaßungen und Assoziationen, die nicht nur die Kolmar selbst betreffen, sondern auch Familienmitglieder. Er reflektiert die Bruchstückhaftigkeit seiner Kenntnisse, überbrückt sie durch fiktive Briefe, stellt Collagen her aus Forschungsergebnissen und Berichten von Zeitzeugen, ergänzt Lücken im Lebenslauf der Dichterin mit Abschnitten aus ähnlichen Lebensläufen von Zeitgenossen, dergestalt ihren Lebenslauf "vervollständigend"; oder er schreibt ihn um, indem er fragt: Was wäre gewesen, wenn? Ein ehrgeiziges und problematisches Unterfangen, in dem die Dichterin fast zu verschwinden droht.

1894 geboren, stammt Gertrud Chodziesner aus einer gutbürgerlichen assimilierten und säkularisierten jüdischen Familie. Ein Drama verändert ihr Leben: Nach dem Abitur besucht sie eine Landfrauenschule, verliebt sich in einen Offizier - und wird schwanger. Es ist zwar verdienstvoll, dass Kühn auf den immer problematischen Kurzschluss von Werk und Dichterleben verzichten will. Doch wenn er grübelt: "Der Komplex Offizier-Schwangerschaft-Abtreibung bleibt ein gordischer Knoten", darf man doch wohl die eindeutige Sprache von Kolmars Gedichten auch als Hinweis nutzen, zumal Kühn selbst feststellt, dass das "ungeborene, das verhinderte Kind" im lyrischen Werk "wieder und wieder artikuliert wird". "In meinem Schoße ruht ein Beil" ist in diesem Zusammenhang eines ihrer radikalsten Bilder. Zudem lässt ein Brief der Schwester Hilde von 1964, dokumentiert im Marbacher Magazin, keinen Zweifel: Bei dem ausgeprägten Pflichtgefühl und Traditionsbewusstsein der Eltern "durfte sie ihnen solches nie antun, und das war der Grund, warum sie kein uneheliches Kind bekam".

Im Ersten Weltkrieg arbeitet Gertrud Kolmar als Briefzensorin in einem Gefangenenlager, ab August 1919 in verschiedenen Familien als Erzieherin. 1923 ziehen die Eltern nach Finkenkrug am Rande Berlins. Einzig ein Sprachkurs in Frankreich und eine Erzieherstelle in Hamburg unterbrechen ihr Berliner Leben. Sie ist 32 Jahre alt, als sie ihre Stellung aufgibt, um bis zu deren Tod die Pflege der Mutter zu übernehmen, mit Köchin und Dienstmädchen den Haushalt zu führen. Hier in der ländlichen Abgeschiedenheit klagt sie zwar über ihr "Einsiedlerleben", findet aber endlich Ruhe und schreibt ihre großen Gedichtzyklen und den Roman "Die jüdische Mutter". Auf Empfehlung Ina Seidels kann sie 1934 noch einen Teil des Zyklus "Das Preußische Wappenbuch" veröffentlichen.

Gertrud Kolmar ist auf dem Weg, ganz zu sich als Dichterin zu finden - da wird Hitler Reichskanzler. Zwischen August und Oktober 1933 entsteht ein weiterer Zyklus "Das Wort der Stummen", dessen Überlieferung wir Hilde Benjamin, der Schwägerin Walter Benjamins, zu verdanken haben - derselben Frau übrigens, die später unter Ulbricht als Justizministerin berüchtigt wurde. Kühn vermutet wohl zu Recht, dass Gertrud Kolmar von Walter Benjamin, der ihr Schreiben kritisch und anerkennend begleitete, um Haftbedingungen und Folterungen in den NS-Lagern wusste. Doch bis 1938 bieten ihr Haus und Garten in Finkenkrug noch eine Rückzugsmöglichkeit, noch kann sie persönliche und politische Welten voneinander trennen. Und noch einmal erlebt sie eine Liebe. Karl Josef Keller, Chemiker von Beruf und, so Kühn, "NS-Lyriker", hat im Insel-Almanach auf das Jahr 1930 zwei Gedichte Gertrud Kolmars gelesen und ihr daraufhin bewundernd geschrieben. 1934 treffen sie sich in Hamburg. Briefe werden bis 1939 gewechselt. In dieser Zeit schreibt Gertrud Kolmar ihre reifsten und schönsten Liebesgedichte, in denen die gewohnte Reimstrophe aufgegeben wird zugunsten weitschwingender freier Verse.

