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"Die Probleme der Gewalt sind immer noch sehr dunkel", schrieb Hannah Arendt vor rund 40 Jahren. Und dieses Diktum, so konnte man noch Anfang der 1990er Jahre im Sonderheft der"Deutschen Zeitschrift für Soziologie"lesen, gelte unverändert. Warum sich die Soziologie mit den Phänomenen der Gewalt so schwer tut, ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich das vorliegende Buch beschäftigt. In seiner Studie analysiert Jan Philipp Reemtsma zunächst, was Vertrauen und vor allem Vertrauen in die Moderne heißt - und in welcher Weise dieses Vertrauen an die besonderen Legitimationsanforderungen…mehr

Produktbeschreibung
"Die Probleme der Gewalt sind immer noch sehr dunkel", schrieb Hannah Arendt vor rund 40 Jahren. Und dieses Diktum, so konnte man noch Anfang der 1990er Jahre im Sonderheft der"Deutschen Zeitschrift für Soziologie"lesen, gelte unverändert. Warum sich die Soziologie mit den Phänomenen der Gewalt so schwer tut, ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich das vorliegende Buch beschäftigt. In seiner Studie analysiert Jan Philipp Reemtsma zunächst, was Vertrauen und vor allem Vertrauen in die Moderne heißt - und in welcher Weise dieses Vertrauen an die besonderen Legitimationsanforderungen gebunden ist, denen der Gebrauch von Gewalt in der Moderne unterworfen ist. Er fragt, wie extreme Destruktivität neben dem modernen Programm der Gewalteinschränkung oder trotz dieses Programms bestehen kann und warum und wie das Vertrauen in die Moderne ungeachtet der Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts fortbesteht. Das Buch untersucht die Phänomene der Gewalt in ihrem unterschiedlichen Körperbezugund in ihrem Verhältnis zur Ausübung von Macht, es fragt, aus welchem Grund bestimmte Gewaltformen in der Moderne tabuisiert worden sind, obwohl sie nach wie vor fortbestehen, und in welcher Weise dieses Fortbestehen besondere Wahrnehmungs- und Analyseschwierigkeiten produziert. Dieser Blick auf die Moderne konkurriert nicht mit anderen, sondern ergänzt sie und bedient sich dabei einer besonderen Beschreibungstechnik. Weiträumige Überblicke über historische, politische, literarische oder philosophische Entwicklungen von der Antike bis in unsere Gegenwart wechseln mit einer Konzentration auf konkrete Ereignisse ab; soziologische Reflexionen und historisches Beispielmaterial werden durch philologische Analysen ergänzt und zum Beispiel anhand einer Auseinandersetzung mit William Shakespeare als einem Theoretiker von Macht und Gewalt oder anhand einer Betrachtung von Friedrich Schillers Konzeption des Desperado im "Wilhelm Tell" verdeutlicht.
Autorenporträt
Jan Philipp Reemtsma, geboren 1952 in Bonn, ist unter Geisteswissenschaftlern und Intellektuellen ein fester Begriff. Er lebt und lehrt in Hamburg, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und der Arno-Schmidt-Stiftung. Er ist Mitherausgeber der Werke Arno Schmidts und Autor zahlreicher Bücher. 1997 erhielt er den Lessing-Preis der Freien Hansestadt Hamburg, im Jahr 2015 den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2008

Die Entstehung der Hölle

Die Moderne hat die Zone verbotener Gewalt immer weiter ausgedehnt - und zugleich die Möglichkeit geschaffen, gewaltsam aus der Zivilisation auszusteigen. Jan Philipp Reemtsmas Buch "Vertrauen und Gewalt" beschreibt die Folgen dieser Dialektik

Von Thomas Hettche

Als Tom Cruise, preisgekrönt, den Arm reckte und in den Saal rief: "Es lebe des geheime Deutschland!", hatte die alte BRD, die in Verkennung gewandelter medialer Verhältnisse ihm zunächst die Bendlerblocks als Spielort verweigern zu können meinte, längst kapituliert. Die Folge war der Siegeszug eines Fotos, das zwar einen Schauspieler in Uniform zeigte, aber zugleich etwas völlig anderes darstellte. Etwas, das noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre: die Wiederaufnahme des deutschen Soldaten in die Ikonographie des Heldischen.

