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Was ist das Nichts? Und was ist Schöpfung? Was ist das Böse? Und was die Seele?
Der Ich-Erzähler des neuen Romans von Ernst-Wilhelm Händler ist ein besessener Träumer: als Leiter eines Leipziger Werks für Elektrotechnik unterhält er ein hochgeheimes Labor zur Entwicklung intelligenter Roboter. Für seine radikale Vision einer menschlichen Schöpfung ist er bereit, alles Menschliche zu opfern: seine engsten Mitarbeiter, die er permanent überwachen lässt, seine Frau, die beiseite geschafft werden muss, als sie seine Kreise zu stören scheint, seine Tochter, die er aus seinem Leben verdrängt hat.…mehr

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Produktbeschreibung
Was ist das Nichts? Und was ist Schöpfung? Was ist das Böse? Und was die Seele?

Der Ich-Erzähler des neuen Romans von Ernst-Wilhelm Händler ist ein besessener Träumer: als Leiter eines Leipziger Werks für Elektrotechnik unterhält er ein hochgeheimes Labor zur Entwicklung intelligenter Roboter. Für seine radikale Vision einer menschlichen Schöpfung ist er bereit, alles Menschliche zu opfern: seine engsten Mitarbeiter, die er permanent überwachen lässt, seine Frau, die beiseite geschafft werden muss, als sie seine Kreise zu stören scheint, seine Tochter, die er aus seinem Leben verdrängt hat. Treibt ihn sein Traum in die kalte Einsamkeit des absoluten Bösen?
Autorenporträt
Ernst-Wilhelm Händler, 1953 geboren, lebt in Regensburg und München. Er ist Autor der Romane »Das Geld spricht«, »München«, »Der Überlebende«, »Welt aus Glas«, »Die Frau des Schriftstellers«, »Wenn wir sterben«, »Sturm«, »Fall« und »Kongress« sowie des Erzählungsbandes »Stadt mit Häusern«. Mit »Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument« und »Die Produktion von Gesellschaft« hat Ernst-Wilhelm Händler eigene Kulturtheorien vorgelegt. Darüber hinaus schreibt er Essays über ökonomische, gesellschaftliche und künstlerische Themen. Für seine von der Kritik hochgelobten Romane erhielt er den Erik-Reger-Preis, den Preis der SWR-Bestenliste, den Kulturpreis der Stadt Regensburg und den Hans-Erich-Nossack-Preis.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Gunter Irmler schätzt den Autor und früheren Geschäftsmann Ernst-Wilhelm Händler für seinen grimmigen Pessimismus, der auch in seinem neuen Roman zum Tragen kommt. In einer Mischung aus Parabel und Wirtschaftsthriller erzählt Händler von der "gezielte Liquidierung der Humanität" in den Managementetagen, umreißt Irmler die Handlung: Der Werksleiter eines internationalen Elektrotechnik-Konzerns hat sich auf den Bau eines intelligenten Roboters versteift und unterwirft diesem faustischen Projekt sein Leben, seine Familie und die Mitarbeiter seiner Firma. Schön kalt findet der Rezensent, wie Händler die "Sprache der Macht", die menschlichen Beziehungen und das destruktive Denken nachzeichnet. Allerdings gibt Irmler zu, dass sein Lesevergnügen doch etwas gelitten hat: Nicht durch die Exkurse in Philosophie, Betriebswirtschaft und Astronomie, sondern die gegen Ende hin immer unwahrscheinlichere Handlung des Romans.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2013

Wenn der Mensch nach der Maschine greift

Außer Kontrolle: Der neue Roman von Ernst-Wilhelm Händler beschreibt das Ende der Welt im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Man muss "Der Überlebende" lesen. Denn das Buch verändert unseren Blick auf die Welt.

Von Sandra Kegel

Früher haben die Götter über die Menschen geherrscht, heute ist es die Technik, die unser Schicksal bestimmt. Und an die Stelle der Willkür himmlischer Launen sind die Auswüchse der digitalen Revolution getreten. Die Maschinen schaffen sich längst ihre eigenen Gesetze und regieren in unsere Lebenswelt hinein: Unterwerfung durch Kontrolle, Macht durch klandestine Strukturen - dank Computer und Internet ist das heute leichter umzusetzen als je zuvor in der Geschichte. Unsere Welt ist zur tollkühnen Ansammlung von Kontrollprojekten geworden. Gibt es die perfekte Maschine? Und gehört sie zur Schöpfungsgeschichte? Was ist das Böse? Und wie kann man beweisen, dass man lebt und die Maschine nicht? Und gibt es eine Alternative zum Alter und zum Verfall - eine Weggabelung, an der sich der Mensch entschließen kann, eine andere Richtung einzuschlagen?

