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Der Ich-Erzähler steht unter Schock: Mitten in der Nacht hockt er unter der Dusche seiner Münchner Wohnung, das heiße Wasser droht, ihm die Haut zu verbrennen. Am Abend war er zufällig dem einflussreichen Literaturagenten La TrémoÏlle begegnet, den er nie wieder hatte treffen wollen, und sofort war die schlimmste Geschichte seines Lebens wieder hochgekocht. Vor einiger Zeit hatte der Agent versucht, ihn, den Schriftsteller, im Auftrag des renommierten Guggeis Verlags abzuwerben und ihm ein glänzendes Angebot gemacht, das jedoch an eine Bedingung geknüpft war: Er sollte das neue Manuskript…mehr

Produktbeschreibung
Der Ich-Erzähler steht unter Schock: Mitten in der Nacht hockt er unter der Dusche seiner Münchner Wohnung, das heiße Wasser droht, ihm die Haut zu verbrennen. Am Abend war er zufällig dem einflussreichen Literaturagenten La TrémoÏlle begegnet, den er nie wieder hatte treffen wollen, und sofort war die schlimmste Geschichte seines Lebens wieder hochgekocht. Vor einiger Zeit hatte der Agent versucht, ihn, den Schriftsteller, im Auftrag des renommierten Guggeis Verlags abzuwerben und ihm ein glänzendes Angebot gemacht, das jedoch an eine Bedingung geknüpft war: Er sollte das neue Manuskript eines anderen Autors, Tonio Pototsching, selbst fertigschreiben. Als der Erzähler diesen ungewöhnlichen Auftrag schon ablehnen will, trifft er auf Laura, die Noch- oder Exfreundin Pototschings, und verliebt sich in sie. Und er nimmt den dubiosen Auftrag an. Er ahnt nicht, dass er damit in eine bösartige Intrige hineingezogen wird. Eine Intrige, die ihn fast das Leben kostet, zumindest sein literarisches Leben: Denn Pototsching unternimmt nichts weniger, als ihm seine eigene Biographie zu rauben. Im Glauben, Herr seiner Biographie zu sein, muss er tatenlos zusehen, wie Pototsching Besitz von seinem Leben ergreift, sich seine Kindheit aneignet und mit seiner Hilfe ein enthüllendes Buch verfasst.
Autorenporträt
Ernst-Wilhelm Händler, 1953 geboren, lebt in Regensburg und München. In der FVA erschienen der Erzählband »Stadt mit Häusern« (FVA 1995), die Romane »Kongreß« (FVA 1996), »Fall« (FVA 1997) und »Sturm« (FVA 1999), den die Kritik als »wirklichkeitshaltigsten Roman der deutschen Gegenwartsliteratur dieses Jahrzehnts« bezeichnete. Dessen Nachfolger »Wenn wir sterben« (FVA 2003) wurde von der Jury der SWR-Bestenliste zum besten Buch des Jahres gewählt. 2006 folgte sein Roman »Die Frau des Schriftstellers«. Händlers Roman »Welt aus Glas« erschien 2009 in dem von Neo Rauch gestalteten Herbstprogramm.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2006

