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Tragikomisch, suchterzeugend, innovativ: Kaputte Welten zwischen Virtualität und Realität
Der computer- und spielsüchtige Ich-Erzähler, vielleicht Mitte zwanzig, präsentiert sich als Verfasser eines Wegweisers für ein fiktives Online-Spiel, den er für die anderen Spieler fortlaufend als Blog ins Netz stellt. Die Mission ist klar: das Spiel muss glücklich zu Ende gebracht werden, doch der Weg dorthin scheint unmöglich, denn die Spiel-Welt ist irrwitzig detailreich, überdimensioniert und unüberschaubar komplex. Das Spiel ist daher im eigentlichen Sinne unspielbar, und sein Vorhaben ist ein…mehr

Produktbeschreibung
Tragikomisch, suchterzeugend, innovativ: Kaputte Welten zwischen Virtualität und Realität
Der computer- und spielsüchtige Ich-Erzähler, vielleicht Mitte zwanzig, präsentiert sich als Verfasser eines Wegweisers für ein fiktives Online-Spiel, den er für die anderen Spieler fortlaufend als Blog ins Netz stellt. Die Mission ist klar: das Spiel muss glücklich zu Ende gebracht werden, doch der Weg dorthin scheint unmöglich, denn die Spiel-Welt ist irrwitzig detailreich, überdimensioniert und unüberschaubar komplex. Das Spiel ist daher im eigentlichen Sinne unspielbar, und sein Vorhaben ist ein wahrhaft heroisches Unterfangen...

Dem gegenüber steht die Unfähigkeit des Helden, die eigene, ungleich banalere Existenz auf die Reihe zu bringen. Sein kümmerlicher Job als Aushilfsbäcker bei einem Pizzaservice steht auf der Kippe, die Freundin packt irgendwann endgültig ihre Sachen, ein depressiver Freund verschwindet... das wirkliche Leben lässt sich nicht aussperren und wirkt sich erst lästig, dann mehr und mehr verstörend auf den Fortgang der Erzählung aus. Der Bewusstseinsstrom des Erzählers drängt sich ins Schreiben, und der Spiele-Blog wird mehr und mehr zum Tagebuch. Hinzu kommen die Unzulänglichkeiten des Mediums: Hard- und Software fallen abwechselnd aus, die mit Cola verklebte Tastatur blockiert, Rechnerabstürze bremsen den Fortgang, während der Leser sich selbst bei dem Wunsch ertappt, noch länger im Spiel zu bleiben, das immer erfindungsreicher, immer phantastischer wird. In kurzen, rasch vorantreibenden Kapiteln zieht Tim Etchells den Leser in seine Geschichte und lässt ihn bis zum Schluss mitfiebern am Schicksal eines ganz normalen Losers, dem sein Leben unter den Händen zerfällt.

»Broken World« liest sich tragikomisch, spannend, mitreißend und witzig - und ist sprachlich zugleich innovativ und anspruchsvoll. Virtuos verwandelt sich Etchells den sprachzerschreddernden Jargon der Netzcommunity an: äußerst kreativ und zugleich symptomatisch für eine rundherum brüchige Welt. Ein intelligenter, hoch aktueller Roman über die Verwechslung von Virtualität und Realität.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2010

Das Nichts, auf das die Welt gezeichnet ist
Spiel des Lebens: Die Realität in Tim Etchells' "Broken World" ist ganz schön wackelig

Nach Friedrich Schiller ist der Mensch nur da ganz Mensch, wo er spielt. Gleichwohl wird das Spielen oft als kindlich abgetan; es ist eine Möglichkeit, die Welt zu erfahren, eigene Fähigkeiten zu entdecken und auszuprobieren. Erwachsene glauben, dies bereits hinter sich zu haben. Sie kennen sich aus und wissen um ihre Stärken und Schwächen. Dem volljährigen Computerspieler wird daher oft unterstellt, kindisch zu sein; er schottet sich im Spiel vor der Realität ab und flüchtet in künstliche Welten, um nicht erwachsen werden zu müssen. Doch so einfach ist es nicht.

Der namenlose Ich-Erzähler aus Tim Etchells' Roman "Broken World" ist zwar ganz offenkundig spiel- und computersüchtig, zugleich verrät er uns aber, wie es sich in einer vom Internet geprägten Wirklichkeit tatsächlich lebt. Es ist ein Leben in zwei getrennten Sphären, die trotzdem immer wieder miteinander kurzgeschlossen werden; ihre Berührungspunkte werden stets dann ersichtlich, wenn der Spieler Parallelen zieht zu seinem persönlichen Dasein. Eigentlich hat er sich nur vorgenommen, einen "Walkthru", also einen Wegweiser, durch das komplexe Onlinespiel "Broken World", zu verfassen. Kontinuierlich stellt er in einem Blog seine Spielanleitung ins Netz, worüber er allmählich die Zeit vergisst. Seine "Shift"-Taste klemmt, er vertippt sich und weiß manchmal nicht, wie man dieses oder jenes Wort schreibt. Minutiös erklärt er, welche Fehler sich in die Programmierung von "Broken World" geschlichen haben, und zweifelt schon im nächsten Atemzug daran, ob es sich dabei überhaupt um Fehler handelt. Nebenbei berichtet er von seinem miesen "Backofenfutter in Kreisform-Job"; als Pizzabäcker ist er eine Null. Im Grunde ist er ein sympathisch vertrottelter Verlierertyp. Darüber hinaus erzählt er von seinem depressiven Freund Brainiac, der eines Tages spurlos verschwindet, von seiner Clique um Dieter, BugMap, Clockwork und Sleeptalk und all den anderen, die im virtuellen Kosmos von "Broken World" unterwegs sind, in dem kaum jemand einen bürgerlichen Namen trägt, da die Existenz im Cyberspace längst ihre Spuren im wahren Leben hinterlässt. Nur seine Freundin Tory ist zunehmend genervt, da er nicht nur sie, sondern auch profane Notwendigkeiten, wie etwa seinen Anteil an der gemeinsamen Miete aufzubringen, ignoriert. Als Tory zuletzt ihre Sachen packt, bricht die erste von vielen Welten zusammen.

