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Pierre Guyotat vertritt eine literarische Extremposition, für die es kein Beispiel gibt. Sein zweites großes Erzählwerk »Eden, Eden, Eden« entstand 1970 und wurde sofort nach seiner Veröffentlichung als pornographisch verboten. Obwohl sich namhafte Intellektuelle für das Buch einsetzten, wurde der Bann erst 1981 unter Mitterrand wieder aufgehoben. In buchstäblich einem einzigen Satz entfaltet sich eine wüstenhafte, apokalyptische Kriegslandschaft irgendeines unbeendbaren Bürgerkriegs ohne jegliche Moral (und also auch ohne das Böse). Jede Handlung geht unter im Ineinanderfließen von…mehr

Produktbeschreibung
Pierre Guyotat vertritt eine literarische Extremposition, für die es kein Beispiel gibt. Sein zweites großes Erzählwerk »Eden, Eden, Eden« entstand 1970 und wurde sofort nach seiner Veröffentlichung als pornographisch verboten. Obwohl sich namhafte Intellektuelle für das Buch einsetzten, wurde der Bann erst 1981 unter Mitterrand wieder aufgehoben. In buchstäblich einem einzigen Satz entfaltet sich eine wüstenhafte, apokalyptische Kriegslandschaft irgendeines unbeendbaren Bürgerkriegs ohne jegliche Moral (und also auch ohne das Böse). Jede Handlung geht unter im Ineinanderfließen von Mikroerzählungen, in denen Frauen, Kinder, Tiere, Männer, Junge, Alte, Soldaten, Huren multiplen Obszönitäten, Vergewaltigungen, Morden unterworfen sind. All das findet in einer triumphierenden Sprache seine literarische Form, die nicht zwischen Gewalt und Lust, Schönheit und Grausamkeit, Mensch und Tier trennt und in der die Frage nach Opfern und Tätern ebenso demonstrativ wie schockierend unwichtig ist.
Autorenporträt
Pierre Guyotat kann als einer der bedeutendsten Avantgardisten und Erneuerer der französischen Literatur gelten. Seit früher Jugend schriftstellerisch tätig, veröffentlichte er 1961 seinen ersten Roman »Sur un cheval«. Im gleichen Jahr wurde er in den Krieg nach Algerien einberufen, wo er 1962 wegen Aufrufs zur Desertion und der Verbreitung verbotener Schriften in Haft kam. Mit seinen beiden Werken »Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten« und »Eden Eden Eden«, das eine scharfe Kontroverse auslöste und jahrelanger Zensur anheimfiel, wurde er einem breiten Publikum bekannt. Nachdem sein von radikalem Formwillen geprägtes Schreiben durch eine mehrjährige psychiatrische Krise abrupt unterbrochen wurde, fand er 2006 mit dem diese Zeit verarbeitenden Werk »Koma« zurück in die Öffentlichkeit. Seine zahlreichen seither erschienenen Werke zeugen von großem Stilreichtum und unermüdlicher Arbeit an der Literatur.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Matthias Hennig bleibt gänzlich ungerührt von Pierre Guyotats "Ekel-Litanei". Was 1970 noch die Zensoren beschäftigte, kann heute nicht mehr überzeugen, meint er. 309 Seiten ohne Punkt, dafür mit geschätzten 1000 Erektionen, die schier endlose Reihung des Hässlichen und Anstößigen, Onanie und Sodomie, Blut, Schmutz, Schweiß und Sperma verursachen bei ihm keine Vibrationen, nur Gähnen und die Frage, ob so eine Höllenvision des Christentums bei Meister Bosch nicht toller zu haben ist.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2015