Der Wert-Schöpfer
Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Die Frau des Schriftstellers”
Wer ist Ernst-Wilhelm Händler? Wie auf alle Fragen gibt es auch auf diese eine kurze und eine lange Antwort. Es hat sich eingebürgert, die kurze Antwort so zu fassen: Er ist Schriftsteller und Unternehmer. Die Literaturkritik hat diese kurze Antwort wieder und wieder wie ein Schibboleth aufgesagt, weil sie ahnte, dass die lange Antwort wohl unabsehbar und unauslotbar sein würde. Und es ist ja auch nicht verkehrt, erst einmal mit den kurzen Antworten zu beginnen. Wer sich von einem anspruchsvollen und schwierigen literarischen Werk faszinieren lässt, sucht immer eine erste Schneise der Deutung zur Groborientierung, um so das Eigentümliche und Originäre des jeweiligen Schriftstellers in den Blick zu bekommen. Mit der Antwort „Schriftsteller und Unternehmer” hatte man nicht nur das biographische Faktum von Ernst-Wilhelm Händlers Doppelexistenz angesprochen, sondern auch einen thematischen Schwerpunkt seines Schreibens: Zumindest die Romane „Fall” und „Wenn wir sterben” spielen ausdrücklich in der Welt der Wirtschaft.
Wobei die Formulierung „spielen in der Wirtschaft” zu arglos ist. Ernst-Wilhelm Händler ist kein realistischer Erzähler. Sein Schreiben suchte und fand eine literarische Form, die der Totalisierung der Ökonomie, von der er erzählte, auf spannungsvolle Art korrespondiert. Jetzt ist ein neuer Roman von ihm erschienen. Er trägt den Titel „Die Frau des Schriftstellers”. Es ist Händlers fünfter Roman. Und immer genauer zeichnen sich bei diesem so unbedingten und aufs Große und Ganze abzielenden Autor die Umrisse seines umfassenden Erzählprojekts ab, das er selbst mit der enigmatischen Formel einer „Grammatik der vollkommenen Klarheit” benennt.
Und damit kann man auch die kurze Antwort ein wenig modifizieren oder gar vertiefen. Vielleicht nämlich ist der eigentliche thematische Kern, den Händlers Bücher umkreisen, nicht die Ökonomie, sondern die Produktion in einem umfassenden Sinn: Es geht um die Erschaffung von Wirklichkeiten. Ernst-Wilhelm Händler ist nicht einfach der Autor des Marktes und der Wirtschaft, sondern der Erzähler der Wert-Schöpfung und der Welt-Schöpfung in einem. Die Wirtschaft ist dann eben nur ein, wenn auch besonders prägnanter Anwendungsfall einer kosmogonisch-anthropologischen Wertschöpfung.
Es geht immer wieder um Weisen der Welterzeugung. In seinem Roman „Sturm” von 1999 erzählte Händler von dem Architekturgenie Hant, dessen Bauvisionen am Rande des Größenwahns davon fabulierten, das „Antlitz der Welt” neu zu gestalten, „der Erde für den Betrachter aus dem Weltall ein anderes Gesicht” zu geben. Der Architekt Hant wird beschrieben wie ein zweiter Demiurg, dessen Schöpfungsphantasien in letzter Konsequenz von metaphysischem Anspruch sind: Bauen an der Grenze zwischen Nichts und Sein.
Auch die Wirtschaft schafft ununterbrochen neue Werte, neue Wirklichkeiten, in denen sich das Leben dann einrichten muss. Man muss nur das abstrakte Medium Geld einführen, das den unendlichen Tausch ermöglicht, und schon entfaltet sich eine Energie und Dynamik, in der Altes verdampft und Neues ins Sein tritt. Dank des Geldes gilt, wie es in „Wenn wir sterben” heißt: „der Markt kann sich alles anverwandeln, weil er alles ausdrücken kann.”
Alles Geld, alles Sprache
Das gilt aber ebenso auch von der Sprache: Auch diese kann sich alles anverwandeln, weil sie alles ausdrücken kann. Geld und Sprache sind strukturell gleiche Zeichensysteme. Auch jeder sprachliche Ausdruck erzeugt eine neue Welt. Und so ist es nur konsequent, wenn sich Ernst-Wilhelm Händlers jüngster Roman den Sprachschöpfern, den Autoren und dem Literaturbetrieb zuwendet.
Es ist im Zusammenhang seines neuen Buchs das Wort vom Schlüsselroman gefallen. Das war unvermeidlich aus zwei Gründen: Händler, dessen Sprache sich alles anverwandeln kann, ist ein Meister der Wirklichkeitstransformation. So gibt es in „Die Frau des Schriftstellers” eine überdimensionale Verleger-Figur, Guggeis, der die „Guggeis-Kultur” geschaffen habe, die einige Merkmale von Siegfried Unseld verpasst bekommen hat. Das führt aber auf der Ebene der Ent-Schlüsselung nur in eine Sackgasse. Mit viel mehr Recht hingegen kann von Schlüsselroman die Rede sein, weil Händler die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, nach dem Recht am eigenen Leben, an der eigenen Geschichte selbst ins Zentrum seines Romanwerks stellt.
Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller. Er erhält eines Tages von dem taubstummen Literaturagenten La Trémoïlle (der mit seiner Umwelt über ein Palm kommuniziert) einen merkwürdigen Auftrag. Der viel erfolgreichere Schriftsteller Pototsching sehe sich nämlich außerstande, sein Romanmanuskript zu Ende zu schreiben, weshalb dessen Verleger Guggeis wünsche, dass er, der Ich-Erzähler eben, dieses vollenden möge. Tatsächlich kommt es dann im Berliner Hotel Four Seasons zu einer Begegnung zwischen den beiden Schriftstellern, bei der Pototsching seinem Rivalen aus dem unvollendeten Manuskript vorliest und dieser geschockt feststellen muss, dass der Gegenstand des Manuskripts seine eigene Kindheit in Oberösterreich ist.
Alles dunkel, alles klar
Was aus dieser bizarren Konstellation entsteht, ist indessen alles andere als eine Klamotte aus oder Parodie auf den Literaturbetrieb. Mit der Verfügung über die Lebensgeschichte eines anderen wirft Händler die Frage nach dem Autor des Lebens überhaupt auf – und diese Frage ist eine Machtfrage. Händler hatte immer schon einen erbarmungslosen Blick für die Unhintergehbarkeit und Allgegenwart von Machtstrukturen. Die ultimative Machtfrage aber ist die, wer über Sein und Nicht-Sein entscheiden darf. Und da sitzen die Schriftsteller, die fortwährend Welten erzeugen und damit Wirklichkeiten umschaffen, gewissermaßen an der Quelle. Und zwar nicht als distanzierte Beobachter des weltlichen Machtspiels, sondern als global players der Welterzeugung, die sich durchaus selbst die Hände schmutzig machen.
Die Literatur ist nicht, anders als es ihre kunstreligiöse Überhöhung gerne möchte, die Erlösungsinstanz, das Nicht-Identische im Sinne Adornos, dessen ästhetische Eigenwilligkeit sich subversiv zum Verblendungszusammenhang der Wirklichkeit verhält. Die Welt ist ein Schlachtfeld unterschiedlicher, selbstautorisierter Schöpfer, die sich hart im Raume stoßen – und die Literatur ist eine davon. So beschreibt Ernst-Wilhelm Händler den Ursprung aller Kreativität als größenwahnsinnigen Narzissmus: Und der Wille zum Selbstausdruck fällt notwendigerweise zusammen mit dem Willen zur Vernichtung des Rivalen. Die Welterzeugungsphantasien, die Händlers Romane durchspielen, kippen stets zugleich in Weltzerstörungsphantasien um. Dieses Zugleich steht nun im Zentrum der „Frau des Schriftstellers”.
Alles ich, alles anders
Die Romane Ernst-Wilhelm Händlers waren noch nie leichte Kost. Mit seinem neuen Roman aber erreicht der 1953 geborene Autor eine neue Stufe der Komplexität und – dies sei nicht verschwiegen – der Rätselhaftigkeit. Beim Lesen seiner Bücher hat man ja manchmal den Eindruck, dass die anti-gegenständliche Wende der Kunst überhaupt erst mit Händler in der deutschen Literatur angekommen ist. Denn das Welterzeugungspotential des Geldes wie der Sprache hat – nur ein Beispiel sei genannt – sein poetologisches Pendant in Händlers Figuren, die einem permanenten Prozess der Metamorphose, der Selbstverwandlung, Neuerschaffung, Um- und Überformung ausgesetzt sind. Sie spalten sich auf, sie halbieren sich, sie fusionieren mit anderen Figuren – wie in einem kubistischen Schauerkabinett.
Diesem hochplastischen Aggregatzustand der Wirklichkeit entspricht das Händler’sche Textkorpus, der mit jedem Satz keine Wirklichkeit markiert, sondern einen neuen Zusammenhang erzeugt, der aber sogleich von der nächsten Sinnwelle überrollt werden kann. Vielleicht ist am Ende kein einzelnes Leser-Gehirn diesen Textbewegungen allein gewachsen. Das Erstaunliche aber an „Die Frau des Schriftstellers” ist, dass der Roman auch dort, wo man an seiner Deutung manchmal verzweifeln möchte, immer noch oder erst Recht ein aufregendes Lektüreerlebnis darstellt, welches einzigartig in der deutschen Literaturlandschaft dasteht.
Auch in seiner Kühnheit. Denn tatsächlich geht es Händler um etwas, nun ja: Ungeheuerliches. In jenem Narzissmus, mit dem Künstler Welten erschaffen und zugleich die Lebensgeschichten anderer vernichten können, sieht er den Selbstermächtigungsfuror und gleichzeitigen Vernichtungswillen des Nationalsozialismus aufscheinen. Tatsächlich ist „Die Frau des Schriftstellers” auch eine Deutung des deutschen Faschismus. Die „Psychohistorikerin” Beatrice, eine Geliebte des Schriftstellers, spricht einmal davon, der Nationalsozialismus habe sich vor allem „aus falsch verstandener Wissenschaft” gespeist. Und wie als Gegenutopie zum Vernichtungs-Narzissmus des Nationalsozialismus spielt der Roman mit der Idee einer Wissenschaft, die aus Goedels Unvollständigkeitstheorem gelernt hat, dass es keine absolute Selbstbehauptung gibt, sondern alle entsprechenden Versuche nur in einem Pluriversum erzeugter Welten aufgehen. Der Ich-Erzähler jedenfalls hat als Friedensperspektive einstweilen nur sein gewaltsames Verstummen anzubieten: „Füllt meinen Mund mit Erde und steckt eine Pflanze hinein.”IJOMA MANGOLD
ERNST-WILHELM HÄNDLER: Die Frau des Schriftstellers. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006. 640 Seiten, 25 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2006