Beunruhigende Fragen wie diese verhandelt der neue Roman von Ernst-Wilhelm Händler. "Der Überlebende", der in diesen Tagen erscheint, spielt in einem weltweit agierenden Elektrotechnikkonzern in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der sogar der Flughafen "Berlin Brandenburg Willy Brandt" endlich fertiggestellt ist. Das auf speicherprogrammierbare Steuerungen spezialisierte Unternehmen D'Wolf herrscht nach dem Prinzip "Total recall": Mitarbeiter werden bei Konferenzen gefilmt, E-Mails mitgelesen, Körperscanner stehen an den Werkstoren.

Dieser zur totalen Transparenz verdonnerten Gesellschaft diametral entgegen steht das Geheimprojekt des Ich-Erzählers. Denn ohne das Wissen der amerikanischen Unternehmensleitung unterhält der Werksleiter in Leipzig ein Labor für lernfähige Industrieroboter. Sie sollen sich in menschenähnlichen Gruppen zum gemeinschaftlichen Lösen von Aufgaben zusammenfinden. Niemand weiß von der Parallelaktion dieser S-bots genannten Maschinen mit den rotierenden Greifarmen: "Es ist eine Art gesellschaftliches Experiment", erklärt der Erzähler, "das Experiment findet auf einem anderen Planeten statt. Ich lebe nicht in Leipzig. Ich lebe im Universum."

Um sein Laboratorium zu schützen, hat der Wissenschaftler eine weitere, geheime Überwachungsebene eingezogen. Sie erlaubt es ihm, ohne Wissen der anderen sämtliche Büros per Videokamera zu überwachen. Die Firma wird von Händler zum metaphorischen Erzählkosmos erklärt, und sein Held, der alles sieht und alles weiß, zum auktorialen Erzähler par excellence. Geheimnisse verleihen Macht. Aber Geheimnisse zu bewahren, so führt uns dieser Roman sinnfällig vor Augen, kostet Kraft. Vor allem diejenigen, "die damit zu tun haben, wer man ist".

"Der Überlebende" ist eine so faszinierende wie irritierende Lektüre. Händlers Anspruch, alles bedeutsam und komplex miteinander zu verknüpfen - Goethe und Gödel, Ovid und den Iron Mountain, Kleist, Foucaults "Überwachen und Strafen" und den Human-Sigma-Messwert, dieses Dickicht all der Diskurse und Anspielungen -, sprengt die erzählerische Dimension ein ums andere Mal auf. Doch der Weg durch die Textmaschine vorbei an technizistischen Begriffshürden wie Zykluszeit, Powerwolf, Chip-Rohlingen und Piezoantrieben lohnt sich unbedingt. Schon allein, weil diese in Anlehnung an Wittgensteins analytische Philosophie aufzeigen, wie sehr unsere Wirklichkeit ihre sprachliche Konstruktion und ihre Aneignung sich wechselseitig bedingen.

Den Romancier und Philosophen Händler, der früher selbst in Regensburg ein Familienunternehmen für Elektrotechnik leitete, ehe er es 2001 verkaufte, interessiert nichts weniger als realistische Literatur. Und doch gelingt es ihm auf unnachahmliche Weise, aus der Gegenwart der Gesellschaft heraus in dieser typisch kondensierten, grandios präzisen Sprache die Mechanismen von Märkten und Macht zu destillieren. "Die Grammatik der vollkommenen Klarheit" nennt er selbst seinen literarischen Ansatz, an den Schnittmengen von Literatur und Philosophie Erkenntnisse zu generieren. Tollkühn zwischen den Figuren aus Balzacs Menschlicher Komödie und der Systemtheorie Niklas Luhmanns wandelnd, in der es um Programme, Formen und Strukturen geht, bildet Händler die Welt der Wirtschaft und ihren eingeschriebenen Wahnsinn nicht nur ab. Vielmehr geht er das Wagnis ein, dieses Universum literarisch nachzubilden. Die Prinzipien einer ökonomischen Logik werden hier zum Narrativ. So wird die Struktur des Geheimnisses, mithin eine Schöpfung ohne Schöpfer, selbst zur Erzählstrategie. "Ich verberge", sagt der Erzähler, "ich verdecke, ich enthülle nur das, was ich preisgeben muss, um die Reaktion auszulösen, die ich erreichen will." Eindrucksvoll gelingt dies, wenn der Autor uns mit seinem dunklen Helden übergangslos in dessen Wunsch- und Angstsequenzen abgleiten lässt und dessen Bewusstsein fragmentiert.

