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Wien 1994: Olga, eine junge Serbin aus Belgrad, flieht den Krieg in Bosnien und folgt ihrem Mann Andrej ins Wiener Exil. Belgrad, das ist für sie das zurückgelassene Zimmer mit den Büchern ihrer Lieblingsschriftsteller: Pessoa und Joyce; das ist die Zentralbibliothek, in der sie zuletzt gearbeitet hat, das sind die Familie und die Freunde. Wien versucht sie sich durch endlose Straßenbahnfahrten zu erobern, doch sie vermag nicht Fuß zu fassen in dieser Stadt, deren Sprache sie nicht spricht, und versinkt immer mehr in Hoffnungslosigkeit, an der ihre Ehe zu zerbrechen droht. Auf meisterhafte…mehr

Produktbeschreibung
Wien 1994: Olga, eine junge Serbin aus Belgrad, flieht den Krieg in Bosnien und folgt ihrem Mann Andrej ins Wiener Exil. Belgrad, das ist für sie das zurückgelassene Zimmer mit den Büchern ihrer Lieblingsschriftsteller: Pessoa und Joyce; das ist die Zentralbibliothek, in der sie zuletzt gearbeitet hat, das sind die Familie und die Freunde. Wien versucht sie sich durch endlose Straßenbahnfahrten zu erobern, doch sie vermag nicht Fuß zu fassen in dieser Stadt, deren Sprache sie nicht spricht, und versinkt immer mehr in Hoffnungslosigkeit, an der ihre Ehe zu zerbrechen droht. Auf meisterhafte Weise verwebt Dragan Veliki´c das Schicksal Olgas mit einer anderen Erfahrung des Exils: mit der Geschichte von James Joyce und seiner Frau Nora, die im Jahre 1904 das politische und soziale Elend Irlands fliehen, um in Triest ein neues Glück zu suchen. Auch in diesem Roman erweist sich Dragan Veliki´c als begnadeter Erzähler, der wie kein anderer mit den Erzählformen des 20. Jahrhunderts spielt und seine Protagonisten vor der unheilvollen Kulisse des vergangenen Jahrhunderts in ein sinnliches Netz aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Empfindungen verstrickt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2005

Der alte Affe Angst
Ewig sind nur die Zähne: Dragan Velikic will der Zeit entkommen

Schicksale wiederholen sich." Der fast schon lapidare Satz, versteckt zwischen anderen, aufregenderen Sätzen, dürfte der Nukleus dieses Romans von Dragan Velikic sein, der jetzt, zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, in Bärbel Schultes hervorragender deutscher Übersetzung erschienen ist. "Lichter der Berührung" ist eine Variation über die unerwarteten Nahtstellen jenes Kontinuums, das man gemeinhin Geschichte nennt. Verschämt krümmt sich unter Velikics Händen zusammen, was sonst unerbittlich vorwärts strebt.

Der Belgrader Erzähler und Essayist setzt gegen die Ordnung der Zeit diejenige des Erlebens. Dabei eilt ihm seine Zentralfigur Martha Coppeans zu Hilfe, deren hundertsieben Lenze nicht nur das Säkulum überspannen, sondern ihr ermöglichen, "sich leichter über den Teppich der Zeit zu bewegen". Daß hier eine persönliche, poetische Zeitlichkeit entdeckt wird, die quer zur historischen verläuft, stellt keineswegs eine Entmachtung der voranschreitenden Ereignisgeschichte dar. Für die älteste Bürgerin Wiens verdichtet sich das zwanzigste Jahrhundert gar zu der Einsicht: "Krieg und Revolution verspäten sich nie." Allein, möchte Velikic sagen, das ist nicht alles.

Martha zählt nicht eigentlich zu den Hauptfiguren dieses Romans. Die sechs Protagonisten sind paarweise angeordnet: Auf der einen Seite steht die junge Serbin Olga, die sich nach Ausbruch des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien zu ihrem Ehemann Andrej sowie zu dessen Freunden Tibor und Rita ins österreichische Exil begibt. Auf der anderen Seite begegnen wir James Joyce, der sich von 1904 bis 1915 gemeinsam mit Nora Barnacle in Pola, Triest und Rom aufhält. Sind die Belgrader Intellektuellen Anfang der neunziger Jahre vor dem "Primitivismus" auf der Flucht, dem Triumph der "kantigen Schädel", so treibt Joyce Tugend, nicht Not aus der Heimat: "Für einen Künstler ist es heilsam, außerhalb des Vaterlands zu leben."