Wenn die Vernunft hellwach ist, tanzen die Dämonen
Literaturbetriebstemperaturen am Gefrierpunkt: Ernst-Wilhelm Händlers neuer Roman erzählt vom Ringen eines Schriftstellers um die Autorschaft am eigenen Leben

Meine Lieblingsfrage: Ist Klarheit ohne Kälte möglich?" schrieb Ernst-Wilhelm Händler in seiner Würdigung von Thomas Bernhards Roman "Das Kalkwerk", einem Beitrag zur Serie "Mein Lieblingsbuch" in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 22. Juli 2004). Schon in dieser Erklärung steckt eine Menge typisch Händlerscher Selbstironie. Das Warme, Kaminfeuerhafte, Genießerische des Etiketts stößt auf den seinerseits metallisch-kühlen Inhalt einer existentiellen Frage. Klarheit - das versprechen die reibungslos nach ihrer eigenen Sachlogik arbeitenden Institutionen, mitleidlos rechnende Elektronengehirne, die von Sachzwängen bestimmten Systemprozesse in Wirtschaft und Politik oder Wissenschaft. Wo Klarheit herrscht, da fehlt der Mensch. Aber so einfach ist es nicht: Denn ist dort, wo der Mensch ist, schon automatisch Wärme? Meine Lieblingsbeschäftigung: Im Kalkwerk arbeiten, hätte Händler auch sagen können. Wie kommt die Wärme ins Werk?

Ernst-Wilhelm Händler, geboren 1953, ist ein Sonderfall in der deutschsprachigen Literatur. Nicht deswegen, weil er Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens ist, das Schaltschränke und Installationsverteiler herstellt, und so einer der wenigen Autoren von Rang ist, die nur in der Freizeit schreiben. Nein, ein Sonderfall ist Händler wegen der unglaublichen Konsequenz, mit der er seine "Lieblingsfrage" literarisch durchdekliniert. Ein Zyklus soll hier entstehen, dessen Obertitel "Grammatik der vollkommenen Klarheit" lautet - ein gigantomanisches Erzählprojekt, das in seinen einzelnen Teilen jeweils eine andere Sphäre der Wirklichkeit ausmißt und sich an Vorbildern der klassischen Moderne, an Broch oder Musil, mißt. Also: Ist vollkommene Klarheit ohne Kälte möglich? Und: Ist vollkommene Klarheit in der Literatur möglich?