"Unzählige Bücher schildern, wie jemand Dichter, Maler oder Komponist wird. Aber es gibt kein einziges, das beschreibt, wie aus jemandem ein Ingenieur wird." Der Satz an zentraler Stelle im Roman ist programmatisch. Und Händlers Techniker hat sogar eine Vision. Er will die Realität klonen, sie dann zerstören und schließlich durch eine "Doppelgängerin ohne Menschen" ersetzen: "Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden, sie muss verschwinden."

Dafür ist der Wissenschaftler bereit, alles zu opfern. Davon handelt der als Triptychon gebaute Roman, der sich durchaus als ein Prolog zu dem Film "Matrix" lesen lässt. Gleich dreimal legt der Erzähler darin Bekenntnis ab, indem er sich jenen Menschen erklärt, die ihm nahestanden und die er, wie es der Titel verheißt, überlebt. Zuerst beichtet er seiner Frau. Maren ist Teppichkünstlerin und webt die kostbarsten Gobelins. Mit Roland Barthes gesprochen, knüpft sie, "die Zeichen sind eindeutig", am Gewebe eines Textes, in den die unterschiedlichen Diskurse wie Fäden eingewoben werden. Maren leidet an TSP, einer tropischen spastischen Paraparese. Doch nicht die Krankheit bringt ihr schließlich den Tod, sondern falsche Medikamente, die ihr Mann gegen die richtigen ausgetauscht hat, um groteskerweise seine Roboter vor Entlarvung zu beschützen.

Im zweiten Teil berichtet der Erzähler an seinen Mitarbeiter Peter, einen Ziehsohn des Firmenchefs, der mehr ahnt, als dass er wüsste, was im Leipziger Werk vor sich geht. Auch an dem Aneurysma, das Peter während eines Boxkampf erleidet, ist der Erzähler nicht unschuldig. Das letzte Kapitel schließlich richtet sich an des Wissenschaftlers Tochter Greta, die bei D'Wolf in Amerika arbeitet. Dass auch sie ihrem Vater bei seinem faustischen Plan in die Quere kommt, bezahlt sie ebenso mit dem Leben wie die beiden anderen. Denn Menschen beharren bisweilen selbst dann auf ihre Autonomie, wenn diese nur noch im Selbstmord möglich ist. Die Paranoia des Erzählers führt derweil zur Hybris eines Prometheus: "Der Schöpfer ist der allein Existierende, alles andere Daseiende ist das Werk seines Willens und Wortes." Und doch ruft dauernd irgendein Controller aus Berlin an, dem er erklärend verschleiern muss, was gerade geschieht.

Ernst-Wilhelm Händler, der 1953 in München zur Welt kam, publizierte sein Debüt "Stadt mit Häusern" 1995. Dem Erzählband folgten hochgelobte Romane, darunter "Wenn wir sterben" (2002), der anhand der Frage, wie die Sphäre der Ökonomie auf das Bewusstsein einwirkt, luzide und komplex die unternehmerische Welt darstellt. Während die Roadnovel "Welt aus Glas" von 2009 zwei Egozentriker mit sich und dem kriselnden Kapitalismus ringen lässt, spielte "Die Frau des Schriftstellers" aus dem Jahr 2006 schon einmal die Kontrollfrage durch: Dieses Buch allein als Abhandlung über den Zynismus des Literaturbetriebs zu lesen wäre zu kurz gegriffen. Denn es ist - und dafür argumentiert er mit Gödels Unvollständigkeitstheorem - genauso eine Reflexion darüber, wer als bewusstes Individuum gelten darf.

