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Es liegt Schnee in Kreuzberg. Tom Weinreich - gewohnheitsmäßiger Junggeselle, Müßiggänger, im Nebenberuf Fachmann für Personennahverkehr - geht am Landwehrkanal spazieren wie jeden Tag, immer denselben Weg, genau zwei Stunden lang. Dabei denkt er Spaziergangsgedanken, jeden Tag einen anderen. Seine größte Sorge ist, dass der Gedanke zu kurz ist für den Weg oder zu lang. Heute jedoch wird sein Gedanke von einer Fremden unterbrochen, die ihn anspricht. Tom weiß sofort: Sie ist die Seelenverwandte, auf die er schon längst nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er lädt sie zu sich ein, und bei…mehr

Produktbeschreibung
Es liegt Schnee in Kreuzberg. Tom Weinreich - gewohnheitsmäßiger Junggeselle, Müßiggänger, im Nebenberuf Fachmann für Personennahverkehr - geht am Landwehrkanal spazieren wie jeden Tag, immer denselben Weg, genau zwei Stunden lang. Dabei denkt er Spaziergangsgedanken, jeden Tag einen anderen. Seine größte Sorge ist, dass der Gedanke zu kurz ist für den Weg oder zu lang. Heute jedoch wird sein Gedanke von einer Fremden unterbrochen, die ihn anspricht. Tom weiß sofort: Sie ist die Seelenverwandte, auf die er schon längst nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er lädt sie zu sich ein, und bei Rotwein, Käse und Brot reden sie über alle Dinge, die das Leben wirklich ausmachen. Sie unterhalten sich den ganzen Tag und die ganze Nacht, über Bonn und Berlin, den Papst und den Zoo und den Friedhof in Kreuzberg, über Aufgeben, Aufstehen und Durchatmen, über ihre Besessenheiten und Merkwürdigkeiten, über Liebe und Glück. Und wie man sonst nur einem Traum verfällt, ergreift Mascha Besitz von TomsDenk en und Leben.
"Jetzt stillen wir unseren Hunger" ist ein Debüt, in dem es ums Ganze geht: Eine urkomische Tragödie für Leute, die beim Spazierengehen auf Ideen kommen und beim Essen reden, ein Buch für alle Philanthropen, die gerne Tschechow lesen und sich über die Absurditäten des Alltags freuen. Es ist ein böser und ungemein witziger Spaß, ein Traktat gegen Ärgerliches und für Gelassenheit und Hoffnung. Es ist die Erfindung eines Tages und einer langen Nacht mit dem großen verträumten Gespräch und der zärtlichen Liebesgeschichte von Tom und Mascha.
Autorenporträt
Prof. Dr. Christoph Bauer ist Professor an der HSBA Hamburg School of Business Administration. Prof. Dr. Jens-Eric von Düsterlho ist Professor an der HAW Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Nasse Teebeutel mit Pensionsanspruch
Christoph Bauers Debütroman über einen Berliner Tag in Seelenverwandtschaft / Von Martin Ebel

Rekursive Romane, also solche, die ihren Entstehungsprozeß spiegeln, treten in der jüngeren Literaturgeschichte nicht selten auf. Das berühmteste Beispiel, zugleich eines der ersten, ist Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit": Da verfolgen wir, wie der Ich-Erzähler seine Berufung zum Romancier erkennt, und der Roman, den er sich am Ende entschließt zu schreiben, ist der, den wir gerade gelesen haben.

Auch Christoph Bauers Debütroman "Jetzt stillen wir unseren Hunger" ist eine solche Rekursion, und da sowohl der Autor wie auch sein Held sich wissenschaftlich mit Informatik und Philosophie beschäftigt haben, darf ihr Buch diesen schweren Begriff auch unter dem Titel tragen. Der Bericht, den der Ich-Erzähler Tom in einer Nacht in zehn alte Schulhefte schreibt, ist nicht nur für Mascha bestimmt, die Zufallsbegegnung und Seelenverwandte, die jetzt im Nebenzimmer schläft. Dieser Bericht faßt auch aufs Haar genau den Gang der Ereignisse des Tages zusammen, der dieser Schreib-Nacht voranging. Tom will diesen Tag perfekt abbilden, eins zu eins, mit allem, was er, erst allein und später zusammen mit ihr, gedacht, gefühlt und gesagt hat: "Nichts darf verlorengehen, nichts darf übergangen werden."