Martha aber bildet den Kreuzungspunkt all dieser Fluchtlinien. Als Großmutter Ritas und Um-ein-Haar-Geliebte des irischen Poeten - es bleibt bei einer punktuellen Affäre am 26. Juli 1905 - verbindet sie die Exilwelten Österreich-Ungarn, Italien und Wien. Getragen wird sie von einem Versprechen, das ihr der Künstler als junger Mann zugeflüstert hat: "In hundert Jahren." Als Romanfigur kann es sich Martha leisten, diese Worte ernst zu nehmen, ernster als den seit je vertrauten Tod, der seinen Aufschub denn auch mit Fassung trägt. Dennoch gleitet sie schließlich vor dem erwarteten "Coppeansday" hinüber zu ihrem längst verstorbenen Geliebten. "Die Gräber versöhnen alles." Damit scheint nun doch ein absoluter Endpunkt erreicht, aber eben dieser - Marthas Tod und ihre Beisetzung - bildet den Auftakt des Romans. Auch Velikic meint es ernst mit der Zirkularität.

Das kroatische Pula, einst Pola geheißen, sowie Triest sind neben Belgrad die wiederkehrenden, mediterran geprägten Schauplätze in Velikic' Romanen. Auch in diesem Fall spielen sie eine wichtige Rolle, erweitert um eine weitere Zwischenwelt, die so freundliche wie undurchdringliche österreichische Hauptstadt. Entwurzelt scheinen alle Helden dieses Autors: nicht vor Schmerz erstarrt, aber immer vom Trauerflor umhüllt. Heimatlos sind diese Personen nicht, weil es sie ins Exil verschlug. Damit können Kosmopoliten leben. Vielmehr hat sich ihrer eine transzendentale Obdachlosigkeit bemächtigt, und zwar in dem Moment, als sich ihr europäisch-intellektuelles Koordinatensystem als Illusion erwies. Der Verdacht, Zivilisation sei möglicherweise nichts anderes als Zeitvertreib, bestimmt auch den melancholischen Grundton in "Lichter der Berührung". Die geschilderten Erfahrungen und Verluste der Figuren sind äußerst persönlich, doch nicht privat, denn die Liebe selbst hat hier gelitten: ein immer noch stolzes, verwundetes Tier.

Wenn aber die Liebe nicht mehr trägt, Hoffnung und Glaube längst geschwunden sind, muß eine andere Macht beispringen: Der Erzähler herrscht in dieser Geschichte. Seine Souveränität ist es, die jene andere Zeitlichkeit autorisiert, in der sogar die Liebe zu genesen verspricht. Doch er hat es nicht leicht, seine Figuren stehen ihm entgegen. In ihrer Wahrnehmung dominiert die Zeit als Vergänglichkeit. Rita streift im sechsten Lebensjahrzehnt die Ahnung, das Leben sei vorbei, während Tibor wie Andrej als Zahnärzte davon überzeugt sind, das einzig Ewige am Menschen seien seine Zähne. Kleine Ausbrüche aus der Chronologie nehmen sich aus wie Kindereien, nicht wie ein Göttersturz: Tibor, "im Glauben, er lebe mit siebenundvierzig noch immer den Prolog seines Lebens", verleiht einem plötzlich verspürten Schwung Ausdruck mit dem Gaspedal. Sogar die zirkuläre Geschichtstheorie ist Velikic' Personal vertraut. Aber nicht das virtuos gestaltete, tröstliche Aufblitzen des Überzeitlichen an den Schnittstellen des Geschehens, sondern der ewige Rückfall in den Naturzustand - "warum triumphiert dieser Affe wieder und wieder?" - gilt den Exilanten als ihr Erweis.