Expedition in die tierische Menschheit
Vom Staat verboten, von den berühmtesten Intellektuellen Frankreichs gefeiert:
Pierre Guyotats Roman „Eden, Eden, Eden“ von 1970 erscheint erstmals in deutscher Übersetzung
VON INA HARTWIG
Das nennt man wohl eine Sternstunde der Republik. Da schreibt einer derart provokant und obszön über den Kolonialismus in Algerien, den er sich nur als sexuelle Ausbeutung vorstellen kann, dass sein Buch auf dem Index landet. Die Intellektuellen protestieren gegen die Maßnahme der konservativen Regierung und unterzeichnen eine Petition, die sich wie das schönste Gedicht liest, bestehend aus den klingendsten Namen: Jérôme Lindon, Michel Foucault, Simone de Beauvoir, Maurice Blanchot, Pierre Boulez, Max Ernst, Jacques Derrida, Nathalie Sarraute, Jean Genet, Marguerite Duras, Claude Simon, sogar Joseph Beuys ist dabei.
  Jeder kennt die legendären Gerichtsurteile gegen Baudelaires „Blumen des Bösen“ und Flauberts „Madame Bovary“, was der Angelegenheit einen pathetischen historischen Hallraum verleiht. 1200 Künstler schließen sich mit ihrer Unterschrift dem Aufruf an; im Parlament fordert François Mitterrand die sofortige Aufhebung des Verbots.
  Ach ja, fast hätte man den Anlass des edlen Engagements vergessen: den Roman „Eden, Eden, Eden“ von Pierre Guyotat. Der Autor war zum Zeitpunkt des Erscheinens, 1970, erst dreißig Jahre alt. Und schon bemühten sich Berühmtheiten um die Deutung seines Werks! Denn nicht erst im Zuge des Verbots wurden sie wachgerüttelt, nein, bereits der bei Gallimard erschienene Roman war ausgestattet mit Vorworten von – man halte den Atem an – Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Sollers. Über vierzig Jahre nach der Erstausgabe liegt jetzt die deutsche Übersetzung durch Holger Fock im Zürcher Diaphanes-Verlag vor. Guyotat im deutschen Sprachraum? Ohne Frage ein Wagnis, immer noch.
  Tatsächlich ist „Eden, Eden, Eden“ so ziemlich das Härteste, was auf dem Gebiet der Prosa überhaupt möglich ist, formal wie inhaltlich. Der Übersetzer muss mit einer geradezu mimetischen Besessenheit gearbeitet haben, die Bewunderung verdient. Ohne dem Leser auch nur eine winzige Pause zu gewähren durch Punkte, Absätze oder Kapitel, besteht der Roman aus einem einzigen, pulsierenden Textfluss, rhythmisiert allein durch Semikola und Schrägstriche, von nichts anderem handelnd als von körperlicher Schändung, von geschlechtlichen Vereinigungen in allen Varianten, von Exkrementen, Blut, Sperma, Gestank, von Verwundungen, Tötungen, Folter, Leichenschändung, und das alles vor dem Hintergrund einer auf Dauer gestellten Lust. Auf Zitate wird ausnahmsweise verzichtet.
  „Eden, Eden, Eden“, allein die dreifache Nennung kommt einem Geniestreich gleich, folgt klar erkennbar dem Muster der Orgie. Philippe Sollers stellt denn auch seinem Nachwort ein Zitat des Marquis de Sade von 1783 als Motto voran: „nichts ist schöner, nichts ist größer als die Sexualität, und außerhalb der Sexualität gibt es keine Seligkeit.“ Interessant an Guyotats Buch, und das macht die Lektüre heute fast schon wieder notwendig, ist jedoch weniger, dass es an die große französische Tradition der Überschreitung anknüpft; das ist mehr als evident. Interessant ist etwas anderes, nämlich die durch konkrete Anschauung entwickelte Hypothese, die da lautet, dass sich „gerade durch die Sexualität die Dritte Welt zu erkennen gibt“.
  Pierre Guyotat entstammt keineswegs dem Pariser Serail. Er wurde 1940 in der Auvergne geboren, seine Familie war in der Résistance aktiv, ein Onkel ist 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen umgekommen. Das Schreiben soll Pierre vom Stottern geheilt haben; wobei man durchaus der Meinung sein kann, dass sich in seiner Literatur der ursprüngliche Sprechfehlers widerspiegele: Dieses Immerweiter, nicht Innehalten, um ja nicht ins Stolpern zu kommen – seine Prosa hat etwas Panisches. Als Siebenjähriger wird er von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt, auch darüber hat er geschrieben. Eines seiner Markenzeichen wird sein klappriger VW-Bus sein, mit dem er nicht nur in die Ferne reist, etwa nach Algerien, sondern in dem er einige Jahre auch lebt und arbeitet: mitten in Paris. Ein Nomade, kein Flaneur.
  Einen hervorragenden, von Holger Fock zusammengestellten Schwerpunkt zu Pierre Guyotat mit ersten Einblicken in die „Eden“-Übersetzerwerkstatt brachte bereits vor zwei Jahren die Literaturzeitschrift Schreibheft(Nr. 80. Herausgegeben von Norbert Wehr. Rigodon Verlag, Essen 2013). Dort sind, neben Interviews mit dem Autor und theoriegesättigten Arbeitsnotizen, ausführliche Informationen zur Biografie zu finden, die sich jetzt, da der an der Grenze zur Lesbarkeit operierende Roman zur Gänze vorliegt, als nützlich erweisen. So erfährt man etwa, wie Guyotat sein dunkles „Eden“ definiert; nicht als paradiesischen Garten, sondern als „die letzten Tage der Kolonialherrschaft.“ Selbstbewusst spricht er von „meiner stilistischen Revolution“ und davon, „kein Moralist“ zu sein. „Menschlichkeit“ ersetzt er durch „Menschheit“, und stellt fest: „Schreiben ist stärker als ich“.