Die Frage so zu stellen enthält eine kühne Voraussetzung - nämlich, daß die Literatur ein Widerpart gegen all das ist, was das Humane, das Menschliche, das Warme bedroht: den Markt, die Institutionen, die Entwertung des Individuums. Besonders Händlers zweiter Roman "Fall" von 1997 legt eine solche Entgegensetzung nahe. "Fall" erzählt einerseits vom Machtkampf in einem Familienunternehmen, bei dem Georg Voigtländer aus der Firma gedrängt wird. Zugleich aber flüchtet sich Georg zunehmend in die Parallelwelt der Literatur. Er verkehrt mit Figuren aus Werken Bernhards, Paul Wührs und Gert Hofmanns und erfindet sich eine völlig neue Biographie. Dort also die kalte, von juristischen Winkelzügen und ökonomischem Scheuklappendenken bestimmte Firmenwelt, hier die helle, meistens auf römischen Piazzen auf und ab flanierende Geisteswelt der Literatur. Poesie als Flucht vor dem Geschäftsbericht, der Prosa der Verhältnisse. Hier die Vielflieger der corporate world, dort die Schwingen der Einbildungskraft.

Man muß so weit ausholen, um den neuen Roman Händlers zu verstehen oder jedenfalls, und das ist schon schwierig genug, um ihn nicht mißzuverstehen. Denn "Die Frau des Schriftstellers" ist eine Korrektur an der geläufigen Entgegensetzung von Markt und Poesie, Ökonomie und Literatur, letztlich: Realität und Fiktion. "Ich weiß jetzt, die Wahrheit eines späteren Buches ist nur dann eine Wahrheit, wenn sie die Wahrheit eines früheren Buches unwahr macht", sagt "der Schriftsteller" (das Alter ego des Geschäftsmanns Georg Voigtländer) im "Fall". "Der Schriftsteller" eben ist, nimmt man den Titel ernst, der sonst anonym bleibende Ich-Erzähler des neuen Buchs. Und dessen Wahrheit lautet: Auch und vielleicht gerade in der Literatur herrschen Betriebstemperaturen nahe dem Gefrierpunkt.

Dem Erzähler, mit seinen Romanen mäßig erfolgreich, wird eines Tages über den Edel-Literaturagenten La Trémoïlle ein Angebot des charismatischen Verlegergiganten Guggeis vermittelt. Es stellt sich heraus, daß der Umworbene eigentlich zu einem anderen Zweck geködert wurde: Er soll das unvollendete Manuskript des Guggeis-Erfolgsautors und Literaturstars Pototsching fertigschreiben. Als der ihm im Hotel daraus vorliest, muß der Schriftsteller erkennen, daß dieses Buch die minutiös recherchierte Geschichte seiner, also des Schriftstellers, Kindheit im österreichischen St. Pankraz erzählt - eine Autobiographie aus fremder Hand sozusagen, die das uneingeweihte Objekt dieser dreisten Aneignung selbst fertigschreiben soll: "Das Schlimmste, was mir passieren konnte, war passiert: Ein anderer hatte genau das Buch geschrieben, das ich schreiben wollte. Ein anderer hatte mir meine Kindheit geraubt. Ein anderer hatte mein Buch geschrieben." Fortan streiten zwei Autoren erbittert um die Deutungshoheit über eine Lebensgeschichte. Ihre Rivalität wird zusätzlich verkompliziert durch beider Verhältnis zu einer Schriftstellerin namens Laura Turner, die Pototschings Geliebte war und nun dessen Rivalen verführt.