So will es Mascha, so will es der Erzähler, so will es der Autor. Eine schlichte Replik des Vorgefallenen - das ist aber etwas anderes als eine Rekursion und schon gar nicht zu vergleichen mit dem Erkenntnissprung, der Prousts Marcel erst in der künstlerischen Aneignung begreifen läßt, wie es eigentlich gewesen ist: Indem er es gestaltet und verwandelt. Christoph Bauer beschreibt keinen Prozeß der Öffnung und Bereicherung, sondern eine konsequente Verengung, Verschließung und Vernichtung, und liefert damit einen bemerkenswerten Beitrag zur (noch zu schreibenden) Geschichte der literarischen Rückbezüglichkeit.

Aber von Anfang an! Da sieht es nach etwas ganz anderem aus: nach einem peripatetischen Roman. Ähnlich wie der Philosoph Aristoteles seine Lehre im Herumgehen entwickelte, so tut es Tom mit seinen Gedanken. Höchst systematisch und ökonomisch geht er dabei vor: Sein täglicher Spaziergang dauert genau zwei Stunden und führt immer dieselbe Strecke am Berliner Landwehrkanal entlang. Auch was dabei geistig zu geschehen hat, ist genau abgemessen und zugeteilt: Ein Gedanke darf es sein, nicht mehr und nicht weniger, der behandelt und zu einem guten Abschluß geführt werden muß.

Nicht jeder Gedanke eignet sich dazu. Nicht zu kurz und nicht zu lang, nicht zu simpel und nicht zu kompliziert darf er sein - sonst ist er mitten im Spaziergang zu Ende gedacht - oder aber am Ende desselben noch unvollendet: Beides verhagelt dem Erzähler den Tag. Weshalb die Auswahl des richtigen Gedankens die wichtigste, vielleicht die einzige Entscheidung von Bedeutung darstellt.

Dem Erzähler aber reicht es bald, die Berliner Straßen- und Friedhofslandschaft mit Selbstgesprächen zu rhythmisieren, und so tritt auf Seite 37, nach etlichen Ankündigungen, Mascha auf ihn zu, am Fraenkelufer, wortlos, aber mit einem Blick, der keinen Zweifel zuläßt: Sie sind füreinander bestimmt.

Die gewohnte Runde vollenden sie gemeinsam, und fortan ist alles anders. Wie ein romantisches Paar teilen Tom und Mascha das Universum sofort in "Wir" und "die Anderen", kennt ihr Gespräch nur zwei Sujets: den Gleichklang ihrer Seelen und die Unerträglichkeit aller übrigen. Zahllos sind die Entsprechungen und Ergänzungen, Parallelen und Konvergenzen, die ihnen auffallen. Tom verwandelt mit ihr sein Selbst - in ein echtes Zwiegespräch. Mascha will mit seiner Hilfe ihr "verlorengegangenes" Denken rekonstruieren.

Erfreut er sie mit den grotesk ausgemalten Episoden seiner Feldzüge gegen Hunde und Pfarrer, hat sie immerhin eine sarkastische Ehe- und eine melodramatische "Karlgeschichte" zu bieten. Erstere schildert die trostlose Kompromißgemeinschaft mit einem Bonner Ministerialbeamten, einem Kleinbürger, schlaff "wie ein ausgelaugter nasser Teebeutel", der ein "geräuschloses Schattendasein mit Pensionsanspruch" führt und den sie verlassen hat; die zweite ihre hoffnungslose Liebe zu einem erfolglosen Dramatiker, der sein Scheitern nicht ertragen und sich umgebracht hat.

Das ist Stoff genug, sich die eigene Vortrefflichkeit und die Nichtswürdigkeit der Restwelt wechselseitig zu bestätigen. Im Polemisieren sind sie beide groß, und Christoph Bauer segelt in diesen Passagen manchmal gefährlich nahe an der Thomas-Bernhard-Imitationsklippe entlang. Aber das Kopieren liegt ja so fern nicht, hat Mascha ihren Namen doch von einer Nebenfigur als Tschechows "Möwe", jener Mascha, die sich mit dem langweiligen Lehrer bescheidet, weil sie den geliebten Dramatiker nicht bekommt. "Ich habe mich bei Tschechow ausgeliehen", nennt sie selbst diese Art, ein uneigentliches Leben wenigstens literarisch zu autorisieren. Spiegelbildlich verlaufen auch die "Wissenschaftsverunmöglichung" und die "Feuilletonverunmöglichung" des jungen Paares. Toms Studien über das Bewußtsein waren nach zwei Jahrzehnten in Erkenntnisse gemündet, die sich in einem einzigen Satz ausdrücken lassen: "Bewußtsein ist ein fortwährender sprachlicher, rekursiver und dadurch dialogischer Prozeß der Selbstbeschreibung und also Selbsterzeugung, der in Bewußtsein, und dessen Abbruch in Tod oder Wahnsinn resultiert." Mächtig stolz ist Tom auf diesen Satz, dabei ist er nicht nur rekursiv, sondern tautolotisch und unfruchtbar, so unfruchtbar wie Maschas Theater- und Literaturkritiken, die mit immer radikalerer Geste alles zu Stümperei erklärten, was ihr unter die Feder kommt. Solche Kritiken will natürlich niemand mehr drucken.