  Im Alter von zwanzig Jahren war Guyotat als Rekrut nach Algerien gekommen. Verurteilt wegen „Zersetzung der Truppenmoral“, unter anderem wegen Lektüre der verbotenen Tageszeitung Le Monde, wird er zehn Tage lang verhört, dann ohne Verfahren wochenlang in ein Verlies gesperrt. Es folgt ein Strafbataillon und, 1963, die Rückkehr nach Frankreich. Traumatisiert, fährt er dennoch schon ein Jahr später mit seinem Bruder wieder nach Algerien. Später wird er an Depressionen leiden, Kliniken von innen sehen, wiederum darüber schreiben. Sein Marxismus dieser Jahre ist wacklig, obzwar er, wie so viele französische Intellektuelle, kurzzeitig Mitglied der KPF sein wird. Von einer weiteren Algerienreise zurückgekehrt, wird er im Mai 1968, zusammen mit Hunderten Demonstranten, in Paris verhaftet. 1971 ist für ihn Schluss mit dem kommunistischen Glauben, lieber engagiert er sich für Arbeiterräte und die Prostituiertenbewegung in Lyon.
  Vor allem schreibt er wie ein Verrückter. Sein Werk umfasst Romane (das Debüt „Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten“ ist ebenfalls bei Diaphanes erschienen) und Tagebücher; die Aufmerksamkeit von „Eden“ wird jedoch nicht zu wiederholen sein. Bis zur Erschöpfung soll er seine Schreibmaschine malträtiert haben, so wie die Körper in seinen Büchern malträtiert werden, ein gewisses wildes Ganzheitlichkeitsdenken (oder -wünschen) ist nicht zu übersehen. Im deutschen Sprachraum wären als Vergleich allenfalls Hubert Fichte mit seiner Ethnopoesie zu nennen oder Hans Henny Jahnn mit seiner Grenzauflösung zwischen tierischer und menschlicher Erregung.
  Tatsächlich ist das Animalische im Menschen, das Menschliche im Tier für Guyotat keine fremde Vorstellung. In „Eden, Eden, Eden“ werden brünstige Hunde oder Zicklein in die Triebentladung einbezogen. Das ist ein Schock, und will einer sein. Der Schauplatz dieser, wie er das nennt, „tierischen Menschheit“: Algerien in der Endphase des langen, brutalen Befreiungskriegs, der 1962 mit der Entlassung in die Unabhängigkeit endete. Die Verbrechen des Algerienkriegs sind ein Schandfleck der französischen Geschichte, eine nicht verheilte Wunde, die in den Banlieues von heute weiterschwelt.
  Für den Autor Pierre Guyotat aber war dieses Algerien der Ort, an dem seine Obsessionen Wirklichkeit wurden. Der ideale Ort für die Fantasien und Zwangsvorstellungen, die er in endlosen Mikro-Erzählungen aneinanderreiht, auf Beschreibungen komplett verzichtend, immer nah an der Schmerzgrenze. Wenige Helden tragen Namen, etwa Wazzag, ein „Hurenjunge“ (so die geschickte Wortschöpfung des Übersetzers für „le putain“), der in einem Jungenbordell schafft. Die Kunden sind arme Hirten, Soldaten, Kleinbürger. Weitere Beteiligte: Säuglinge, Kinder, Frauen und Männer, Alt und Jung, Huren und Bauern, Herren und Sklaven. Guyotat legt Wert darauf, dass er alle gleich behandele, was insofern stimmt, als er kein moralisches Urteil fällt, und auch, weil die handelnden Subjekte keiner Psychologie folgen. Aber in einem Punkt stimmt es nicht: Gequält wird immer der Schwächere.
  Erst 1981, unter dem frisch gewählten Präsidenten Mitterrand, wurde das Verbot gegen den Roman aufgehoben. „Man kann sich nicht vorstellen“, resümierte Pierre Gyuotat vor wenigen Jahren in einem Interview, „welcher Energie es bedarf, um sein Persönlichstes, Intimstes durchsetzen zu können. Gerade das, was einen seit der Kindheit aus dem Gleichgewicht bringt, das, wofür man am meisten gerügt, zurecht- und zurückgewiesen wurde, wird dann zum Allgemeinsten.“ Diesen Radikalen sollte man endlich auch bei uns entdecken, obwohl oder gerade weil wir uns abgewöhnt haben, der Literatur die Sprengung aller Grenzen, aller Konventionen zuzutrauen.
Pierre Guyotat: Eden, Eden, Eden. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock. Mit Nachworten von Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Sollers. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 334 Seiten, 29,95 Euro.
Es heißt, durch das Schreiben
sei Guyotat vom Stottern der
Kindheit geheilt worden
Aus dem Strafbataillon in
Algerien kehrt er 1963 nach
Frankreich zurück – traumatisiert
Pierre Guyotat 1971 in seinem VW-Bus.
Foto: Bibliothèque Nationale de France
Pierre Guyotat im Frühjahr 1967 auf einer Reise durch Algerien
bei Hassi-Messaoud, einer Ortschaft im Norden der Sahara, in deren Randzonen sich Bordelle
für die Arbeiter der Ölindustrie befanden.
Foto: Bibliothèque nationale de France
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2016