Händler-Leser kennen diese erotisch aufgeladenen Spielchen um Kontrolle und Herrschaft; in der Unternehmenswelt von "Wenn wir sterben" etwa entpuppten sich die allerrationalsten Geschäftsbeziehungen als Ausfluß (selbst-)zerstörerischer Triebschicksale. Nun wendet Händler seinen erbarmungslosen Blick auf jenes System, in dem er selbst, als Autor, agiert. Ein solches Unternehmen bietet eine naheliegende Achillesferse - man ist sofort versucht, das Buch als Schlüsselroman zu lesen. Denn Guggeis trägt unverkennbar Züge Siegfried Unselds; sein Verlag, Heimat der "Guggeis-Kultur", ist dem Suhrkamp Verlag zum Verwechseln ähnlich. Hinzu kommt die Pointe, daß Händler bei Joachim Unseld erscheint, dessen, um es vorsichtig zu sagen, gespanntes Verhältnis zu seinem übermächtigen Vater und dessen Witwe längst selbst Teil der Literaturgeschichte ist.

Diese Lesart ist freilich eine nicht ohne Hinterlist gestellte Falle, die eine angemessene Rezeption des Romans verbaut. Die Realität kennt keine Agentenfigur wie den taubstummen La Trémoïlle und auch keinen Autor wie den schönen Schweizer Tonio Pototsching, einen ehemaligen Fußballer, dessen vollständig im Konjunktiv verfaßtes Romandebüt Kritik und Publikum verzückt. Händler macht das Genre Schlüsselroman vielmehr selbst zum Thema. Zuletzt ist ja das Verhältnis von Romanfiguren zu ihren Vorbildern immer wieder zum Brennpunkt literarischer Debatten geworden - von Maxim Billers "Esra" bis zu Feridun Zaimoglus "Leyla" in diesem Frühjahr. Auf den Streit um Martin Walsers versuchte Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki in "Tod eines Kritikers" wird dabei in einem Brief des Erzählers an Laura bis hin zu wörtlichen Zitaten angespielt. Die Brisanz des hier verhandelten Themas steht also außer Frage. Worum aber geht es Händler dabei, wenn nicht nur um die - triviale - Erkenntnis, daß Schriftsteller auch keine besseren Menschen sind und die Verlagsszene einem Piranhabecken gleicht?

Literarische Autorschaft erscheint hier allgemein als Quelle (oder Folge?) eines pathologisch übersteigerten Narzißmus, das Schreiben als monströses Aufblasen des Schriftsteller-Ichs, neben dem reale menschliche Beziehungen keinen Raum haben. Noch einmal potenziert wird dieser Größenwahn im Verleger Guggeis, der sich in langen Monologen als Urheber gleich einer ganzen literarischen Kultur versteht, als Super-Autor mit dem Verlagsprogramm als Opus magnum. Hier wird dann tatsächlich das singuläre Vorbild Siegfried Unseld als Typus bedeutsam.

Das ist nicht auf die Literatur beschränkt. In "Sturm" verkörpert der Architekt Hant diese künstlerische Omnipotenzphantasie, die dort noch viel deutlicher in die Nähe zur deutschen Katastrophengeschichte, zu Weltmachtstreben und Vernichtungswillen gerückt wurde. Hier sind die Hinweise zunächst versteckter: Beatrice, eine zweite Geliebte des Schriftstellers in der Rahmenhandlung, ist Psychohistorikerin und forscht über die fortwirkenden Pathologien der deutschen Moderne - und dann auch ihres Liebhabers. Das Kindheitsdrama aus doppelter Feder wiederum spielt auf jenem Reitbauerngut unterhalb Wolfeggs, dessen Geschichte Bernhards "Auslöschung" erzählt. In "Fall" hatte sich Voigtländer eine Kindheit als einfacher, aber begabter Pächtersohn fingiert, der von der "Gnädigen" (der Mutter Muraus) und deren Geliebten, dem "italienischen Priester" Spadolini, protegiert und aufs ferne Stiftsinternat geschickt wurde.