Gemeinsam nehmen Tom und Mascha die Welt auseinander und setzen sich an ihre Stelle. Solch zweisamer Solipsismus ist eine hübsch romantische, auch pubertäre Angelegenheit, und gekonnt läßt Bauer in den Beschwörungen der "unwiderstehlichen Erotik des gemeinsam unternommenen geistigen Höhenflugs" den Stil peinlich-peinvoll abrutschen. Nichts ist spießiger als die Spießerschelte dieser beiden. Aber allzugroßes Verstehen, das weiß sogar Mascha, "ist, was Menschen betrifft, immer fruchtlos, und dazu ist es tödlich". Wohl wahr. So setzt Bauer die Dekonstruktion seiner Romanfiguren so konsequent fort, wie er ihre Konstellation angelegt hat.

"Ich habe dich mir in den Kopf gesetzt", hat Mascha an einer Stelle gesagt. Mit größerem Recht trifft der Satz auf Tom zu. Seine Mascha ist nichts anderes als die fleischgewordene Fortsetzung seines Selbstgesprächs, eine Kopfbewohnerin, nicht einmal eine Kopfgeburt. Lebt sie überhaupt? Das fragt sich nicht nur der Leser, sondern der Ich-Erzähler plötzlich selbst, als er nach der durchschriebenen Nacht am Ende seines Berichts angekommen ist, am Nullpunkt des Schreibens, aber auch des Lebens. Denn auf die Frage "Was machen wir morgen?" gibt es keine Antwort. Die Fixierung des Bildes läßt die Frage nach der Realität der Vorlage aufkommen.

Was, wenn Mascha verschwunden ist, wenn sie nicht nebenan liegt, nie dort gelegen hat? "Einbildung! Einbildung! alles nur Einbildung! rufe ich mir zu, aber es wird nur noch schlimmer, jetzt denke ich plötzlich, wenn ich mir einbilden kann, Mascha sei nicht da, dann kann ich mir durchaus auch Mascha selbst eingebildet haben, ja, dann muß ich sie mir eingebildet haben . . ." und bevor er im Nebenzimmer nachschauen kann, ist der Roman zu Ende.

Die Nachschrift eines "Herausgebers" verrät, warum: Dieser Roman hat seinen Erzähler verschlungen. Als dieser Herausgeber Wochen später in die Wohnung seines Freundes eindringt, findet er dort niemanden vor. Nur zehn Schulhefte, durchnumeriert und mit der Widmung "Für Mascha" versehen. Sie enthalten jenen Bericht, den wir gelesen haben. Eine totale Rekursion. Mit der Niederschrift ist die Realität gelöscht, mit der Kopie das Original vernichtet; jenes Original, das selbst ein Leben aus zweiter Hand war.

Aus erster Hand und erstklassig ist aber dieses Debüt Christoph Bauers. Es spielt virtuos und unaufdringlich mit klassischen und modernen Motiven, Stilen und Stereotypen. Es ist komisch und abgründig, sanft und böse und nirgendwo ganz zu fassen. Es ist intelligent - und macht sich darüber lustig. Es stillt den kleinen und den großen Hunger und läßt nach der Mahlzeit genügend Stoff zur geistigen Verdauung. Am besten eignet sich dazu ein ausgedehnter Spaziergang.

Christoph Bauer: "Jetzt stillen wir unseren Hunger". Eine Rekursion. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 288 S., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Martin Ebel verweist darauf, dass der Untertitel in Christoph Bauers Debüt irritiert. Eine Rekursion hat der Informatiker und Philosoph nicht geschrieben. Eher beschreibt er einen Prozess der Verengung, Verschließung und Vernichtung, meint der Rezensent. Eine Replik des Vorgefallenen, der kurzweiligen aber intensiven Beziehung zwischen Mascha und Tom. Jener beiden, die einander auf einem Spaziergang am Berliner Franklin-Ufer begegnen und meinen, füreinander bestimmt zu sein. Abgesehen davon, dass Bauer manchmal hart die Imitationsgrenze zu Thomas Bernhard streift, ist Ebel vollends begeistert. "Erstklassig" findet er das Romandebüt. Virtuos und unaufdringlich spiele der Autor mit klassischen und modernen Motiven, Stilen und Stereotypen. Und dazu habe er die geistige Mahlzeit mit Humor und Intelligenz gewürzt, meint Martin Ebel.

© Perlentaucher Medien GmbH"