Mit seinem Wiedergänger des Homo Faber hat Ernst-Wilhelm Händler nun seine wohl finsterste Figur geschaffen. Nicht nur, weil der sich auf den betriebswirtschaftlichen Zynismus ebenso versteht wie auf die pedantische Erbsenzählerei der Naturwissenschaft. Dass er gleichgültig Kollegen ins Messer laufen lässt und den Tod seiner Mitmenschen mitverursacht, erklärt sich aus einer mentalen Störung. Der Mann mit dem ergrauten Haar ist weder zu Empathie fähig noch zu Mitgefühl. Menschen kann er anhand ihrer Gesichter nicht erkennen. Und harmlose Gespräche über das Wetter oder die Kinder sind ihm unerträglich. Gerade in dieser autistischen Störung wird er zur bösen Karikatur der gefühllosen Maschinengeschöpfe, die er selbst geschaffen hat.

Diese Leipziger Homunkuli ihrerseits sind mit ihren lächerlichen Greifarmen und den ungeschickten Bewegungen nicht nur weit von jener Anmut entfernt, die etwa den mechanischen Puppen in Kleists "Marionettentheater" innewohnt. Sie sind auch labil und kapriziös wie eine umschwärmte Frau. Selbst einfachste Aufgaben, sich über eine unebene Fläche zu bewegen etwa oder eine Treppe zu erklimmen, gelingen ihnen nicht. Zuletzt erträgt der Erzähler den Anblick der Unvollkommenheit nicht länger und fackelt seine Roboter mit Hilfe eines Schweißbrenners ab. Der Ausbruch erinnert an Joker, Batmans manischen Gegenspieler, der mit ähnlichen Zerstörungsfeldzügen vor allem vorführen will, wie lächerlich es ist, Pläne zu machen und zu hoffen, dass sie aufgehen.

Es ist der Körper, an dem der Ingenieur schließlich scheitert. Weil der sich nicht gleichermaßen kontrollieren lässt wie ein technischer Parameter. Mit derselben passiven Widerständigkeit hatte sich einst Maren ihrem Mann entgegengestellt. Denn ein Werk wie ihre von Hand gefertigten Gobelins können die kleinen Monster mit den flexiblen Ärmchen niemals erzeugen. Wie sie überhaupt an der Aufgabe scheitern werden, jemals Kunst zu erschaffen. Da können Roboter noch so viele Autos zusammenbauen: einen Roman wie "Der Überlebende" wird kein technischer Apparat je hervorbringen. Wer ihn gelesen hat, wird umprogrammiert - und schaut mit anderen Augen auf die Welt.

Ernst-Wilhelm Händler: "Der Überlebende". Roman.

Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 320 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Wolf, Faust & Co.
In Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Der Überlebende“ ist der Berliner
Flughafen schon fertig – und der Anti-Held größenwahnsinnig
VON INA HARTWIG
Als Unternehmer, Philosoph und Schriftsteller nimmt der in diesem Jahr sechzigjährige Ernst-Wilhelm Händler eine Ausnahmeposition im deutschen Literaturbetrieb ein. Wenn er das Wirtschaftsleben und insbesondere die Managementlibido in seinen Romanen thematisiert, so hat das den Vorteil, dass er aus eigener Anschauung und Erfahrung schreibt. Die Anderen sind, aus seiner Sicht, oft die Naiven. So konnte sich Händler in einem überaus lesenswerten Essay über „Das Wissen der Ökonomie“ (Merkur, Nr. 753, Februar 2012) der Polemik nicht enthalten: „Nach der mehrheitlichen Überzeugung derjenigen, die man früher als Intellektuelle bezeichnet hätte, schädigt die Wirtschaft die Gesellschaft irreversibel.“
  Bei diesem postintellektuellen Spiel, will Händler sagen, ist er nicht dabei; im Chor der angesagten Kapitalismuskritik singt er nicht mit. Im Gegenzug fordert er: „Gleich, was von einer Regulierung des Wirtschaftsprozesses erwartet wird – sie sollte sich mindestens auf der Höhe des ökonomischen Diskurses bewegen.“ Ohne dass Namen fielen (dazu ist Händler viel zu höflich), darf man das als Spitze gegen den einen oder anderen Bestseller zum Thema verstehen. Aber auch wenn er sich aus dem allgemeinen Bedrohungsklischee wohltuend ausklinkt, befindet der Autor sich in einer gewissen Klemme. Die Frage stellt sich im Moment verschärft, was er, literarisch, den kitschanfälligen Erzählungen des Antikapitalismus entgegensetzen kann.
  In seinem neuen Roman „Der Überlebende“ steht im Zentrum des Geschehens eine weltweit agierende Firma namens D’Wolf (in dem vielgelobten Roman „Wenn wir sterben“ kam sie bereits vor), die spezialisiert ist auf Verkauf und Entwicklung modernster elektrotechnischer Hardware. In Philadelphia steht die Zentrale, in Kanada, China, Japan, Berlin, Medellín und Leipzig hat sie Niederlassungen. Der Erzählerheld, nein: ganz klar Antiheld, ist Direktor des zum Zeitpunkt des Romaneinstiegs soeben eröffneten Werks in Leipzig mit achthundert Mitarbeitern.
  Innerhalb dieses Werks jedoch betreibt er ein Geheimlabor, finanziert von unsichtbaren Quellen, das sowohl sein Lebensinhalt wird als auch zum Motor böser Kräfte mutiert, deren Entfaltung als das eigentliche Thema des Romans gelten muss. Dort, in jenem Geheimlabor, entwickelt der Erzähler, ein besessener Ingenieur und Tagträumer, sogenannte Swarm-Roboter, kleine, 25 Zentimenter hohe Kunstwesen, die bestimmte Aufgaben erfüllen sollen; Brücken bauen über Hindernisse, zum Beispiel. Irgendwann einmal sollen sie den Menschen die Arbeit abnehmen.
  In den über viele Seiten mit dem drögen Charme von Gebrauchsanleitungen skizzierten Experimenten geht es um Greifarme, Sensoren, eingebaute Kameras (statt Augen), ums Andocken des S-Bots an den Neben-Roboter; denn nur gemeinsam, eben als Schwarm, können sie sinnvoll eingesetzt werden. Wissen die Götter, warum der Erzähler sich so sehr für diese Dinger erwärmt! Sicher ist nur, dass er sich selbst oft genug als Schöpfergott fühlt. Zwischen Wahnsinn und Größenwahn schwankend verkündet er: „Ich lebe nicht in Leipzig, ich lebe im Universum.“ Vom bösen Wolf des deutschen Märchens über Faust und Mephistopheles: Mit seinen vielen Anspielungen ruft der Roman immer wieder „Achtung Parabel!“, dabei schrille, auch plumpe Töne nicht scheuend.
  Wir befinden uns zwischen Gegenwart und naher Zukunft. Der Flughafen Berlin-Brandenburg Willy Brandt ist längst fertiggestellt und wird von den zu wichtigen Meetings jettenden Führungskräften von D’Wolf eifrig frequentiert . Die Swarm-Roboterforschung scheint dem aktuellen Stand zu entsprechen. Und trotzdem stellt sich eine unbehagliche, futuristische Atmosphäre ein; nicht nur wegen der Totalüberwachungstechnik, durch die der paranoide Werksleiter seine engsten Mitarbeiter kontrolliert, einschließlich seines Ziehsohnes, den er verdächtigt, ihn auszuspionieren. Nicht nur wegen seiner regelmäßigen imaginären Ausflüge in die Unendlichkeit des Alls, die ein unheimliches Pendant bilden bilden den vielen Unfällen und Fastkatastrophen am Boden; nicht nur wegen der vagen, überhöhten und zugleich öden landschaftsentkoppelten Räume, sondern vor allem wegen der vorherrschenden seelischen Kälte.