Der 1962 im britischen Derby geborene Autor Tim Etchells, bekannt vor allem als Gründer der experimentellen Performance-Gruppe "Forced Entertainment", fasziniert seine Leser rasch für diese zerbrochene Welt. Zunächst geht es in ihr um den üblichen Fantasy-, Science-Fiction- und Horror-Unsinn, in dem allerlei Zombies, Dämonenwachen und Robotersoldaten aus der Zukunft oder radioaktive Wölfe zu bekämpfen sind. Der Spieler nimmt die Perspektive eines Mannes namens Ray ein, der sich auf einer Irrfahrt durch Städte und Landschaften gegen obskure Mächte zur Wehr setzt. Er muss Rätsel lösen, Hinweisen folgen und zuletzt nach seiner großen Liebe Rachel suchen. "Deine Aufgabe ist es, ihn dahin zu führen, erst an den Rand und dann bis zum tiefsten Grund der Verzweiflung." An einem entscheidenden Punkt werden indes die Geschlechterrollen vertauscht, das Spiel führt in einen leeren Level, die Mission ist unklar, und man kann sich nie sicher sein, ob der Ich-Erzähler angesichts all der Details, die wiederum andere Spielebenen beeinflussen, nicht längst den Überblick verloren hat. Am Ende muss das Spiel, das einen Blick auf das Nichts gewährt, auf das die Welt gezeichnet ist, selbst ad absurdum geführt werden. Das Vorhaben, eine Anleitung für das Spiel zu schreiben, ist freilich zum Scheitern verurteilt, da es zu viele alternative Handlungsmöglichkeiten gibt. Jede Version einer Lösung wird sogleich von einer zweiten oder dritten Variante abgelöst. Das Spiel an sich bleibt Sinn und Zweck des Spiel.

Bemerkenswert ist, wie Tim Etchells die Schnittstellen zwischen Fiktion und Wirklichkeit hier markiert, indem er den flapsigen, von ironischen Anspielungen und spontanen Entgleisungen durchwirkten Tonfall der Netzbewohner imitiert. Er treibt das Geschehen voran und lässt in der Sprache des Protagonisten die Verbindungen zwischen der Beobachtung des eigenen und des artifiziellen Daseins aufscheinen. Die Metaphorik der Selbstbeschreibung geht mit der Entwicklung der Medien und dem technischen Fortschritt einher. Der Binärcode des digitalen Zeitalters greift auf die Privatsphäre über: Im Spiel gilt es, auf "Lebenspunkte und Gefühlslevel" zu achten, während sich Brainiac in der realen Welt als "Testversion vor der Veröffentlichung" empfindet.

Die Übersetzerin Astrid Sommer beweist in "Broken World" ein besonderes Geschick dafür, der bisweilen unbeholfenen, doch stets philosophisch und erkenntnistheoretisch unterfütterten Ausdrucksweise der Hauptfigur im Deutschen einen unaufdringlichen und vielseitigen Gestus abzugewinnen. Tim Etchells' aberwitziger, spannender und metafiktionaler Roman kreist um die verschiedenen Möglichkeiten der Wahrnehmung von der Welt und der Kunst. Der vordergründigen Vertracktheit des Spiels, das sich zwischenzeitlich anhalten und abspeichern lässt, stellt er das Chaos der erzählten und allezeit fehlerhaften Gegenwart entgegen, die unerbittlich voranschreitet. Hier wie da trifft man indes auf Probleme, deren Sinn sich erst in ihrer Bewältigung erschließt. Das Spiel des Lebens mag sich heiter ansehen, doch seine Regeln sind ernst und kompromisslos. So ist "Broken World" kein Abgesang auf die popkulturelle Szene der Online-Spieler geworden, sondern ein beglückender und trauriger Roman voller aussagekräftiger Ideen zu unserer Zeit. Ihn durchzuspielen lohnt sich allemal.

ALEXANDER MÜLLER

Tim Etchells: "Broken World". Roman. Aus dem Englischen von Astrid Sommer. Diaphanes Verlag, Berlin 2010. 384 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Auf jede Menge Überschneidungen zwischen dem Cyberspace der Onlinespiele und der Realität ist Alexander Müller in diesem Buch von Tim Etchells gestoßen. Genau wie der Held im Roman, dessen Leben an seiner Spielbesessenheit zu zerbrechen droht, weiß man beim Lesen der Besprechung auch bald nicht mehr so genau, was Spiel, was Handlung ist. Davon, dass der Roman selbst Suchtpotential hat, scheint Müller jedenfalls überzeugt. Nicht nur die Cyberwelt mit ihren Zombies und Dämonen zieht ihn an, auch sprachlich gelingt es dem Autor und seiner Übersetzerin seiner Meinung nach, den schwankenden Jargon der Netzbewohner abzubilden. So entsteht für Müller ein spannender, zugleich glücklich und traurig machender Text, der auch darin wiederum Parallelen mit der Welt der Spiele aufweist.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Tim Etchells versteht es, auf beeindruckende Weise Virtuelles und Reales zu vermengen, seinen Protagonisten in zwei Welten leben zu lassen und dem Leser davon mehr als nur eine Ahnung zu vermitteln. Ein vielschichtiger, aktueller Roman über unser Leben in einer Computer-Welt.« Literaturkurier