"Wir alle neigen dazu, es uns in Illusionen wohl sein zu lassen, aber ich möchte darauf bestehen, dass es uns nicht guttut", beginnt Jan Philipp Reemtsmas Studie "Vertrauen und Gewalt". Die Illusion, um die es ihm dabei geht und die, wie mir scheint, einiges mit jenem Foto zu tun hat, ist jene, zur Entwicklung der westlichen Gesellschaften gehöre eine fortschreitende Ächtung von Gewalt. Ein flüchtiger Blick auf die Katastrophen von Verdun, Auschwitz und Hiroshima straft diese Selbsteinschätzung Lügen. Die Insistenz aber des durch nichts aufzuklärenden, kopfschüttelnden Unverständnisses angesichts der Massenvernichtungen, "wie ganz normale Familienväter so etwas tun" können, weist auf eine besondere Bedeutung dieser Selbsttäuschung hin.

Im Rückgriff auf Thomas Hobbes, und auf wen sollte eine Gesellschaftstheorie sonst zurückgreifen, die von Auschwitz ausgeht - "Hierdurch ist offenbar, dass sich die Menschen, solange sie ohne eine öffentliche Macht sind, die sie alle in Schrecken hält, in jenem Zustand befinden, den man Krieg nennt, und zwar im Krieg eines jeden gegen jeden" -, entwirft Reemtsma die Geschichte der Vergesellschaftung als einen Prozess ständiger Neujustierung des Verhältnisses von Vertrauen und Macht. Die immer rigidere Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse und die Fragmentierung der Macht, ein zunehmender Ekel vor körperlicher Grausamkeit und das damit einhergehende Verschwinden von öffentlicher Gewalt - Duellverbot, Verbot der Folter, Verbot der Todesstrafe - sind die Schritte eines Prozesses, bei dem der Einzelne sich seiner körperlichen Unversehrtheit immer sicherer sein konnte und bei dem das entsteht, was der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung "die atlantische Moderne" nennt.

Macht und Recht

Wobei allerdings, so gefestigt dieser Prozess auch erscheinen mag, weder die sich etablierende Macht noch das Recht, das an sie gebunden ist - "auctoritas, non veritas facit legem", heißt es bei Hobbes -, etwas ist, was man besäße. Macht wird nicht dem Mächtigen gewährt, sondern der, dem man sie überträgt, hat antizipieren können, dass der sie erlangen wird. Im Feld der Gewalt heißt solche Antizipation Drohung. Insofern verhalten Macht und Gewalt sich in der Gesellschaft wie kommunizierende Röhren, oder, mit Hannah Arendt, "wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist." Es bleibt also immer möglich, kodifiziertes Recht wieder personifizierter Herrschaft zu übereignen. Carl Schmitts Satz vom Führer, der das Recht setze, formulierte dies für den Faschismus.

Von solchem Ausnahmezustand einmal abgesehen, lassen sich, so Reemtsma, in allen Gesellschaften drei Zonen der Gewalt unterscheiden: verbotene, gebotene und erlaubte Gewalt. Im Boxring ist Gewalt erlaubt und geboten, will der Kämpfer nicht disqualifiziert werden, im Wirtshaus war sie vor noch gar nicht so langer Zeit nicht gänzlich verboten. Die Besonderheit unserer Zivilisation, die sie, wie Reemtsma betont, von allen anderen Kulturen unterscheidet, bestehe nun in dem Ideal, die Zone der verbotenen Gewalt immer weiter auszudehnen: "Von diesem Fortschritt lebt und zehrt unsere gesamte Kultur." Ein Fortschritt, der mit zunehmender Sensibilisierung gegenüber der Gewalt erkauft ist. "Unser Ideal von Zivilisation bringt eine dünnere Haut mit sich, anders gesagt: Es gehört zu den Zivilisationsleistungen, die Traumadisposition des Menschen zu erhöhen."