  Treffend das Motto des Romans, ein Vers von Trakl: „Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“ Ein Fremdes ist die Seele auch unserem Roboter-Züchter, den Händler für eine seltsame Beichte (als Rahmenhandlung) erkoren hat: Denn dieses „Ich“ spricht zu seiner toten Frau Maren, einer Gobelin-Künstlerin, die an der Muskelschwäche ALS erkrankt war, an der sie womöglich nicht hätte sterben müssen, wenn nicht „Ich“ in ihren fein justierten Tablettenhaushalt eingegriffen hätte, nur um eine Begegnung zwischen Maren und einer Ingenieurin aus Philadelphia namens Cathleen Nebe zu verhindern.
  Hierzu muss man wissen, dass jene amerikanische Ingenieurin grünes Licht für das Geheimlabor gegeben hat; Cathleen Nebe finanziert es, ohne dass die Zentrale von D’Wolf davon Kenntnis hätte. Ein bisschen Psychothriller, ein bisschen Wirtschaftskrimi, ein bisschen Science fiction stecken in diesem mit schweren Zeichen überladenen Roman also auch drin. Und die feine Teppichweberei der hypersensiblen Maren soll offenkundig als Gegenschöpfung zur Überhebung des Roboterforschers über die Natur fungieren: alte Kunst versus neues Wissen, humanes versus posthumanes Subjekt. Nach Gefühlen, die den Namen Trauer verdienten, sucht man vergeblich.
  Auch wenn der Autor sich vehement dem psychologischen Realismus verweigert, muss man ihn trotzdem an den eigenen Vorgaben messen dürfen. Es ist ja nicht so, dass er die „Seele“ außen vor ließe, nur weil sein Antiheld in entscheidenden Situationen keine oder die falschen Gefühle zeigt. Als wichtige, ja entscheidende weibliche Figur kommt recht spät, zu spät für den ohnehin manchmal durchhängenden Spannungsbogen, Tochter Greta ins Spiel. Sie ist die interessanteste Figur des Romans, die einzige, deren Beziehung zum Erzähler eine nachvollziehbare Dynamik entfaltet. Etwas zwischen Vater und Tochter ist verdammt schief gelaufen. Warum die junge Frau aus den Gesprächen der Eltern verbannt wurde, warum sie auf der Beerdigung der Mutter fehlt, bleibt offen. Hingegen erfahren wir von Gretas steiler Karriere ausgerechnet bei D’Wolf; sie arbeitet allerdings nicht in Deutschland. Ihre Begabung zeigt sich früh, und der Vater fördert sie mit suggestiver Pädagogik. Besser gesagt, er manipuliert das kluge Kind, so wie er alle manipuliert.
  Während eines Ostsee-Urlaubs, der als Erinnerung über ihn hereinbricht, offenbart die Tochter ein ganz enormes physikalisch-mathematisches Vorstellungsvermögen. Aber was der Papa unterlässt, ist, sie zu loben. Seine Unfähigkeit, „sein Gegenüber zu erreichen“, wie es in einer Kapitelüberschrift heißt, erweist sich anhand Gretas als größter Sündenfall. Als es Jahre später zu einer Wiederbegegnung kommt, zeigt sich: Die depressiv gewordene Hochbegabte findet in sich selbst „NICHTS! NICHTS!! NICHTS!!! NICHTS!!!!“, wie sie ihrem Vater in einer langen, anklagenden Abschieds-SMS vorhalten wird. Bevor die junge Frau sich von einem Kran stürzt, hatte sie noch gesimst: „Du hast keine Seele!!“
  Maren tot, Greta tot; Cathleen Nebe, die göttliche Komplizin, plötzlich verschwunden und durch einen Nachfolger ersetzt, der aussieht wie sein eigener Klon: „Der Überlebende“, ein einsamer Mann. Aus seiner Kindheit erfahren wir nur Fetzen, etwa dass er Schmerzen empfand beim Haare- und Nägelschneiden, dass er sich für Rechenmaschinen begeisterte und nicht verstehen konnte, wenn andere dieses Interesse nicht teilten, oder dass er das Essen erst anfassen musste, ehe er es herunterwürgen konnte. Am Ende seiner kalten Konfession gesteht dieses misstrauische, fremdgesteuerte Ego: „Ich lüge. Ich bin zu Atrozitäten fähig.“
  Was die diabolische Hohlform dieses Romans nun mit der großen weiten Welt der Ökonomie zu tun hat, mit den fiesen Verhandlungstricks, dem gnadenlosem Wettbewerb und der totalen Inkorporation der Firma in die Familie: Darüber darf der Leser, darf die Leserin sich den Kopf allein zerbrechen. An Deutungsangeboten mangelt es nicht. Man wird sie entweder faszinierend finden oder absurd. Fest steht jedoch: Das Wissen der Ökonomie lässt sich mit fiktionsgestützten Spekulationen über die abgründige menschliche Natur nur schwer zur Deckung bringen.
Über das Wirtschaftsleben
schreibt dieser Autor aus eigener
Anschauung und Erfahrung
Etwas zwischen Vater
und Tochter Greta
ist verdammt schief gelaufen
  
  
  
  
  
Ernst-Wilhelm Händler:
Der Überlebende. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 319 Seiten, 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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'Der Überlebende' ist ein beeindruckendes literarisches Vexierspiel. Dirk Knipphals Deutschlandradio Kultur 20130415