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»Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.« So schließt der Brief, in dem Hannah Arendt im Oktober 1940 Gershom Scholem mitteilt, daß sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis das Leben genommen hat. In Zeiten größter Bedrohung beginnt eine Korrespondenz, die getragen ist vom Engagement für das Werk des gemeinsamen Freundes und in der von New York und Jerusalem aus immer die Welt des europäischen Judentums im Blick bleiben wird. Im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction, deren Ziel die Rettung der von den Nazis geraubten jüdischen Kulturgüter ist, reisen Hannah…mehr

Produktbeschreibung
»Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.« So schließt der Brief, in dem Hannah Arendt im Oktober 1940 Gershom Scholem mitteilt, daß sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis das Leben genommen hat. In Zeiten größter Bedrohung beginnt eine Korrespondenz, die getragen ist vom Engagement für das Werk des gemeinsamen Freundes und in der von New York und Jerusalem aus immer die Welt des europäischen Judentums im Blick bleiben wird. Im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction, deren Ziel die Rettung der von den Nazis geraubten jüdischen Kulturgüter ist, reisen Hannah Arendt wie auch Gershom Scholem in den frühen Nachkriegsjahren erstmals wieder nach Deutschland. Dieses weitgehend unbekannte Kapitel in beider Geschichte wird über die Briefe hinaus durch bislang unveröffentlichte Berichte Hannah Arendts von ihrer Deutschlandreise 1949/50 dokumentiert. 1963 erscheint Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ihre darin geäußerte Kritik an jüdischen Repräsentanten während der Zeit der Shoah wird von Gershom Scholem in einer auch öffentlich ausgetragenen Kontroverse radikal verworfen: Der über mehr als zwei Jahrzehnte aufrechterhaltene Dialog in Briefen endet im Schweigen.Der erstmals publizierte Briefwechsel von Hannah Arendt und Gershom Scholem ist ein einzigartiges zeithistorisches Dokument: eine Auseinandersetzung über entscheidende Fragen jüdischer Geschichte und jüdisches Selbstverständnis nach der Shoah, geführt von zwei der bedeutendsten Denker deutsch-jüdischer Herkunft im 20. Jahrhundert.
Autorenporträt
Gershom Scholem (1897-1982) begründete mit seinen Werken einen neuen Forschungszweig: die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Mystik, die ein neues Verständnis des Judentums und der jüdischen Geschichte eröffnet hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Der große Nationalist und die Intellektuelle

Ihre Briefe sind ein historisches Dokument: Gershom Scholem und Hannah Arendt schätzten einander, aber ihre Unterschiede wurden zum Widerspruch.

Von Lorenz Jäger

Man ist geneigt, die Sätze, die Benjamin dem Roman "Der Idiot" widmete, auf Gershom Scholem zu beziehen, den engsten Freund, den Benjamin damals, um 1920, und wohl jemals hatte: "Das Schicksal der Welt stellt sich Dostojewski im Medium des Schicksals seines Volkes dar. Das ist die typische Anschauungsweise der großen Nationalisten, nach der die Humanität nur im Medium des Volkstums sich entfalten kann." Scholem lebte und dachte aus der Gewissheit des Judentums, das er sich freilich auf sehr eigene Weise auslegte, nämlich in der Gestalt seiner Mystik, der bislang verachteten Kabbala, die er erforschte - aber ebenso als Volkszusammenhang, als genealogische Kette, und schließlich als "Zion", wie der Ausdruck lautete, den er für seine neue Heimat bevorzugte.

Nun war Hannah Arendt alles Mögliche: eine bedeutende Philosophin und intellektuelle Schriftstellerin, vor allem sicher eine geniale Zeitdiagnostikerin - von ihrem Lehrer Martin Heidegger hatte sie nicht umsonst die Idee aufgenommen, dass das "Ereignis" zur philosophischen Kategorie werden kann. Nur gerade eine große Nationalistin war sie nicht. Ihre jüdische Erfahrung, wenn man das so sagen darf, war eine der prekären Lage in Europa, des Paria-Seins, des Antisemitismus, der schwierigen Situation Rahel Varnhagens - all diesen Momenten widmete sie Bücher oder Essays. Ihre Haltung dürfte der heutigen Intelligenz vermutlich einleuchtender sein, während man seit Solschenizyns Tod einen "großen Nationalisten" nicht mehr leicht finden wird. Ihr Blick aufs Jüdische und der von Scholem waren von Beginn an so unverwechselbar, dass sich der grundsätzliche Unterschied mit der Zeit zum Widerspruch auswuchs. Zion war für Scholem seit seiner Jugend ein Stern, nicht so für Arendt. Davon berichtet dieser Briefwechsel.