Diese Schutzlosigkeit ist die Bedingung jener drei Formen von Gewalt, die Reemtsma im Weiteren unterscheidet: lozierende, einen Körper, etwa im Krieg, verdrängende Gewalt, raptive Gewalt, die einen Körper besitzen will, "meist, um ihn sexuell zu benutzen", und schließlich autotelische Gewalt. Sie sinnlos zu nennen, wie es der Alltagsgebrauch tut, verkennt sie. Um diese Verkennung ist es Reemtsma zu tun.

Es fiele schwer, in diesem Interesse nicht den persönlichen Erfahrungshorizont zu erkennen, gelegentlich weist Reemtsma en passant auch auf ihn hin. Es gehört jedoch gleichermaßen zur Professionalität des Wissenschaftlers wie zur Befähigung des Autors, wie es ihm gelingt, diesen Hintergrund in Stil umzumünzen. Deutlich spürt man seiner hochbeweglichen Sprache die Arno Schmidtsche Lust am Gestischen an, den Gedankenfluss einen Moment lang zu einem schnoddrigen Aperçu gerinnen zu lassen - "All dies führt zu allerlei" -, um ihn dann wieder in langen Satzperioden strudelnd zu beschleunigen, dabei in völliger Dünkellosigkeit gegenüber seinen Quellen Schillers Wilhelm Tell neben Django - der mit dem Maschinengewehr im Sarg - geraten zu lassen, um dann im Rückgriff auf Kierkegaards Abraham-Figur den Phänotyp des Desperados zu beschreiben.

Dass sich hinter derlei eine bestimmte Utopie vom Denken in Sprache verbirgt, zeigt sich an der hellsten Stelle dieses notwendigerweise düsteren Buches: In einem kleinen Porträt Montaignes, den Reemtsma ausdrücklich gegen Descartes in Schutz nimmt. Wie er dies tut, sagt viel über ihn selbst. Descartes, heißt es, synthetisiere die Welt, "bis hin zu der Wegdefinierung jenes Ärgernisses, dass man, laut Montaigne, nicht wirklich wissen könne, ob ich mit meiner Katze spiele oder die mit mir: Die Tiere, so Descartes, seien Maschinen und spielten nicht. Er hatte keine Katze."

Tell und Django

Es ist diese Zone der Indifferenz, die Jan Philipp Reemtsma interessiert. Er gewinnt dort, etwa im Verhältnis von Täter und Opfer, von Vertrauen und Machtgabe, seine Beschreibung einer Dialektik der Anerkennung, die ebenso in der grauenhaften Intimität des Folterkellers - "Wir sind alles für Dich (. . .) Wir sind Gott!" - wie in den Großformationen staatlicher Gewalt wirksam ist. Immer gibt es die Partnerschaftlichkeit des Opfers, das in dem Moment, in dem es sein Opfer-Sein anerkennt, dieses Opfer erst ermöglicht.

Es gehört zu den luzidesten und grauenvollsten Stellen dieses luziden Buches, genau hier, wo die Muster von Unterwerfung und Vertrauen sich ebenso für die Liebe wie für die Folter reklamieren lassen, den gesellschaftlichen Ort der Herrschaft autotelischer Gewalt zu lokalisieren: "Vertrauen braucht Praxen, die es stabil halten; werden diese entschlossen destabilisiert, tritt - denn man kann nicht nicht vertrauen - an deren Stelle das Vertrauen in die destabilisierenden Praxen: Eine neue Stabilität etabliert sich, hier ist es das Vertrauen in die Gewalt." So ruhig lässt sich die Entstehung der Hölle beschreiben. "Man kann das tun: aus der modernen Zivilisation aussteigen."

