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"Die Zeit ist müde geworden und verschlissen, und schon ist die neue zur Ablösung da und beschnuppert dich kurzsichtig mit gierigen Nüstern." Alan Tschertschessows Debütroman erzählt, wie Fremdheit zum Ferment von Veränderung wird. Aus der Erinnerung wechselnder Figuren entsteht die Geschichte des "Einsamen", eines selbstbewußten Außenseiters, der gegen die Despotie von Tradition und Gesellschaft aufbegehrt. Ein zehnjähriger Waisenjunge stiehlt ein gestohlenes Pferd zurück. Als die Bewohner des kaukasischen Gebirgsdorfes ihn dabei ertappen, ahnen sie noch nicht, daß der Junge mit dieser…mehr

Produktbeschreibung
"Die Zeit ist müde geworden und verschlissen, und schon ist die neue zur Ablösung da und beschnuppert dich kurzsichtig mit gierigen Nüstern." Alan Tschertschessows Debütroman erzählt, wie Fremdheit zum Ferment von Veränderung wird. Aus der Erinnerung wechselnder Figuren entsteht die Geschichte des "Einsamen", eines selbstbewußten Außenseiters, der gegen die Despotie von Tradition und Gesellschaft aufbegehrt.
Ein zehnjähriger Waisenjunge stiehlt ein gestohlenes Pferd zurück. Als die Bewohner des kaukasischen Gebirgsdorfes ihn dabei ertappen, ahnen sie noch nicht, daß der Junge mit dieser symbolischen Tat eine eigentümliche Position eingenommen hat: die des Fremden, der der Gemeinschaft den Spiegel vorhält und alle gültigen Wahrheiten in Frage stellt. Der Einsame richtet sich in einem verlassenen Haus ein, verschafft sich durch einen listigen Handel das tägliche Brot und eine rostige Flinte und erobert sich einen Platz auf dem Nihas, dem Versammlungsort der Ältesten. Und er verführt die Anwohner zu Neuem - zum Kartenspiel, zur Malerei, zum Geschäft, zu Ausflügen in
die russische Festung ... Seine Herausforderungen lösen Kettenreaktionen von Wetteifer und Geltungssucht aus. Als Heranwachsender versucht der Einsame, in die eskalierenden Ereignisse einzugreifen und Schicksal zu spielen. Doch damit scheitert er: Wie die Figur aus einer griechischen Tragödie kann er nur schuldlos schuldig werden.
Autorenporträt
Alan Tschertschessow, 1962 in Nordossetien in der ehemaligen UdSSR geboren, studierte Slawistik und Amerikanistik in Wladikawkas und in Moskau. Er lebt in Wladikawkas, wo er als Universitätsdozent, seit kurzem auch als Leiter eines internationalen Sprach- und Kulturzentrums tätig ist. Tschertschessow hat mehrere Erzählungen und Novellen veröffentlicht.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2000