Im Zeichen Benjamins, mit dem auch Hannah Arendt sich im Pariser Exil angefreundet hatte, stehen viele dieser Briefe. Gleich der erste vom Mai 1939 berichtet von Hannah Arendts "großen Sorgen" um "Benji". Aber diese Sorgen - materieller Art, nachdem das Institut für Sozialforschung sein Stipendium aussetzte - waren nur ein Vorspiel für die größeren, die in der unbesetzten Zone Frankreichs und nach Internierungen nun kamen. Schon der zweite Brief, am 21. Oktober 1940 aus Montauban gesendet, meldete Benjamins Selbstmord, mit der Beifügung: "Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde." Im Oktober 1941 schreibt sie ihm aus New York, und in diesem Brief finden sich nun die merkwürdigsten Einzelheiten über Benjamins letzte Lebensmonate. Unheimlich sind die rechtfertigenden Andeutungen über den Selbstmord, die Benjamin ihr schon früh machte und die sie hier überliefert.

Dann geht es um das Nachleben Benjamins, dem beide Briefpartner sich verpflichtet sehen. Eine Philosophin muss keine Menschenkennerin sein. Was Hannah Arendt an Scholem über die Lage des Benjamin-Nachlasses aus den Vereinigten Staaten meldete, war so verzerrt von ihren Zu- und in diesem Fall eher Abneigungen, dass man nur den Kopf schütteln kann. Über Max Horkheimer finden sich die schärfsten Worte - hier stimmt Scholem ihr auch bei. Ihn hatte Horkheimers Essay über "Die Juden und Europa" erbittert, in dem der Leiter des Instituts für Sozialforschung gut marxistisch immer noch daran festhalten wollte, das Ziel der Pogrome sei eigentlich die Einschüchterung der Arbeiterschaft. Sie deutet an, das Institut - eine "Bande" - werde Benjamins Nachlass vermutlich sekretieren und für eigene Arbeiten selektiv ausbeuten. Scholem bleibt in diesem Punkt weit gelassener, vor allem unterschiebt er Adorno keine illoyalen Motive, wie es Hannah Arendt ziemlich ungehemmt tat.

Man findet in diesen Briefen natürlich auch die üblichen geistvollen und sehr amüsanten Anekdoten-Boshaftigkeiten. Dazu gelegentlich aufschlussreiche Sittenbilder. Hannah Arendts Einfluss in den Vereinigten Staaten bleibt zunächst beschränkt. "Es hängt natürlich auch damit zusammen", schreibt sie, "dass ich in einer mixed marriage lebe für hiesige Verhältnisse ein Kapitalverbrechen." Ähnlich klingt die Anmerkung über eine Abendgesellschaft in jüdisch-amerikanischen Kreisen, zu der sie ihren Ehemann Heinrich Blücher nicht mitnehmen kann: "Monsieur hatte ich sicherheitshalber wegen goj und so zu Hause gelassen."

Schon gegenüber Horkheimer und Adorno fallen Hannah Arendts nassforsche briefliche Urteile über andere Personen auf. Im Juni 1963 wird diese Haltung zum Auslöser des entscheidenden Konflikts mit Scholem. Ihr Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" war erschienen. Sie, die vom "Ereignis" her dachte, dem sie sein Geheimnis abgewinnen wollte, hatte 1961 an dem Prozess gegen einen der Hauptorganisatoren der Judenvernichtung teilgenommen. Kontrovers war ihr Buch von Beginn an. Der Streit hatte zwei Hauptthemen: Zum einen entzündete er sich an der Frage der "Banalität", die schon der Titel aufwarf, zum anderen an der Haltung der "Judenräte". Waren die Menschen, die diesen Institutionen angehört hatten, der Kollaboration schuldig geworden?

Scholems Antwort (es ist der längste Brief der ganzen Korrespondenz) ist von großem, fast möchte man sagen: biblischem Ernst. "Es gibt Aspekte der jüdischen Geschichte (und mit der beschäftige ich mich schließlich seit 50 Jahren), die der Abgründigkeit keineswegs entbehren: Dämonische Verfallenheit ans Leben, Unsicherheit in der Orientierung in dieser Welt (der die Sicherheit der Frommen gegenüber steht, von der in Ihrem Buch auf ergreifende Weise nicht die Rede ist), Schwäche, die mit Heroismus auf unendlich vertrakte Weise verschlungen ist, auch Lumperei und Herrschsucht. Das alles hat es immer gegeben und in einer Zeit der Katastrophe wäre es sonderbar, wenn es nicht in irgendwelchen Phänomenen zur Geltung gekommen wäre."