Sexuelle Exzesse als Einschlafhilfe
Pierre Guyotat zum Zweiten: Mit "Eden Eden Eden" überreizt der Skandalautor die literarische Grenzerfahrung

Nach "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten" (F.A.Z. vom 3. Dezember 2014) lässt der Diaphanes Verlag mit "Eden Eden Eden" einen zweiten Skandalroman von Pierre Guyotat übersetzen. Er folgt damit der Publikationsgeschichte: Der 1940 geborene Guyotat hatte mit dem "Grabmal" im Herbst 1967 Aufsehen erregt und war der Zensur knapp entkommen. Noch vor Erscheinen dieses Romans begann er die Arbeit an "Eden Eden Eden" und schloss sie zwei Jahre später ab. Der Verlag Gallimard wollte diesen Roman nicht verlegen und stimmte erst zu, als Michel Leiris vier Vorwörter - eines von sich selbst und jeweils eines von Roland Barthes, Michel Foucault und Philippe Sollers - vorschlug; bis auf Foucault lieferten alle pünktlich. Der Roman erschien im September 1970 und wurde am 22. Oktober de facto verboten, da weder der Verkauf an Minderjährige noch Auslage in den Geschäften oder Werbung erlaubt waren. Eine Petition der linken Intelligenz verpuffte, die Zensur wurde erst 1981 unter Präsident François Mitterrand, der sich als Abgeordneter für Guyotat eingesetzt hatte, aufgehoben. Jetzt ist "Eden Eden Eden" also hierzulande erhältlich, im März wird bereits "Herkunft" folgen; Diaphanes plant offenbar eine kleine Werkausgabe auf Deutsch.

Guyotats Text ist minimal gegliedert: Er besteht aus nur einem unabgeschlossenen Satz, in dem Abschnitte durch Kommata, Doppelpunkte, Semikola oder Schrägstriche markiert sind; es gibt keine Kapiteleinteilung. Im engeren Sinne erzählt wird nichts, "Eden Eden Eden" ist eine lange Abfolge von Aktbeschreibungen. Man kann dabei drei Serien unterscheiden: Geschildert werden zuerst Soldaten bei sexuellen Gewalttaten, dann - die längste Szene - Kopulationen in einem Knabenbordell und schließlich die fast schon idyllischen Paarungen einer jungen Mutter mit einem Nomaden. Das Ganze nimmt etwa einen Tag in Anspruch, Ort des Geschehens ist eine nordafrikanische Wüstenlandschaft: Form und Setting sind viel konzentrierter als im "Grabmal".

"Eden Eden Eden" ist ein Extrempunkt: Es ist eines jener Bücher, die geschrieben werden mussten - die Natur des Imperativs ist allerdings klärungsbedürftig. Zunächst zum Faktum: Die Figuren werden ohne Innenblick in einer Folge von Sexualakten geschildert, in denen Sperma, Rotz, Kot, Blut, Schweiß und Tränen durcheinanderlaufen. Es gibt keine Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Gattung und Körperöffnung: "Wazzag spreizt die Pobacken mit den Händen, stopft seine Schnauze zwischen die gelockerten Backen; die Augen geschlossen, in den Fettpolstern des Hinterns versunken, streckt er seine Zunge in den verkrusteten Anus; von Lachen geschüttelt - seine Nase sondert einen ölverschmierten Rotz ab -, spannt der Lehrling seinen Hintern über der Schnauze des Hurenjungen an, krümmt sich, lehnt sich mit der Hand an die Backsteinmauer, spreizt mit der freien Hand eine verschmierte Hinterbacke ab." Das ist weder eine isolierte noch eine drastische Szene: Es ist ein Beispiel unter Hunderten. Handlungen werden nicht erklärt, Gedanken, Gefühle, Kausalität spielen keine Rolle. Die Psyche der Figuren ist inexistent; damit verlieren auch die Unterscheidungen Herrscher und Untertan, Täter und Opfer, Gut und Böse ihren Sinn.