Beinahe archaisch
Der erste Roman des Osseten Alan Tschertschessow
Da denkt einer, er sei Gott. Er glaubt das Schicksal in seiner Hand, entwirft Lebensläufe und Geschichten, die andere leben sollen. Doch er irrt sich, ständig kommt ihm etwas in die Quere und lenkt das Leben anders, als er denkt – der Zufall.
Von entworfenen Geschichten und dem Durchkreuzen dieser Entwürfe erzählt Requiem für einen Lebenden, der Romanerstling des ossetischen Schriftstellers Alan Tschertschessow. Ossetien liegt im Kaukasus, in einer Region, die zur Zeit der Romanhandlung, irgendwann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nur wenig Berührung mit der Zivilisation hatte. Anstelle von Institutionen und Technik herrschen in den Bergdörfern archaische Strukturen, der Ältestenrat und die Familie.
Eine intakte, von traditionellen Sitten und Gebräuchen geregelte Dorfgemeinschaft wird gestört, als eine Familie Gäste des Dorfes bestiehlt und damit die ursprüngliche Ordnung verletzt. Die ganze Familie flieht mit dem Diebesgut, und zurück bleibt nur ein Kind, ein Junge. Er ist namenlos, hat er doch das Recht auf einen Namen verloren, als seine Familie das Gesetz brach, und so wird er nur der Einsame genannt: „Schon damals nannten sie ihn den Einsamen, so hat es sich eingebürgert und den Namen verdrängt, den auch vorher kaum noch jemand wusste. Und wenn es mit dem Gewöhnlichen vorbei ist, dann braucht man auch den Namen nicht mehr eigens, Namen sind für die anderen, für die Normalen. ” Der Einsame ist nicht normal, er ist ungewöhnlich und auch unheimlich – er ist zu schlau, zu stolz, er siegt zu oft. Und dennoch scheitert er am Ende.
Von Anfang an gibt er sich als Herr; er ist unnahbar und, obwohl noch ein Kind, doch erwachsen. Er schmiedet Pläne, um die Leben der anderen in Bahnen zu lenken, die ihm richtig scheinen. Doch mehr als einmal zerstört der Zufall seine sorgfältige Planung. So bringt er jemanden ins Gefängnis, um einen anderen zu schützen, und hat dabei vor, den unschuldig Gefangenen noch rechtzeitig zu befreien. Dann aber findet die Gerichtsverhandlung früher als geplant statt, und der Unschuldige verbringt die nächsten acht Jahre in Sibirien: „Die Zeit hatte sich schon fast ein ganzes Jahr im voraus dem Plan des Einsamen widersetzt, und alles, was er jetzt noch hätte erreichen können, wäre gewesen, sie am äußersten Ende zu schnappen. Doch er wartete hartnäckig die Gerichtsverhandlung ab, hoffte folglich immer noch, seinen Plan zu retten und die unbotmäßige Zeit durch Geduld zu zähmen. ” Aber die Zeit zu überlisten gelingt ihm nicht. Oder er entführt eine ledige Schwachsinnige, die schwanger ist, und versteckt sie in einem Freudenhaus, damit ihr Vater sie nicht findet und aus Rache tötet. Dann aber stirbt die Schwachsinnige bei der Geburt, und auch die Zwillinge, die sie gebiert, werden nicht alt. Zufälle und Leidenschaften zerstören die Leben, die der Einsame plant.
Mit seiner Rückkehr zum Erzählen entspricht der Roman jenen Tendenzen neuerer Literatur, die sich von postmodernen Spielereien verabschiedet und zum Geschichtenerzählen zurückkehrt. Dabei greift Requiem für einen Lebenden auf die mündliche Erzählung zurück. Der ganze Roman ist in Form eines Gesprächs gehalten, mal als Dialog, mal als Monolog, wiedergegeben durch den Erzähler, der zur Zeit der ersten Ereignisse noch gar nicht geboren ist. Sein Großvater, sein Vater und sein Onkel erzählen ihm von Raffgier und Leidenschaft und von den fehlgeschlagenenen Versuchen des Einsamen, Gott zu spielen und die Harmonie wiederherzustellen. Dabei ist die mündliche Form sprunghaft, sie greift ständig vor und kehrt wieder um, so dass man sich bei der Lektüre in einer andauernden Spannung von Wissen und Nicht-Wissen, von Ahnungen und Rätseln befindet: „In diesen Jahren, sagte mein Onkel, lebten wir wie in einer Zwischenzeit zwischen dem, was war, und dem, was kam. Zwischen Erinnerungen und Vorahnungen. In diesen Jahren hatten wir ständig ein steckengebliebenes Gähnen im Hals. ” Von dieser Zwischenzeit erzählt der Roman, und mit dieser Zwischenzeit spielt das Erzählen, das wie ein „steckengebliebenes Gähnen im Hals” zwischen dem Früher und Später aufgespannt ist.
Die Fabel, der Erzählton und auch die Figuren – alte Männer, die in Rätseln sprechen; ein schönes junges Mädchen, das vom Felsen springt, um die Freiheit zu kosten; ein Mann, der heiratet, um einen Sohn zu bekommen, allein deshalb, damit er ihm seine Geschichte erzählen kann – versetzen in eine archaisch anmutende Zeit. Archaisch oder gar magisch ist auch das Vertrauen des Einsamen darin, Herr über das Schicksal zu sein. Für ihn sind Wort und Tat noch eins; die Ideen und Biographien, die er als Pläne entwirft, sollen zu Fleisch werden. Dass seine geistigen Entwürfe sich selbständig machen, ständig ausscheren und eigene Wege gehen, zeugt von dem Bruch zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Wort und Tat.
Alan Tschertschessow hat über amerikanische Unterhaltungsliteratur promoviert. Mit seinem Roman hat er eine eigene Variante dieser Gattung gefunden, die durch die Hypostasierung der Mündlichkeit quasi-archaisch, fast vor-literarisch wirkt. Keine Minute langweilt man sich bei der Lektüre, so sehr saugt einen der unruhige, ständig den Lauf wechselnde Erzählstrom auf. Annelore Nitschke hat diesen Strom in eine wunderbar passende Sprache übersetzt.
Und ob es stimmt, was hier erzählt wird? „Vielleicht verläuft auch alles ganz anders, vielleicht bin ich nur unfähig, es anders zu sehen, doch wenn es so ist, dann kann man auch nichts machen”, teilt uns der Erzähler mit. „Ihr habt keine Wahl, schöner als ich wird euch kaum einer die Geschichte erzählen. ”
SCHAMMA SCHAHADAT
ALAN TSCHERTSCHESSOW: Requiem für einen Lebenden. Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. S.  Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999. 383 Seiten, 44 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2000