Das Problem der Schwäche der Juden angesichts der Vernichtungsmaschine gesteht er zu. Dennoch: Das Buch hinterlasse ein "Gefühl der Bitterkeit und der Scham, nicht über das Referierte, sondern über die Referentin". Und dann spricht der große Nationalist über die Ursache dieser Empfindung: "Es ist der herzlose, ja oft geradezu hämische Ton, in dem diese, uns im wirklichen Herzen unseres Lebens angehende Sache, bei ihnen abgehandelt wird. Es gibt in der jüdischen Sprache etwas durchaus nicht zu definierendes und völlig konkretes, was die Juden Ahabath Israel nennen, Liebe zu den Juden. Davon ist bei Ihnen, liebe Hannah, wie bei so manchen Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind, nichts zu merken."

Im Nachwort von Marie-Luise Knott stutzt man gelegentlich angesichts von wohlmeinenden Schiefheiten. "Scholem trachtete danach, Moses Maimonides, Sabbatai Zwi und Jakob Frank wieder in der Geistesgeschichte zu verankern - wie Lichtenberg, Lessing und Schlegel." Wirklich? Für Sabbatai Zwi und den merkwürdigen Jakob Frank wird man diesem Urteil ohne Zögern beipflichten, dem Ersteren hat Scholem einen umfangreichen Band, dem Zweiten mehrere Abhandlungen gewidmet. Aber Maimonides? Er, sicher der bekannteste jüdische Denker vor Spinoza, brauchte auf Scholem als seinen Entdecker wahrlich nicht zu warten - und vor allem: War nicht gerade Maimonides in seiner streng rationalen Auffassung der Offenbarung so ziemlich das Gegenteil von allem, was Scholem in der Geschichte jüdischer Philosophie beschäftigte?

Aber auch das Deutsch ist unsicher, um das mindeste zu sagen, wo Marie Luise Knott im Anhang Hannah Arendts Besprechung von Scholems Buch über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik übersetzt: Da liest man von den Folgen des Verlustes "der messianischen Hoffnung und der Verzweiflung über die (ultimate) Bestimmung des Volkes" - und steht beschämt vor der Tatsache, dass Hannah Arendt und Gershom Scholem ein um ganze Dimensionen besseres, lebhafteres, idiomatischeres Deutsch schrieben als ihre heutigen Herausgeber.

Hannah Arendt und Gershom Scholem: "Der Briefwechsel 1939 - 1964". Hrsg. von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010. 695 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Thomas Meyer hat diesen Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem offenbar mit großem Interesse gelesen. Zunächst erzählt er ausführlich von ihrem gemeinsamen Engagement zur Rettung der jüdischen Kultur nach 1945, das die beiden großen Denkern lange Zeit und über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg zusammengeschweißt hat und das eines der Hauptthema des Briefwechsels ist. Hier begegnete ihm auch eine unbeirrbare, und zuweilen in ihren Urteilen auch scharfe Arendt, die, so Meyer, "von allzu unerbetener Zuneigung" verdeckt worden sei. Dass sich die beiden im Streit um ihre Haltung zu Israel und dem Zionismus überwarfen, nimmt den Rezensenten denn auch nicht Wunder. Zur Edition selbst äußert sich Meyer allerdings kritisch, harsch gar, wenn er sich über die Kommentierung, fehlende Hinweise oder nicht mit aufgenommene Tagebuchaufzeichnungen beschwert. Ganz nachvollziehbar sind Meyers Einwände nicht immer und vielleicht mit betriebsinternen Differenzen zu erklären.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Exemplarisch markiert der Briefwechsel unterschiedliche Denkpositionen, die nicht nur hinsichtlich deutsch-jüdischer Geschichte bis heute bedeutsam sind. Er vermittelt einen unverstellten Eindruck vom Wesen der beiden Briefeschreiber - ihrer geistigen Größe, ihrer Idiosynkrasien, ihrem Temperament, ihrer Herzensbildung. Das Geschriebene ist konzis, klug, menschlich und klingt so lebendig, dass man das Gefühl hat, einem Gespräch zu lauschen.« Carsten Hueck Deutschlandfunk Kultur 20101230