Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 16,00 €
  • Gebundenes Buch

Luther ist so eng mit der deutschen Geschichte verbunden, dass sein Verhältnis zu den Juden für alle eine schwere Bürde ist. Zur 500-Jahrfeier des Reformationsbeginns werden wir vor tiefen Widersprüchen stehen. 1523 schreibt Luther über die Juden: "Will man ihnen helfen, so muss man. sie freundlich annehmen, muss sie Gewerbe treiben und arbeiten lassen"1543 aber forderte er erschreckende Gewaltmaßnahmen, auf die sich die Antisemiten immer wieder berufen haben: "Zum ersten: dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke. Zum zweiten, dass man auch ihre Häuser in gleicher Weise zerbreche und zerstöre".…mehr

Produktbeschreibung
Luther ist so eng mit der deutschen Geschichte verbunden, dass sein Verhältnis zu den Juden für alle eine schwere Bürde ist. Zur 500-Jahrfeier des Reformationsbeginns werden wir vor tiefen Widersprüchen stehen. 1523 schreibt Luther über die Juden: "Will man ihnen helfen, so muss man. sie freundlich annehmen, muss sie Gewerbe treiben und arbeiten lassen"1543 aber forderte er erschreckende Gewaltmaßnahmen, auf die sich die Antisemiten immer wieder berufen haben: "Zum ersten: dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke. Zum zweiten, dass man auch ihre Häuser in gleicher Weise zerbreche und zerstöre".
Autorenporträt
Dietz Bering lehrte an der Universität zu Köln historische Sprachwissenschaften. 1981 gehörte er zu den Gründungsfellows des "Wissenschaftskollegs zu Berlin". Grundlegende Werke: "Der Name als Stigma Alltagsantisemitismus 1812-1933" (1987), "Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels" (1991). Bei der BUP sind erschienen "Die Epoche der Intellektuellen. 1889-2001" (2010) und "Die Intellektuellen im Streit der Meinungen" (2011)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2014

Ritualmorde keinesfalls ausgeschlossen
War Luther Antisemit? Zwei Bücher versuchen zu erklären, warum der Reformator so unversöhnlich über die Juden herzog

Im September des Jahres 1517 publizierte der Augustinermönch Martin Luther in Wittenberg 95 Thesen wider den päpstlich verfügten Ablasshandel - eines jener Ereignisse, die zur Reformation führen sollten. Die Evangelische Kirche in Deutschland wird des fünfhundertsten Jahrestages des Ereignisses in einem eigenen Lutherjahr gedenken, mit dessen Vorbereitung und Durchführung die ehemalige Vorsitzende der EKD, Margot Käßmann, betraut worden ist. Seit 2011 "Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017", hat sie keines leichten Amtes zu walten, ist doch unbestreitbar, dass dieser geniale Erneuerer des christlichen Glaubens nicht nur ein auf bürgerliche Klassenherrschaft setzender politischer Denker, sondern auch ein glühender Judenhasser war, den manche für einen Vorläufer der nationalsozialistischen Judenvernichtung halten.

Tatsächlich: In einer seiner letzten Schriften "Von den Jüden und ihren Lügen" aus dem Jahre 1546 schien Luther alles vorgeschlagen zu haben, was die Nationalsozialisten später exekutierten: Zwangsarbeit, Vertreibung, Verbrennung von Synagogen und Büchern - mit Ausnahme massenhafter, geplanter Ermordung. Es war diese Schrift, die einen wichtigen Funktionär der Deutschen Christen, den thüringischen Landesbischof Sasse, dazu brachte, am 10. November 1938, nach den Synagogenbränden, Luther lobend als den "größten Antisemiten seiner Zeit" zu feiern, sowie Julius Streicher in Nürnberg zu der Bemerkung provozierte, dass statt seiner Martin Luther auf der Anklagebank sitzen müsste.

Genauen und verlässlichen Aufschluss über die heikle Thematik bieten nun zwei Neuerscheinungen: Der Historiker und Linguist Dietz Bering, durch eine Arbeit über die politische Verwendung des Begriffs des "Intellektuellen" in Deutschland bekannt, legt eine Studie unter dem Titel "War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe" vor, während der Göttinger Reformationshistoriker Thomas Kaufmann, dem nicht nur eine großangelegte Geschichte der Reformation, sondern auch eine Studie zur Wahrnehmung der Türken in Spätmittelalter und Reformation zu verdanken ist, bereits sein zweites Buch zu Luthers Verhältnis zu Juden und Judentum geschrieben hat.