Nun erzählt Pototsching diese Geschichte aus der Perspektive des Jungen weiter. Ins Zentrum der Handlung rückt aber ein regelmäßig im Nachbarhaus gastierender Deutscher, ein weiterer Schützling (und wohl Geliebter) der Gnädigen, der sich als ein früherer SS-Statistiker entpuppt - womit Händler die Bernhardsche Abrechnung des Wolfsegg-Erben Murau mit der NS-Verstrickung seiner Familie weiterspinnt. Einmal, als der Junge die Jause zu Spadolini auf die Hütte bringen muß, liest dieser gerade in der Zeitung über die Verhaftung Ricardo Klements, also Adolf Eichmanns, in Buenos Aires.

Händler will also, und das ist starker Tobak, eine Fernwirkung der nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die Gegenwart demonstrieren. Der "Herkunftskomplex", wie es bei Bernhard heißt, schleicht sich in die narzißtischen Größenphantasien des Schriftstellers, dessen reale Beziehungen mehr und mehr durch einen Umgang mit seinen eigenen Romanfiguren ersetzt werden. Als Kind hat er einmal in einem Bildband von 1943 menschenleere Architekturphantasien Albert Speers bewundert; später schaut er zu, wie die lebendig gewordenen Figuren seiner eigenen Bücher, schließlich seine eigene Familie verhaftet, deportiert und schließlich ermordet werden - der Autor als zwanghafter Nachfolger der Nazi-Massenmörder. Das ist eine provozierende These und als Darstellung einer individuellen Obsession eindrucksvoll. Wollte Händler allerdings hier, wofür einiges spricht, eine Kollektivdiagnose der deutschen Gegenwart stellen, wäre das einigermaßen fragwürdig.

Was aber hat die Frau des Schriftstellers damit zu tun - abgesehen davon, daß sie mit der Behauptung ihrer eigenen prekären Autorschaft (angeblich schreibt sie nur in einer totalen Symbiose mit dem Star Pototsching) selbst im narzißtischen Bücherreigen mitmischt? Sie ist vor allem, wie auch Beatrice, Opfer der Beziehungsunfähigkeit des vollkommen mit seinen eigenen Kopfgeburten befaßten Autor-Ichs. Am Ende scheint sie schwanger zu sein; der Schriftsteller bringt lieber sein eigenes Baby, sein Buch, hervor; die Frau soll abtreiben. Das Böse ist, so lehrten die Alten, nur ein Mangel an Sein. Wer sich auf Händlers dichtes, selbstreflexives und in seiner Tiefendimension kaum ganz auszulotendes Buch einläßt, kann die Dämonen in den so geordneten, menschenleeren Räumen der Fiktion finden lernen.

Ernst-Wilhelm Händler: "Die Frau des Schriftstellers". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006. 640 S., geb., 25,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Viel Bewunderung zollt Rezensentin Sabine Franke diesem "aberwitzigen und wagemutigen" 600-Seiten-Roman, der sie "direkt ins Denken und Fühlen eines Schriftstellers" geführt hat. Zwar musste sie, wie sie schreibt, sich den "vertrackt" gebauten Roman erst "erarbeiten", da der Roman auch kompositorisch das Abbild eines "frei flottierenden" Schriftsteller-Innenlebens sei, und dabei Stoff und Figuren für fünf Romane auffahre. Aber irgendwann war sie "drin" und der Lesegenuss begann. Anteil daran hat vor allem Ernst Wilhelm Händlers facettenreiche "Ich-Figur", aber auch seine "sprachliche Brillanz" und die "komischen Einfälle": zum Beispiel die satirischen Selbstgespräche dieses Schriftsteller-Ichs mit all ihren Persönlichkeitsabspaltungen. Begeisterung lösen bei der Rezensentin auch Händlers "glasklare Eleganz" und lakonische Tönungen bei der Beschreibung von Milieus und Figuren, sowie die als "Miniaturgrotesken" inszenierten Liebesszenen aus. Am Ende dieses "collageartig" verschachtelten Romans hat sie einen starken Eindruck von der "Beschaffenheit des geistigen Geländes" gewonnen, in dem Literatur entsteht.

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