Festplattengeflüster
Alan Tschertschessows "Requiem für einen Lebenden"

Wenn sich das Abgelebte mit dem Allerneuesten zusammentut, dann gebiert diese Verbindung nicht selten Ungeheuer. Die Erde ist voll von Potentaten, die in Vorurteilen gefangen sind und doch über moderne Vernichtungstechnologie gebieten. Aber auch wo es sich nicht so martialisch gibt, sondern demokratisch gezähmt erscheint, ist das Bündnis von Vor- und Postmoderne, von Hexenglaube und Cyberspace so bieder nicht, wie es sich gibt. Nirgendwo aber treffen Zukunft und Vorvergangenheit ähnlich konfliktträchtig aufeinander wie an den Rändern der großen Reiche, in den entlegenen Provinzen unserer Epoche.

Ein solcher Rand Europas, der unendlich ferne erscheint und in dem doch alle Errungenschaften und Krisen des Kontinents ihre Spuren hinterließen, ist die Republik Nordossetien, die aus der Konkursmasse der Sowjetunion stammt und, den Republiken Georgien, Inguschetien, Balkarien und Tschetschenien benachbart, rund 700 000 Menschen zu ihren Bürgern zählt. In der ossetischen Hauptstadt Wladikawkas lebt der 1962 geborene Alan Tschertschessow, der mit seinem ersten Roman internationales Aufsehen erregte. Das "Requiem für einen Lebenden" ist aus der prekären Verbindung von Mythos und Postmoderne entstanden. Tschertschessow ist in seinen formalen Mitteln ganz auf der Höhe der amerikanischen Zeit, aber was er erzählt, sind kaukasische Mythen. Dazu paßt, daß dieser Autor sich einerseits an der Erzähltradition seiner Heimat orientiert, andererseits aber über die angelsächsische Unterhaltungsliteratur promoviert hat. Tatsächlich hat man zuweilen den Eindruck, hier wolle einer mit dem Schreibprogramm seines Computers Runen auf die Festplatte zeichnen und das ununterbrochene Geraune vom Ältestenrat eines archaischen Dorfes als Datei bannen. Dieser Versuch ist durchaus heikel, wenn auch nicht ohne Reiz.