Am Beispiel der "eschatologischen Säuberungen" des Stalinismus zeigt Reemtsma, wie das geht, "die moderne Gewaltaversion zu überwinden und Vertrauen in Gewalt als Lebensform zu gewinnen". Bleibt die Frage, warum diese Versuche stets als Betriebsunfall bewertet wurden, warum der Glaube an die Moderne nicht längst zerbrochen ist? Reemtsmas Antwort lautet, "dass das, was autotelische Gewalt kommuniziert, nicht verstanden wird, dass man Gewalt überhaupt nicht als Kommunikationsform zu lesen gewohnt ist".

Stets wird sie im Sinn einer wie auch immer gearteten Zweck-Mittel-Relation gedeutet oder als pathologisch stillgestellt. Um aber die Lust an der Vernichtung als soziales Handeln verstehen zu können, sollte man sich von dem Gedanken lösen, Gewalt finde nur zwischen Opfer und Täter statt, und sie stattdessen triadisch begreifen, als Kommunikation des Täters auf einen Dritten hin. Dies, so Reemtsma, geschehe am offensichtlichsten im Krieg, wo jeder Schuss nicht nur den Getroffenen meine, sondern als Drohung auch den, den der nächste Schuss treffen könnte. Der Soldat ist der eigentliche Experte der Gewaltkommunikation im Herzen der westlichen Zivilisation. Vermittler zwischen der Welt des Gesetzes und jener anderen, als deren Attribut wir nur Sinnlosigkeit nennen können.

Opfer und Täter

Eine Figur, die sich etwa auch im Werk Ernst Jüngers findet, das sich lesen ließe als Versuch, das Soldatische in diesem Sinn als Vermittlung abzubilden und damit von etwas zu sprechen, von dem, nach der Exklusion seines Standes, nicht gesprochen werden sollte. In den Glaskästen seiner Käfersammlung sich spiegelnd, mag Jünger sich selbst so als Aufgabe erschienen sein, Exemplar einer aussterbenden Gattung von Experten der Gewalt. Was zurückführt zu dem erwähnten Foto von Tom Cruise, bei dem es sich also wohl um ein Phantombild gehandelt haben muss. Wanted!

Ein seltsamer Faden spinnt sich so, noch vom letzten Jahr her, quer durchs Bewusstsein, einerseits an Tom Cruise' Wehrmachtsuniform festgemacht, andererseits an den Stiefeln des SS-Schergen Max Aue, den Jonathan Littell auf 1400 Seiten beschreibt. Doch man täusche sich nicht! In einer Zeit, in der das westliche Selbstverständnis von Angstszenarien bestimmt ist, wie sie etwa Wolfgang Sofsky skizzierte, und von Überlegungen wie denen des in der Politik hochangesehenen Staatsrechtlers Otto Depenheuer über die Kategorie des Feindes, der - ganz wie bei Carl Schmitt - außerhalb der Verfassung stehe und damit keine rechtsstaatlichen Garantien für sich beanspruchen dürfe, und in der über die Wiedereinführung der Folter überhaupt diskutiert wird, handelt es sich bei der Faszination für derlei um mehr als nur um schwarz-deutsche Glasperlenspiele.

"Wir können uns nur auf das Wie einer Lebensweise berufen", zitiert Reemtsma am Ende zustimmend Ernst Tugendhat, der so die Problematik jeder Verteidigung gegen den Terror fasst, die darin liegt, dass das verteidigende Gut nichts ist, das sich in Sicherheit bringen ließe. Es ist das Vertrauen selbst, was unsere Gesellschaft ausmacht, weshalb ihre strukturelle Offenheit nichts ist, was aufgegeben werden könnte, ohne dass wir uns selbst aufgäben.