Beide Bücher lassen, was die klare, quellengesättigte Darstellung von Luthers Antisemitismus angeht, nichts zu wünschen übrig. Beide Autoren stimmen darin überein, dass es keinen unhistorischen Fehlgriff darstellt, Martin Luther als einen die Juden als Volksgruppe und nicht nur als Glaubensgemeinschaft verunglimpfenden und - ja - hassenden Judenfeind anzusehen, als einen "Antisemiten" - Jahrhunderte bevor Judenfeinde sich selbst so bezeichneten. Lange Zeit gingen vor allem theologische Überlegungen davon aus, dass es Luthers Antijudaismus gewesen sei, der ihn vor allem am Ende seines Lebens mehr aus persönlichen denn aus systematischen Motiven heraus zu seinen Ausfällen getrieben habe. Aber sowohl Berings als auch Kaufmanns Studie weisen nach, dass sich Luthers Haltung zu den Juden in theologischer Hinsicht von seinen frühen bis zu seinen späten Schriften und Predigten gar nicht verändert hat. Tatsächlich war er trotz seines frühen Zugeständnisses, "dass unser Herr Jesus ein geborener Jude war", bis zu seinen späten antisemitischen Ausfällen zwar von der bleibenden Erwählung der Juden überzeugt - obwohl er stets darauf beharrte, dass die Juden mit ihrer hartnäckigen Ablehnung der Messianität Jesu und der Trinitätslehre ein religionspolitisches Ärgernis waren. Zu erklären ist also, warum er in seiner früheren Schrift den Juden gleichsam entgegenkam, während er sie zwanzig Jahre später drangsalieren, berauben und vertreiben lassen wollte.

Als identisches Motiv erweist sich in beiden Fällen der Wunsch, die Juden mögen sich zum Christentum bekennen. Doch während Luther in seiner Frühphase - in Abgrenzung von Anstrengungen katholischer Prediger - der Überzeugung war, dass dieses Ziel durch Anerkennung und freundliches Entgegenkommen erreichbar sei, kam er später zu dem Schluss, dass die Hartnäckigkeit der Juden, ihre angebliche Praxis, in den Synagogen den christlichen Glauben zu verunglimpfen, sowie der Verdacht, sie könnten Proselyten machen, nur durch Vertreibung zu bekämpfen sei. Dieser Sinneswandel ging so weit, dass der späte Luther Annahmen, die er 1523 noch zurückgewiesen hatte - nämlich dass Juden Hostienfrevel und Ritualmorde begingen -, wieder für möglich hielt. Als Kontext dieser Überzeugungen mag der vor allem die Juden als Wucherer ansehende frühneuzeitliche Judenhass gelten; bei allen Versuchen, Luthers Gesinnungswandel psychologisch zu erklären, bleibt gleichwohl festzustellen, dass er selbst nur geringe Erfahrungen mit Juden hatte - sieht man von einigen sporadischen Gesprächen und Korrespondenzen ab.

An der Lösung des Rätsels freilich scheiden sich die Geister. Während Thomas Kaufmann, der bereits 2011 ein quellengesättigtes, wissenschaftliches Werk zu Luthers "Judenschriften" vorgelegt hat, mit seiner neuen und in keiner Hinsicht mit dem älteren Buch identischen Schrift "Luthers Juden" eine im besten Sinn narrative, historische Darstellung vorlegt, ist Dietz Bering um eine starke, humanwissenschaftliche Erklärung bemüht. Bering bietet, spekulativ genug, eine Art metabiologischer Erklärung auf: Biologische Einzelwesen oder Arten, die sich einander als zu nahe empfinden, seien um "Kontrastbetonung" bemüht; eine Annahme, für die nicht nur Verhaltensforschung, Wahrnehmungsphysiologie und Linguistik, sondern auch Sigmund Freuds Psychoanalyse bürgen sollen. Freilich krankt diese Erklärung daran, dass hier "Juden" und "Deutsche" in essentialistischer Weise zu zwei unterschiedlichen "Arten" erklärt werden, und daran, dass solche "Kontrastbetonung" - soll sie denn eine plausible Annahme sein - auf beide Partner in einer solchen Konstellation zutreffen müsste.

