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Seit ihrer Entstehung im späten 19. Jahrhundert ist die schweizerische Pharmaindustrie auf akademisch ausgebildete Fachkräfte und universitäre Forschungsresultate angewiesen. Die Universitäten ihrerseits profitierten schon früh von industriellen Dienstleistungen und Geldspenden. Der Autor zeichnet die über hundertjährige Gratwanderung der Pharmaforschung zwischen Hochschule und Industrie nach und leistet damit einen Beitrag zur Erklärung der Wissensproduktion im 20. Jahrhundert, der auch für das Verständnis der heutigen Situation von Bedeutung ist.Absprachen über Studienpläne und die Besetzung…mehr

Produktbeschreibung
Seit ihrer Entstehung im späten 19. Jahrhundert ist die schweizerische Pharmaindustrie auf akademisch ausgebildete Fachkräfte und universitäre Forschungsresultate angewiesen. Die Universitäten ihrerseits profitierten schon früh von industriellen Dienstleistungen und Geldspenden. Der Autor zeichnet die über hundertjährige Gratwanderung der Pharmaforschung zwischen Hochschule und Industrie nach und leistet damit einen Beitrag zur Erklärung der Wissensproduktion im 20. Jahrhundert, der auch für das Verständnis der heutigen Situation von Bedeutung ist.Absprachen über Studienpläne und die Besetzung vakanter Lehrstühle, industriefinanzierte Hochschullabore oder das Streben von Industrieforschern nach akademischer Anerkennung werden praxisnah beschrieben und gesellschaftsgeschichtlich interpretiert. Die Verbindung von mikrohistorischer Zugangsweise und Langzeitperspektive öffnet den Blick für eine nachhaltige Veränderung in den Kooperationspraktiken von Hochschule und Pharmaindustrie. Anfänglich war die Zusammenarbeit von historisch gewachsenen Gemeinsamkeiten geprägt. Insbesondere in der Chemie stimmten Ziele und Vorgehensweisen der industriellen und akademischen Forschung weitgehend überein. Dies änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Pharmaunternehmen in den biologischen Wissenschaften neue Ansprechpartner suchten. Nun erlangten Grenzziehungen zwischen akademischer und industrieller Forschung, zwischen 'Grundlagenforschung' und 'Zweckforschung', mithin also die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche Wissenschaft und Wirtschaft, eine bisher ungekannte Orientierungsfunktion, die den Handlungsspielraum aller beteiligten Akteure grundlegend veränderte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2011

Grundlagen möchten auch angewandt sein
Michael Bürgi verfolgt die moderne Pharmaforschung auf ihrem Weg zwischen Hochschule und Industrie

1980 gab der Professor für Molekularbiologie an der Universität Zürich, Charles Weissmann, auf einer Pressekonferenz im Park Plaza Hotel in Boston bekannt, dass es der von ihm mitbegründeten Genfer Firma Biogen gelungen war, Interferon künstlich herzustellen. Weltweit überschlugen sich die Medien, diese wissenschaftliche Sensation zu vermelden. Allerdings mischten sich schon damals einige kritische Stimmen unter den Jubelchor, die die Verknüpfung von wissenschaftlichen und kommerziellen Interessen anmerkten. 1981 diskutierte das Committee on Genetic Experimentation des International Council of Scientific Unions auf einer Tagung in Rom nicht nur die bioethischen Aspekte der molekularbiologischen Forschung, sondern auch das Verhältnis von Hochschule und Industrie.

Einer der Teilnehmer forderte, dass Hochschulangehörige, die ein eigenes Unternehmen gründeten, die Universität verlassen müssten. Weissmann, der sich angesprochen fühlte, rechtfertigte sein Verbleiben an der Universität Zürich unter anderem damit, dass es in der Schweiz eine lange Tradition der engen Verzahnung von chemisch-pharmazeutischer Industrie und Hochschule gebe, von der beide profitierten. War dies nur eine Schutzbehauptung, oder hat es den fließenden Übergang zwischen universitärer und industrieller Forschung schon immer gegeben, zumindest in der Schweiz? Dieser Frage geht nun eine neuere wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung nach.

Am Beispiel der Gesellschaft für Chemische Industrie Basel (Ciba) und des Pharmaunternehmens Hoffmann-La Roche zeichnet Michael Bürgi die langfristigen Veränderungen in den Kooperationspraktiken zwischen chemischer und pharmazeutischer Industrie in der Schweiz und den eidgenössischen Hochschulen - insbesondere der ETH Zürich - nach, und zwar vom späten 19. Jahrhundert bis in die achtziger Jahre. Dabei wird die bekannte These hinterfragt, dass es in den letzten Jahrzehnten zu einer Intensivierung der Zusammenarbeit gekommen sei und damit die Grenze zwischen (kommerzieller) industrieller und universitärer Forschung immer mehr verschwimme.