Jan Philipp Reemtsma: "Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne". Hamburger Edition, Hamburg 2008, 576 Seiten, 30 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2008

Wir sind Gott
Jan Philipp Reemtsmas Studie über „Vertrauen und Gewalt”
Der zweite Tritt streckt das Opfer nieder. Seine Habseligkeiten liegen auf dem Bordstein verstreut: Portemonnaie, Schlüssel, Handy. Da ist nichts mehr zu holen, und dennoch lassen die Täter nicht ab. Schläge wechseln mit Tritten in die Magengrube, ins Gesicht . . . Die Öffentlichkeit kleidet ihren Abscheu vor solche Taten gern in die Formel von der „sinnlosen Brutalität”. Es geht den Schlägern ausschließlich darum, über einen anderen zu verfügen, seinen Körper zu zerstören, ihm Schmerz zu bereiten. Aber liegt nicht eben darin höchster Sinn für die Täter? „Wir sind Gott”, sagte ein argentinischer Folterer zu seinem Opfer – und gottgleich, allmächtig, mögen sich auch die Prügelnden fühlen. Sind sie darum pathologische Naturen?
Die Frage kehrt in den Geschichtsdebatten regelmäßig wieder. Rudolf Höß und Adolf Eichmann waren doch liebende, „ganz normale Familienväter”. Wie konnten sie „so etwas tun”? Wie anders?, hält Jan Philipp Reemtsma dagegen. Hätten sie daheim weiter morden sollen? Hätte sie die Erinnerung an die eigenen Kinder davon abhalten müssen, fremde zu erschlagen? Das gab es, aber der Gewissenskonflikt ließ sich aushalten – so wie ihn Schläger, Mörder, Folterer früherer Jahrhunderte ausgehalten haben. Oft lieferte der Gedanke an die Liebsten die Motivation zum Töten. Menschen können es und haben es immer getan. Dennoch, obwohl sie „offenkundig unsinnig” sei, wischt Reemtsma die „Wie-ist-es-möglich-Frage” nicht einfach vom Tisch. Er versteht sie als „Deck-Frage” und gewinnt so die Perspektive für seine ausgreifende Studie über eine „besondere Konstellation der Moderne”. Die verdeckte, und nicht leicht zu beantwortende Frage laute: „Wie ist es möglich, dass die Mörder unsere ganz normalen Väter wurden?”
Ausgebliebene Katastrophen
Es gab gute Gründe, nach dem „Zivilisationsbruch” von Auschwitz mit Folgekatastrophen zu rechnen, mit weiterer, anhaltender Barbarisierung. Stattdessen aber kam es zur unwahrscheinlichen, aber gelungenen Etablierung einer bürgerlichen Ordnung in Westdeutschland. Reemtsma will sich und seine Leser der „Irritation der ausgebliebenen Folgekatastrophen” aussetzen. Daher muss er drei Probleme klären: Wie kam es dazu, dass sich in der atlantischen Moderne eine kulturell wohl einmalige Gewalt-Aversion ausbildete, dass Gewalt stets besonderer Legitimation bedurfte? Die Moderne pflegt das Selbstbild, auf dem Weg in eine weitgehend gewaltfreie Zukunft zu sein. Wie aber kann dieses Bild aufrechterhalten werden angesichts der tatsächlichen Gewaltexzesse, angesichts von Gulag, Auschwitz, Hiroshima?
Die Moderne ist insgesamt ein Sonderweg der Geschichte. Wie kam es, dass man sich von ihm nicht verabschiedet hat, dass unser Vertrauen in die Moderne, wie skeptisch und gebrochen auch immer, dennoch erhalten blieb?
Man kann sich schwer ein ehrgeizigeres Unternehmen vorstellen. Dass es glückte, dass diese Studie über „Vertrauen und Gewalt” gelang, verdankt sich der kühnen Mischung von soziologischer Begriffsbildung und literaturwissenschaftlicher Deutungskunst. Mit Luhmann und Shakespeare im Gepäck unternimmt Reemtsma einen Streifzug durch die zurückliegenden Jahrhunderte. Vieles von dem, was er berichtet, hat man bereits gehört, aber er beleuchtet es auf eine neue Weise, so dass noch das am meisten vertraut Scheinende – etwa das Gewaltmonopol des Staates oder die funktionale Differenzierung der Gesellschaft – wieder intellektuell aufregend, herausfordernd wird.