Guyotat geht noch viel weiter und treibt die Entsubjektivierung ins Kosmische: Die Hierarchie zwischen Mensch, Tier, Pflanze und Stein wird aufgehoben. Die gesamte Schöpfung müht sich in ewig erneuerter Kopulation: "die Frau hebt die Unterschenkel an, schlägt sie angespannt auf dem Gesäß des Jungen übereinander, der Bock ächzt: aus seinem Fell springt Ungeziefer in das aufgelöste, verschwitzte Haar; das unter der Achsel eingerollte Baby starrt auf die rötliche Ausdünstung des Schweißes auf der blutunterlaufenen linken Gesichtshälfte des keuchenden Jungen." Am Ende entsteht ein Flächentableau von Reiz, Ejakulation, Erschöpfung, neuem Reiz, in dem Affen es mit Babys treiben und in das Stengel, Steine und Pollen einbezogen werden.

Was im "Grabmal" durch die epische Anlage und einen düster-lyrischen Stil verdeckt wurde, wird in "Eden Eden Eden" offensichtlich: Guyotat erforscht die absolute Grenze der Literatur und des Menschlichen. Selbst im Bereich der erotisch-transgressiven Literatur, die in Frankreich seit je blüht, wirkt er krass: Wo der göttliche Marquis konversierte, philosophierte und spekulierte, vögeln Guyotats Figuren - insofern man bei Wesen ohne Innenleben von "Figuren" sprechen kann - herz- und hirnlos in einer rein materiellen, entmenschlichten Welt, beherrscht von Nietzsches "aller Dinge ewiger Wiederkunft". Es überrascht nicht, dass Sollers in seinem Vorwort jubelt: "Die Macht eines einzigen Satzes über das von einem unablässigen Trieb geteilte, getragene materielle Gewimmel ausdehnen." Die schiere Äußerlichkeit, gleichbedeutend mit dem Tod der Metaphysik, der Moral, des Subjekts und so weiter, integriert sich nahtlos ins Programm der Postmoderne.

Was als Gedankenexperiment und künstlerische Extremerfahrung besticht, ist als Lektüre eine Enttäuschung: Die Grenzen des Literarischen werden leider in mehr als einer Hinsicht überschritten. Gibt es am Anfang den Reiz der erotischen und ästhetischen Provokation, wirkt der Text bald monoton, erschöpfend. Welche erzählerische Spannung haben Transgressionen als Regelfall? Zwar stellt sich mitunter ein Hypnoseeffekt ein, aber die Langeweile dominiert: Der Rezensent ist mehr als einmal eingenickt. Bei aller physischen Reduktion wirkt Guyotats Text unsinnlich und verkopft.

Guyotat war zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten, wird seit "Coma" (2006) jedoch geehrt. Autoren verschiedenster Couleur berufen sich auf ihn, dessen Lebensweg zwischen Gefängnis wegen Widerstands gegen den Algerienkrieg und Psychiatrie kein leichter war. Guyotat zieht sicher nicht den Verdacht auf sich, libertines Salonlöwentum im Stile eines Philippe Sollers zu betreiben: Die Ehrung der Person und die Kanonisierung des Werks überzeugen, weil Guyotat kompromisslos einen persönlichen und literarhistorischen Endpunkt erschließt. Seine Texte werden sicher noch lange in Seminaren gelesen und von Intellektuellen diskutiert werden. Nur zeigt dieses entgrenzende OEuvre - nachdem die Aufregung um Provokation und Zensur verflogen ist - eine simple Begrenztheit: Vergnügen bereitet es kaum.

NIKLAS BENDER

Pierre Guyotat: "Eden Eden Eden".

Aus dem Französischen von Holger Fock. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 336 S., geb., 29,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Endlich ist Pierre Guyotat, dieser Sänger des großen leiblichen Durcheinanders, für deutschsprachige Leser zu entdecken...« Ina Hartwig, Deutschlandfunk