Wann die Geschichte spielt, wird so genau nicht gesagt, es könnte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sein, sich aber auch schon Generationen vorher zugetragen haben. "In diesen Jahren, sagte mein Onkel, lebten wir wie in einer Zwischenzeit zwischen dem, was war, und dem, was kam. Zwischen Erinnerungen und Vorahnungen." Ein Verbrechen ist geschehen, ein Diebstahl, der die Ordnung des Dorfes verletzt. Die Familie der Schande, die diese ungeheure Störung des gewohnten Lebens zu verantworten hat, mußte das Dorf verlassen, und bei ihrer überstürzten Flucht blieb ein Kind zurück, das wie ein Erwachsener auftritt, ein Ausgestoßener, der das Haupt stolz erhoben trägt, ein "Mannjunge", der Wunderliches begehrt und Wunderbares zuwege bringt, ein Namenloser, den alle nur "den Einsamen" nennen. Er ist erst zehn, und doch tritt er, "das Messer im Gürtel", in den "Nihas ein, den Versammlungsplatz der Sippenältesten".

Niemals wird jemand über ihn lachen, "weil seine Augen allen das Lachen verwehrt haben", unnahbar und herrisch, weiß er sich seinen Platz in der Dorfgemeinschaft zu erobern. Er gehört dazu und bleibt doch ein Fremder, der sich mit List und Tricks behauptet und bald mehr als nur sein tägliches Brot erwirbt. Doch dann glaubt er, Schicksal spielen und, halb Magier, halb Intrigant, die Lebensläufe der Dorfbewohner neu verweben zu können. Bringt er auch neue Moden ins Dorf, das Kartenspiel, die Malerei, so scheitert er doch beim Versuch, das dörfliche Leben selbst als Spiel neu zu bestimmen; was immer er plant, wird vom Zufall zunichte gemacht und hat fatale Folgen für die Menschen, denen er beizustehen meinte.

Das alles wird erzählerisch auf höchst merkwürdige Weise dargeboten. Einerseits wird Geschichte an Geschichte gefügt, so daß der Roman wie ein alle Tage fortgesetztes Gespräch endlos dahinzuziehen scheint; andererseits ist die Chronologie der Ereignisse aufgebrochen, verschiedene, im Tonfall ununterscheidbare Erzähler steuern mit Andeutungen auf Kommendes und Hinweisen auf bereits Geschehenes das Ihre zur Konfusion bei. Der eigentliche Erzähler muß sich fortwährend auf die Geschichten von Großvater, Vater und Onkel berufen, weil er selbst noch gar nicht auf der Welt war, als "der Einsame" antrat, Gott im Dorf zu spielen. Da der Roman suggeriert, eine mündliche Erzählung zu sein, fließen natürlich allerlei Versatzstücke des oralen Erzählens in den Text, Redewendungen, Prophezeiungen, Allgemeinplätze, Allerweltsweisheiten, Geschwätz, weitgehend leider mit dem Pathos von Rätsel und Bedeutsamkeit ausgestattet. Ob Tschertschessow einen Roman im Sinne hatte, der wie eine seiner Figuren "ein einarmiger Greis mit dem Körper eines Jünglings" ist? Jedenfalls könnte sein "Requiem für einen Lebenden" auch "Tanzlied für einen Toten" heißen und würde immer noch passen.

KARL-MARKUS GAUSS

Alan Tschertschessow: "Requiem für einen Lebenden". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1999. 383 S., 44,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwiespältig ist der Eindruck, den Karl-Markus Gauss von diesem Roman hat. Interessant sei er schon, der Versuch, (post)modernes Erzählen und nordossetische Dorfmythen zu verbinden - insgesamt erscheint dem Rezensenten das Ergebnis jedoch eher "merkwürdig". Verwirrend findet er die allzu vielen "ununterscheidbaren Erzähler". Auch werde die Suggestion des Mündlichen durch das "Pathos von Rätsel und Bedeutsamkeit" konterkariert.

© Perlentaucher Medien GmbH