Mit Hitlers Machtergreifung aber erliegt Dieter Kühn der Versuchung, die "polyphone" Biographie nicht nur als Familien-, sondern auch als Zeitgeschichte zu schreiben, als eine Geschichte der Judenvernichtung im Dritten Reich. Nahezu fünfhundert Seiten nehmen die letzten zehn Lebensjahre der Dichterin ein. Für die Zeit von 1938 bis 1943 stehen ihm ihre Briefe an die Schwester Hilde, die 1938 mit ihrer Tochter in die Schweiz emigriert war, zur Verfügung. Sie lassen sich auch als Zeugnis lesen für die zahllosen Opfer, deren Spur sich verloren hat. Vieles erfahren wir über den immer unerträglicher werdenden Alltag der Dichterin, die mit ihrem Vater in eine Wohnung in Schöneberg umziehen und diese untervermieten muss, also keine ruhige Minute mehr hat. Dennoch findet sie die Kraft zu schreiben.

Herzzerreißend ist zu lesen, wie alle Anstrengungen der inzwischen emigrierten Familienmitglieder scheitern, Gertrud und ihren Vater zur Ausreise zu bewegen. Der aber, folgt man einem allerdings von Kühn wiederum fingierten Brief, ergibt sich in sein Schicksal. 1941 wird er nach Theresienstadt verschleppt und sie zur Zwangsarbeit verpflichtet, zuletzt in einer Munitionsfabrik, wo sie einem viel jüngeren Mann näherkommt.

Doch bei Kühn ist ihre Stimme, besonders in dieser Zeit, nur eine von vielen. Das Schicksal der Jüdin steht nun im Vordergrund, nicht die Dichterin. Das, was der Autor vermeiden wollte, Gertrud Kolmar vorrangig als jüdische Dichterin zu betrachten, genau das wird zur Gefahr dieser Biographie. Gertrud Kolmar, die Dichterin, teilt als Jüdin das Schicksal ihres jüdischen Volkes, aber ihre Größe als Dichterin wurzelt nicht in diesem Schicksal, sondern in ihrer deutschen Sprache.

Bei Kühn jedoch fehlt der Versuch einer Einordnung der Dichterin in die Literaturgeschichte, ihr Verhältnis zur Tradition und zu den Zeitgenossen bleibt unklar. Verweise, gar eine Auswahl der doch inzwischen recht umfangreichen und fundierten Sekundärliteratur fehlen. Und "eigentlich", wie Kühn im Anhang einräumt, "gehört ein Bildteil in eine Biographie". Er fehlt mit der Begründung, es gebe zu wenig Material. Doch schwerer wiegt: Warum fehlt eine Bio-Bibliographie der Kolmar? Fehlt, wenn es schon keine Anmerkungen zum Nachvollzug der Zitate gibt, ein Personen- und Stichwortverzeichnis?

Und Gertrud Kolmar, die Dichterin? Im Laufe einer sogenannten Fabrikaktion wird Gertrud Sara Chodziesner am 27. Februar 1943 verhaftet und nach Auschwitz transportiert. Am 3. März 1951 heißt es in der Todeserklärung des Standesamtes Berlin-Schöneberg: "Gertrud Chodziesner, ohne Beruf, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit . . . ist für tot erklärt worden." Ohne Beruf? Für tot erklärt? Die einzige Antwort: Gertrud Kolmar lesen - vor allem ihre Gedichte.

Dieter Kühn: "Gertrud Kolmar". Leben und Werk, Zeit und Tod. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 621 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Um mit Gertrud Kolmar bekannt zu werden, empfiehlt die Rezensentin, das Werk zu lesen. Die satten 600 Seiten von Dieter Kühns Biografie gehen laut Ulla Hahn in ihrem Anspruch, polyphone Lebensgeschichte als Familien- beziehungsweise Zeitgeschichte zu schreiben, am eigentlichen Wunschziel, nämlich Kolmars Entwicklung sichtbar werden zu lassen, vorbei. Um so mehr, als Hahn das Fragmentarische von Kühns Kenntnissen trotz aller von diesem erdachten Einschübe und Collagen nicht entgeht. Das "Was wäre gewesen, wenn?" des Autors hält Hahn für keine geeignete Fragestellung, um sich Kolmar zu nähern. Und so "herzzerreißend" die Lektüre ihr wird, wenn Kühn den Alltag im Dritten Reich beschreibt, so fragwürdig und letztlich gegen den eigentlichen Willen des Autors gerichtet erscheint ihr der Kurzschluss von Werk und Dichterleben, hier also: die Betrachtung Kolmars vorrangig als jüdische Dichterin. Dass Kühn eine Einordnung der Dichterin in die Literaturgeschichte und die Tradition vermissen lässt und keine Angaben zu Sekundärtexten macht, noch dem Band eine Bio-Bibliografie, ein Personen- oder ein Stichwortregister gönnt, kann Hahn beim besten Willen nicht verstehen.

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