Man kann nicht nicht vertrauen. Wir müssen unserem Handeln Annahmen über den Normalfall, über das regulär zu Erwartende zugrundelegen. Damit entwerfen wir ein Bild dessen, was wir sind oder sein wollen. Vertrauen in der Moderne wird bekanntermaßen nicht mehr durch den allumfassenden Inklusionsanspruch des Christentums garantiert. Stattdessen agieren wir in sozialen Rollen. Und wir vertrauen darauf, dass die Differenzierung gilt, dass wir als Sparkassenkunde, Käufer oder Kläger eben nur Kunde, Käufer, Kläger sind, dass ein „Mehr nicht eingefordert werden darf”. „In der Moderne”, fasst Reemtsma pointiert zusammen, „besteht das Vertrauen ,ins Ganze’ darin, dass dieses ,Ganze’ nicht ins Spiel gebracht wird.”
Begleitet wird die funktionale Differenzierung von einer Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates, wobei dessen Gewaltmonopol nicht statisch, sondern nur als Prozess zu verstehen ist. Macht wird fragmentiert und verrechtlicht. Die „normativ reichhaltige Idee ,Mensch’” entsteht, zu ihr gehört „Ekel vor Grausamkeit”, etwa beim Foltern von Hexen.
Reemtsma unterscheidet sehr einleuchtend drei Arten der Gewalt nach ihrem Bezug zum Körper: lozierende Gewalt, die über den Ort des Körpers im Raum bestimmen, ihn aus dem Weg schaffen will; raptive Gewalt, die den Körper in Besitz nehmen will, im Regelfall um ihn sexuell zu benutzen; autotelische Gewalt schließlich, die die Integrität des Körpers zerstören will. Autotelische Gewalt ist uns fremd geworden, sie hat in unserer Kultur keinen Ort, scheint vielmehr der Einbruch eines „radikal Bösen”.
Alle Gewalt steht modern unter ungeheurem Rechtfertigungsdruck. Legitim erscheint sie dann, wenn glaubhaft gemacht werden kann, dass sie Gewalt beendet oder Schlimmeres verhütet, wenn sie eine Aufgabe zu erfüllen hat, Mittel zum Zweck scheint. Wenn diese Strategie der instrumentellen Deutung scheitert, neigen wir dazu, Gewalt zu verrätseln, zu pathologisieren.
Aus dieser Perspektive deutet Reemtsma die Jahrhundertverbrechen des Stalinismus und des Nationalsozialismus noch einmal neu. Die Bolschewiken legitimierten Gewalt als Mittel der „eschatologischen Säuberung”. Gegen Klassenfeinde, gegen all jene, die dem kommunistischen Paradies im Weg standen, war Gewalt nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Dennoch blieb das Versprechen in Kraft, dass eines Tages, wenn die Ziele der Revolution erreicht worden sind, die politische Gewalt überflüssig werden würde. Diese Rhetorik verbindet die Revolutionäre mit der Moderne, wogegen die Rhetorik des Genozids mit ihr brach, indem sie „Gewalt zum Lebensprinzip der Volksgemeinschaft” deklarierte.
Reemtsma misstraut der Verrätselung und Pathologisierung von Gewalt ebenso wie instrumentellen Deutungen. So versteht er die medizinischen Experimente der NS-Ärzte eben nicht als wissenschaftlich-rationale, bei denen man sich über moralische Bedenken hinweggesetzt habe. Da wurden Häftlinge von Ärzten ohne Erfahrungen operiert, anschließend umgebracht. Man öffnete Schädel, um zu beobachten, wie das Gehirn funktioniert. Zurecht fragt Reemtsma: „Was wurde geübt?”