Dass aber die Juden - seien es jene, die man als assimilationswillig bezeichnet, seien es jene, die als Reaktion auf den Antisemitismus zu Nationaljuden, zu Zionisten wurden - diesen Kontrast gerade nicht betonten, spricht gegen Berings Argument. Das ist dem Autor auch durchaus bewusst, weshalb er diese Überlegung auch immer wieder einschränkt. Als historisch plausibler Kern bleibt vielleicht, dass Gegner und Feinde Luthers, zumal aus dem katholischen Lager, ihn selbst judaisierender Tendenzen beschuldigten. Starke Ähnlichkeiten zwischen Judentum und reformatorischem Christentum sieht Bering nicht nur in beider literalen Kultur, sondern auch in einer theologischen "Nahstellung": "Beide", so Bering, "müssen als Sünder leben und dauernd Buße tun."

Freilich ist mit Blick auf das real existierende, rabbinische Judentum auch der Reformationszeit einzuwenden, dass diese Aussage schlicht falsch ist: Im rabbinischen Judentum gibt es zwar einzelne Bußtage, deren höchster der Versöhnungstag ist, aber keineswegs ein auf dauerndem schlechtem Gewissen aufbauendes Schuldbewusstsein. In dieser Hinsicht hatte Luther mit dem auch das Judentum angreifenden Vorwurf der "Werkgerechtigkeit", also einer Einstellung, die durch ein gottgefälliges Leben Gnade erreichen wollte, eher recht.

Thomas Kaufmanns den spätmittelalterlichen Kontext und Luthers persönliche Lebensgeschichte quellennah verschränkende Darstellung kommt der Lösung des Rätsels näher. Von Schmerz und Krankheit gequält, von Familientragödien wie dem Tode seiner Tochter Lenchen erschüttert, sei Luther mit seiner Schrift "Von den Jüden und ihren Lügen" einer Pflicht nachgekommen, die er sich selbst gegenüber empfand: "Der andere Weg", so Thomas Kaufmann, "war gescheitert, einen nennenswerten Zustrom von Konvertiten aus dem Judentum hatte die reformatorische Kirche nicht erreicht. Für Luther gab es keinen Grund mehr, die ,definitiven Wahrheiten' über die Juden aufzuschieben. Die Zeit drängte, die Kräfte ließen nach. Der durch den Tod der Tochter ,Abgestorbene' ,nekrotisierte' sich weiter, indem er seine letzte Schlacht gegen die Juden, die ärgsten Feinde seines Herrn, führte."

Wenn diese Deutung schlüssig ist, lässt sich sogar Berings "Kontrastbetonung" noch ein Sinn abgewinnen: Luther, dessen religiöses Genie sich - wie schon der Psychoanalytiker Erik Erikson in seinem erstmals 1958 publizierten Buch über den jungen Mann Luther gezeigt hat - nicht zuletzt aus Angst speiste, sah in den Juden Objekte der Strafe Gottes. Identifizierte er sich in seiner Existenzangst mit ihnen? In einem Brief aus der Zeit der Abfassung der Judenschrift schrieb Luther: "Ich bin zwar kein Jüde, aber ich dencke mit ernst nicht gern an solchen grausamen zorn Gottes uber dis volck, denn ich erschrecke, das mirs durch leib und leben gehet ..."

MICHA BRUMLIK.

Dietz Bering: "War Luther Antisemit?" Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin University Press, Berlin 2014. 340 S., geb., 29,90 [Euro].

Thomas Kaufmann: "Luthers Juden". Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 203 S., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2015