Doch der Erzähler hat eine Verbündete, mit der er deutlich sympathisiert: Olga, Schriftstellerin im Geiste, weiß um "die einzig dauerhafte Welt, dauerhafter noch als Zähne". Und sie weiß um die auktoriale Macht: "Schon über Jahre lebt sie ein zufälliges Leben, von dem sie heimlich glaubt, daß es nur eine Generalprobe sei, daß plötzlich aus dem Dunkel des Saals die Stimme des Regisseurs die Geschichte an ihren Anfang zurückdrehen wird." Auf die richtige Fährte mag sie ihre Magisterarbeit gebracht haben, deren Thema nicht verschwiegen wird: "Die Dimension der Zeit in Joyce' Roman Ulysses". Nebenbei lugt hier der postmoderne Autor durch die Seiten, der die Form als Inhalt wieder einspeist und damit der Rekursivität eine weitere Bresche schlägt. Die Literatur, der Text ist jene Gegenwelt, die Asyl nie verweigert: Ein Tag kann hier leicht hundert Jahre währen. Vielfach und verspielt sind die Bezüge zwischen den beiden Handlungssträngen, die zu Beginn und am Ende des Jahrhunderts spielen. Konstellationen kehren wieder, Erfahrungen, Hoffnungen, Fremdheiten. Joyce' fröhliches Exil, in dem der Advent eines Weltkriegs als Etappensieg der Dummheit figuriert - "Wer wird jetzt noch Bücher lesen" -, kommentiert subtil die Situation der serbischen Emigranten. Es ist die Unendlichkeit zwischen zwei Spiegeln, die Velikic bravourös ins Literarische transformiert.

"Lichter der Berührung" erweist sich als glänzend komponierter Roman, der erzählerische Raffinesse mit handfester Substanz verbindet. Zu bedauern ist einzig, daß er hierzulande nicht früher zugängig war. Denn auch wenn eine Zehnjahresspanne zwischen Entstehung und Übersetzung äußerst gering erscheint, hat sich in diesem Fall doch vieles verändert: Zur Zeit der Abfassung, die mit der erzählten Zeit um 1993 nahezu übereinstimmt, dominierte der eskalierende Bosnienkrieg die Wahrnehmung. Zwischen Original und Übertragung liegen Auf- und Abstieg von Slobodan Milosevic, die Kämpfe im Kosovo, Nato-Bomben auf Belgrad, Velikic' eigene Exilzeit - der eine Mischung der Motive von Olga und Joyce zugrunde lag -, die Krise in Mazedonien und nicht zuletzt die allmählich zurückkehrende Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft. Es ist wohl kaum möglich, die Erzählung ohne dieses Nachwissen zu rezipieren.

Aber das alles schmälert nicht den literarischen Rang dieses Buches. Und die Ereignisse auf dem Balkan bilden - einem Exemplum gleich - lediglich den Hintergrund dieser berührenden Geschichte der Berührungen. Wenn es stimmt, daß Intertextualität ein treffliches Muster für das Leben abgibt, daß sich Schicksale wiederholen, dann nicht allein jene gewaltdurchtränkten Biographien. Auch "ein Liebling des Schicksals" wie James Joyce wird ewig wiederkehren. Es ist jedoch nicht die Literatur, welche letztlich die Skepsis der Figuren überwindet, sondern das Leben selbst. Zum Schluß nämlich wird ein Kind geboren. Und es ist, als holte Dragan Velikic hier das stärkste Argument gegen negative oder positive Teleologien hervor.

Dragan Velikic: "Lichter der Berührung". Roman. Aus dem Serbischen übersetzt von Bärbel Schulte. Ullstein Verlag, Berlin 2005. 224 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

" Glänzend komponiert findet Rezensent Oliver Jungen den im Original bereits vor zehn Jahren erschienenen Roman des serbischen Schriftstellers, der darin aus seiner Sicht "erzählerische Raffinesse mit handfester Substanz" verbindet. In seinem Roman setzt der Belgrader Erzähler und Essayist, wie Jungens Beschreibung zu entnehmen ist, die Ordnung der Zeit gegen die Ordnung des Erlebens. Dies wird den Informationen des Rezensenten zufolge mit Hilfe einer Handvoll Figuren bewerkstelligt, deren älteste bereits das fantastische Alter von hundertsiebzig Jahren erreicht hat. Jene Martha ist im Roman im Sommer 1905 die "Um-ein-Haar-Geliebte" James Joyces gewesen, der Jungen zufolge samt Gattin Nora auch zu Dragan Velikics Romanpersonal gehört. Des weiteren zählt der Rezensent in diesem, die "Exilwelten Österreich-Ungarn, Italien und Wien" mit dem zerfallenden Jugoslawien verbindenden Roman eine junge Serbin namens Olga auf, die aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Jugoslawien zu ihrem Mann Andrej und dessen Freunden nach Wien entkommt. Der Rezensent zeigt sich außerordentlich fasziniert von der Virtuosität, mit der Velikic historische und subjektive Zeitzonen verknüpft und durchquert, das untergehende Jugoslawien atmosphärisch mit der zerfallenden kuk-Monarchie verbindet. Er bedauert nur, dass der Roman erst so spät in deutscher Übersetzung erscheint.

© Perlentaucher Medien GmbH"