Diese autotelische Gewalt gleicht der von Kindern, die ihr Spielzeug zerstören und dann wegwerfen. „Wir sind Gott.” Die absolute Verfügung über andere Körper nimmt die Lektion zurück, die jeder lernen muss: dass es Allmacht nicht gibt.
Dieses Buch besticht durch eine doppelte Tugend: Gewalt, Brutalität, Grausamkeit werden hier sehr ernst genommen, nicht wegerklärt, in die Ferne oder Vergangenheit verbannt. Solange es Menschen gibt, ist damit zu rechnen, ist „es” wieder möglich. Zugleich aber vermeidet Reemtsma jede Koketterie mit der eigenen Unempfindlichkeit. An keiner Stelle teilt er die Bewunderung vieler Intellektueller für die auftrumpfende Virilität der Schläger. Er zieht in seiner Studie eine persönliche Summe seiner intellektuellen Entwicklung und der Arbeit am Hamburger Institut für Sozialforschung seit der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht.
Vor allem aber erneuert er eine Form des Nachdenkens, die im Jahrhundert der Aufklärung erprobt wurde: Er inszeniert ein Gespräch mit dem Leser, sucht vor allem die richtigen Fragen. Ohne die Idee der Humanität zugunsten eines angeblichen Realismus preiszugeben, fragt er, wie Menschen wirklich handeln und wie sie sich ihr Handeln erklären. Illusionen werden als solche benannt, aber nicht denunziert, sondern als notwendige erwiesen. Reemtsma zieht Theorien, historische Dokumente, Literatur und Filme – vor allem Western – gleichberechtigt zur Deutung heran.
Die Fülle der Gesichtspunkte droht beinahe, das Buch zu zerreißen. Zusammengehalten wird es durch die Treue des Autors gegenüber seinem ursprünglichen Impuls: der Angst ihr Recht werden zu lassen und daraus Selbstbewusstsein zu gewinnen. Wer in den kommenden Jahren vernünftig über Gewalt sprechen will, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. JENS BISKY
JAN PHILIPP REEMTSMA: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburger Edition, Hamburg 2008. 576 Seiten, 30 Euro.
Der Desperado, hier Franco Nero in „Django” (1966), ist maulfaul, hoch moralisch und befreit eine Stadt vom Gesindel. Foto: defd
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Jan Philipp Reemtsmas neues Buch über "Vertrauen und Gewalt" hat Claus Leggewie tief beeindruckt. Er würdigt es als "Opus magnum" des Literaturwissenschaftlers und als Zwischensumme der Arbeiten des von ihm gegründeten Hamburger Instituts für Sozialforschung. Reemtsmas Blick auf die Gewalt scheint ihm zwar "erschrocken über die Potenz des Inhumanen", zugleich aber wohltuend nüchtern und fern von jeder Sensationsgier. Besonders unterstreicht er die reizvolle Einbeziehung von Mythologie, Literatur, Populärkultur und Gesellschaftstheorie. Im Zentrum sieht Leggewie die immer wieder gestellte Frage der Mutter Kempowski ("Wie isses nun bloß möglich?"), die Reemtsma in fünf großen Kapiteln beantwortet. Neben der Untersuchung des Vertrauens in der und in die Moderne und der Gegenüberstellung von Macht und Gewalt, die insbesondere die rätselhafte Gewalt um ihrer selbst willen ("autotelische Gewalt") in den Blick nimmt, gehe es um Delegitimationen und Relegitimationen der Gewalt, um die Erfahrungen totalitären Terrors bis in die Gegenwart und Gewalt und Kommunikation. Leggewie liest das Buch als Fortschreibung von Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung" und hebt es in den Rang eben dieses Werks. Sein Fazit: "Dieses Buch muss jeder gelesen haben, der über die Moderne nachdenken will."

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