Bürgi kann nachweisen, dass bereits in der Gründerzeit nicht nur die deutsche, sondern auch die schweizerische Chemieindustrie eng mit Professoren zusammenarbeitete, vor allem auch in Hinblick auf die Rekrutierung von Fachleuten. Firmen wie Ciba und Roche nahmen, was bislang wenig bekannt war, schon früh Einfluss auf die Gestaltung von Ausbildungsgängen für Ingenieurchemiker, wobei "Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonvergenzen in bildungspolitischen Fragen ... oft auch quer zur Grenze zwischen Hochschule und Industrie" verliefen, wie der Autor anhand von Akten aus Universitäts- und Firmenarchiven rekonstruiert. Aufgezeigt wird auch, wie eng die forschungsorientierte Zusammenarbeit zwischen einzelnen Professoren an der ETH Zürich und den genannten Firmen war. Bürgi betont, dass nicht nur einzelne Akademiker von Industriegeldern profitierten, sondern auch ganze Hochschulinstitute. Diese Forschungskooperationen erlaubten es den an schweizerischen Hochschulen tätigen Chemikern, darunter vier Nobelpreisträger, sich in den lukrativen Dienst eines Pharmaunternehmens zu stellen, ohne ihre akademischen Ambitionen aufgeben zu müssen.

Erst als sich in den späten sechziger Jahren die Nachfrage der pharmazeutischen Industrie nach akademisch ausgebildetem Personal zu den molekularen Biowissenschaften verlagerte, gründeten Schweizer Pharmaunternehmen eigene Forschungsinstitute, die zwar von ihnen finanziert wurden, ansonsten aber weitgehend akademische Strukturen aufwiesen, was eine gezielt herbeigeführte institutionelle "Entgrenzung von Hochschule und Industrie" bedeutete.

Als Beispiel nennt Bürgi zwei Forschungsinstitute für biomedizinische Grundlagenforschung, die außerhalb der Universitäten, aber im akademischen Umfeld angesiedelt waren, das Roche Institute of Molecular Biology in New Jersey (1967 gegründet) und das Basler Institut für Immunologie (gegründet 1968). Beide Einrichtungen bildeten Doktoranden aus, und leitende Mitarbeiter übernahmen Lehrverpflichtungen an benachbarten Universitäten. Doch erwies sich diese Lösung nicht als ein Königsweg, die Grenze zwischen industrieller und akademischer Forschung neu zu bestimmen.

Denn Ende der siebziger Jahre entstanden zuerst in den Vereinigten Staaten, dann auch in Europa Biotechnologieunternehmen, die von Akademikern gegründet wurden und es diesen erlaubten, ihre Forschungsergebnisse kommerziell zu verwerten - ohne ihre akademischen Freiheiten deswegen aufgeben zu müssen, aber auch ohne sich einer ganz anderen Struktur, wie der Hierarchie eines Großunternehmens, anpassen zu müssen. Womit die Unterscheidung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung, welche die Wissenschaftspolitik nach wie vor beschäftigt, noch etwas komplexer geworden war.

ROBERT JÜTTE

Michael Bürgi: "Pharmaforschung im 20. Jahrhundert". Arbeit an der Grenze zwischen Hochschule und Industrie.

Chronos Verlag, Zürich 2011. 223 S., Abb., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Robert Jütte hält sich mit Urteilen über Michael Bürgis Studie zur "Pharmaforschung im 20. Jahrhundert" bedeckt. Stattdessen beschränkt er sich auf eine Zusammenfassung ihres Inhalts. Danach untersucht Bürgi, beginnend im 19. Jahrhundert, die Geschichte des Verhältnisses von schweizerischer Pharmaforschung und -industrie; nicht zuletzt zur Überprüfung der These, dass beide Bereiche institutionell und personell zunehmend verschmelzen würden. Eine solche Verschmelzung konstatiert Bürgi allerdings von Anfang an, schreibt Jütte, übrigens analog zur deutschen Gründerzeit der chemischen Industrie. Ganze Institute hätten von Forschungsgeldern etwa des Pharmaunternehmens Hoffmann-La Roche profitiert, informiert der Rezensent. Auf Ansätze zu einer Trennung von akademischen und wirtschaftlichen Interessenssphären in den Sechzigern sei im folgenden Jahrzehnt jedoch bereits wieder ein Trend zu verstärkter Kooperation gefolgt. "Komplexer" sei das Verhältnis beider zueinander geworden, lautet die ultimative Einsicht des Kritikers.

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