Gespenstische Bilder
Dietz Bering untersucht Luthers Antisemitismus – und macht den Fehler, das Thema
im Horizont einer deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte zu behandeln. Von Thomas Kaufmann
Das Thema „Luther und die Juden“ findet derzeit ähnlich große Aufmerksamkeit wie sonst nur Themen der Zeitgeschichte. Recht betrachtet, ist es auch in diesem Fall nicht das 16. Jahrhundert, sondern die jüngere und jüngste Vergangenheit, die in den Bann zieht. Der vor allem durch die Geschichtspolitik des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus unheimlich präsent gewordene „stiernackige Gottesbarbar“ (Thomas Mann) wirkt als faszinierend-verschreckende Inkarnation deutschen Wesens nach. Bei keiner anderen Gestalt der deutschen Geschichte ist es so nötig, sie beharrlich zu historisieren und sie in die Schranken ihrer eigenen Epoche zu weisen.
  Vor allem die Wirkungsgeschichte des Judenfeindes Luther im „Dritten Reich“ ist es, die literarische Akteure auf die Walstatt lockt, die weder professionelle „Lutherforscher“ noch „Reformationshistoriker“ sind. Der Autor des hier anzuzeigenden Buches hat sich bisher vornehmlich in der Literatur- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bewegt. Dass hier, aber auch nur hier seine Stärken liegen, ist unübersehbar. In den den „historischen Luther“, das heißt die Gestalt des 16. Jahrhunderts, betreffenden Passagen des Buches, liefert Bering eine um Gemeinverständlichkeit bemühte Zusammenfassung der intensiv studierten und extensiv ausgeschriebenen Sekundärliteratur.
  Wie anderen Autoren, die sich mit dem Thema abgequält haben, geht es auch Bering im Kern um die Frage, wie die Wandlung des im Jahre 1523 „judenfreundlichen“ jüngeren Reformators zum geifernden Scheusal der 1540er-Jahre zu erklären ist, der in den Juden Abschaum, fleischgewordene Teufel, zu vertreibende Christus- und Christenfeinde sah. Als Antwort hat Bering einen universalen Erklärungsschlüssel parat: die Kontrastbetonung. Damit ist ein aus Psychologie, Biologie, Literatur, Philosophie, Verhaltensforschung, überhaupt der menschlichen Erfahrung bekanntes Reiz-Reaktions-Schema gemeint: dass Personen und Gruppen, die sich besonders nahegekommen sind, aufgrund bestimmter Umstände oder gar traumatischer Entzweiungen Abgrenzungsidentitäten ausbilden und ihr eigenes Wesen in scharfem Gegensatz zu einem anderen ausbilden.
  Bering illustriert diesen Allerweltsmechanismus anhand von Beispielen aus dem 19. Jahrhundert, als etwa völkische Autoren die Ähnlichkeit assimilierter „deutscher Juden“ und „normaler Deutscher“ zum Anlass nahmen, dies zu skandalisieren. Der Grundirrtum des Buches aber besteht darin, dass der Autor meint, vom 19. Jahrhundert her das 16., von dezidiert nationalistischen Haltungen her pränationale Mentalitäten erklären zu können.
  Anhand eines Katalogs unterschiedlicher Aspekte will Bering plausibel machen, dass Luthers Verständnis des Christentums in eine gefährliche, den Mechanismus der Kontrastbetonung freisetzende Nähe zum Judentum geraten sei. Indem der Wittenberger Reformator das sakramentale Priestertum, den Zölibat, das Mönchtum und die Klöster abgeschafft, die Heiligen, Bilder und Reliquien diskreditiert und eine Konzentration auf die „Schrift allein“ propagiert habe, habe er das reformatorische Christentum an das Judentum herangeführt. Dass diese Deutung dem Selbstverständnis des Reformators zutiefst widerspricht, stört den in tiefsten Tiefen der Psyche gründelnden Kontrastforscher nicht.
  Im 16. Jahrhundert ist bei katholischen Autoren gegenüber Luther und einigen seiner Anhänger das Kritikstereotyp verbreitet, sie „verjudeten“ das Christentum. Bei völkischen und nationalsozialistischen Ideologen taucht es wieder auf. Mittels des Konzepts der Kontrastbetonung soll es bei Bering die Qualität eines stechenden Beweises erhalten.
  Die als Analogien bemühten Beispiele für den Mechanismus der Kontrastbetonung in Natur und Kultur basieren freilich durchweg auf „realen“ Sachverhalten. Gerade dies ist aber bei „Luther und den Juden“ schwerlich der Fall. Denn nach allem, was man begründet sagen kann, beschränkten sich seine persönlichen Kontakte zu Juden auf ganz wenige Begegnungen. Ob ihm von der sehr positiven Resonanz, die er zunächst in jüdischen Kreisen fand, allzu viel bekannt geworden ist, ist eher unsicher; Indizien, dass ihn dies zu einer distanzierenden Betonung der Differenz veranlasst hätte, gibt es kaum. Für das Phantomhafte, Phantasmagorische, Gespenstische, ja Fiktionale, das Luthers Bild der Juden bestimmt, hat Bering kaum ein Sensorium.
  In seiner Luther-Interpretation geht er auch deshalb in die Irre, weil er nicht hinreichend gründlich zwischen einer theologisch konstanten Kritik am Judentum und variierenden „judenpolitischen“ Optionen unterscheidet. Überdies betont er bei der Schrift von 1523 nicht stark genug, dass hier der endzeitliche Kampf gegen die römische Kirche zentral ist. Nichts hätte die Wahrheit der reformatorischen Bewegung und ihrer Lehre, auch die Unwahrheit des Papstes eindrücklicher beweisen können als eine nennenswerte Anzahl bekehrter Juden. Eine legitime religiöse Option war das Judentum für Luther niemals; das Alte Testament stand seines Erachtens dagegen. Diese theologische Kontinuitätslinie dominiert alle Äußerungen Luthers in allen Lebensphasen.
  Doch zur Hauptfrage, die den Titel des Buches bildet: „War Luther Antisemit?“ Mit Bering bejahe ich sie. Gegen Bering aber insistiere ich darauf, dass sie mit dem präzisierenden Zusatz „vormodern“ zu versehen ist. Angemessen ist es, Luther mit dem erst im späten 19. Jahrhundert aufgekommenen Begriff „Antisemitismus“ zu bezeichnen, weil er immer wieder von einer „Wesensnatur“ der Juden her argumentiert und – was freilich zeitgenössisch verbreitet war – von daher die Wirksamkeit von Judentaufen skeptisch beurteilte. „Vormodern“ deshalb, weil Luther eine biologistische Rassentheorie, die den Kern des mörderischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts bildete, fremd war. Dagegen, Luther „nur“ einen vornehmlich religiös bestimmten „Antijudaismus“ zu attestieren, spricht, dass dieser Begriff die evidenten Zusammenhänge zwischen der alteuropäischen Judenfeindschaft und dem modernen Antisemitismus verschleiert.
  Dass Luther den religiösen Anspruch an konvertierende Juden, die „rechte Christen“ werden sollten, steigerte, unterschied ihn von einer katholisch-sakramentstheologischen Haltung, die ganz auf das Taufsakrament setzte. Im Unterschied zu Bering und auch manchen völkischen Interpreten, die durch die Fixierung auf den Wittenberger Reformator die Breite und Tiefe der Judenfeindschaft in den europäischen Gesellschaften der „Vormoderne“ übersehen, vermag ich nicht einzusehen, dass man allein Luther zum wichtigsten Referenzpunkt des Judenhasses macht.
  Bei Bering aber entsteht geradezu der Eindruck, Luther habe den Antisemitismus erfunden. Das geht nicht an; Luther ist ein sicher besonders gruseliger und wirkungsreicher, aber doch nur ein Vertreter eines im 16. Jahrhunderts breit zu belegenden „vormodernen Antisemitismus“.
  Berings Grundfehler besteht darin, das Thema „Luther und die Juden“ im Horizont einer „deutsch-jüdischen“ Beziehungsgeschichte zu behandeln. Gerade diese Dimension spielt bei Luther keine Rolle. Davon, dass Juden angeblich keine Deutschen sein können, wusste der Wittenberger nichts. Ihn von der Übermacht des 19. Jahrhunderts zu befreien, gegen den monumentalen Berserker den fehlbaren Menschen des 16. Jahrhunderts freizulegen, ist auch gegenüber diesem Luther-Buch geboten.
Der Autor lehrt als Professor für Kirchengeschichte in Göttingen. 2014 erschien sein Buch „Luthers Juden“ im Reclam-Verlag.
Eine legitime religiöse
Option war das Judentum
für Luther niemals
    
  
  
Dietz Bering: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin University Press, Berlin 2014. 322 Seiten, 29,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, misstraut dem durch intensive Beschäftigung mit dem 19. und 20. Jahrhundert geprägten Blick Dietz Berings auf Luther, den "stiernackigen Gottesbarbar", wie Thomas Mann ihn einmal genannt hat, vor allem misstraut er aber dem "universalen Erklärungsschlüssel", den der Autor in "War Luther Antisemit?" gefunden zu haben meint: für Bering sei klar, dass die extreme Abgrenzung das Ergebnis einer extremen Nähe sei, die Kontrastbetonung die Folge einer als bedrohlich wahrgenommenen Ähnlichkeit, fasst der Rezensent zusammen. Aufgrund dieses Schemas F entgehen Bering dann wesentliche Unterschiede zwischen theologischen und politischen Standpunkten Luthers sowie zwischen dem religiös motivierten Antisemitismus des sechzehnten und dem biologistischen Rassismus des zwanzigsten Jahrhunderts, erklärt Kaufmann.

© Perlentaucher Medien GmbH