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Eine Familientragödie? Eine Verwechslungskomödie? Eine Geschichte dreier Generationen zwischen Afrika, Berlin und französischer Provinz im globalen Zeitalter? Ein Bericht über den Einbruch des Fantastischen in die Realität? All dies - und natürlich noch viel mehr - vereint der neue Roman von Marie NDiaye mit einer sprachlichen Leichtigkeit und Virtuosität, einer raffinierten Einfachheit, die das Komplexe durchsichtig macht. Malinka besucht ihre Mutter Ladivine Sylla einmal im Monat in Bordeaux. Die Tochter möchte eine ganz andere Frau werden: Und so legt sie sich, auf dem ersten Schritt nach…mehr

Produktbeschreibung
Eine Familientragödie? Eine Verwechslungskomödie? Eine Geschichte dreier Generationen zwischen Afrika, Berlin und französischer Provinz im globalen Zeitalter? Ein Bericht über den Einbruch des Fantastischen in die Realität? All dies - und natürlich noch viel mehr - vereint der neue Roman von Marie NDiaye mit einer sprachlichen Leichtigkeit und Virtuosität, einer raffinierten Einfachheit, die das Komplexe durchsichtig macht.
Malinka besucht ihre Mutter Ladivine Sylla einmal im Monat in Bordeaux. Die Tochter möchte eine ganz andere Frau werden: Und so legt sie sich, auf dem ersten Schritt nach oben, den (von ihr für typisch gehaltenen französischen) Vornamen Clarisse zu, als sie eine Stelle als Kellnerin antritt. Dort lernt sie ihren Mann, Richard Rivière, kennen.
Damit setzen ungewöhnlich ereignisreiche Handlungsabläufe ein, die von Frankreich nach Afrika und nach Berlin reichen.
Und es wäre zu erwähnen der Hund, der immer wieder in Erscheinung tritt. Er muß als Symbol gelten für das nicht-realistische Erzählen der Marie NDiaye. Sie beschreibt Zusammenhänge zwischen den Menschen aus deren Innenperspektive, zergliedernd, jede Regung hin- und herwendend - und zugleich deutlich machend, dass alle Personen etwas nicht rational Reduzierbares bergen und verbergen, das sie durch Ereignisse in der Realität bestätigt glauben. Ihre Personen verrät Marie NDiaye nie. Dadurch entsteht das intensive Textgewebe, die Spannung zwischen realer und irrealler Welt.
Autorenporträt
NDiaye, Marie
Marie NDiaye, 1967 in Pithiviers bei Orléans geboren, veröffentlichte mit 17 Jahren ihren ersten Roman; weitere Romane und Theaterstücke folgten. Für Drei starke Frauen erhielt sie den Prix Goncourt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Lena Bopp freut sich, dass mit "Ladivine" ein neuer Roman der französischen Autorin Marie NDiaye erschienen ist. Einmal mehr lässt sich die Kritikerin von NDiayes Kunst, "atmosphärische Nuancen" zu gestalten, in den Bann ziehen, denn sie begegnet Menschen, die sich in ihrem eigenen Leben fremd fühlen: Malinka etwa, die ihre Mutter, eine dunkelhäutige Putzfrau, verleugnet, einen Franzosen heiratet, ihren Namen ändert und unter ihrer Lebenslüge zerbrechen wird. Auch das Schicksal von Malinkas Tochter Ladivine berührt die Rezensentin tief - was insbesondere an NDiayes Vermögen liegt, das Innenleben ihrer Figuren in feinsinnigen und poetischen Beobachtungen zu schildern. Bopp lobt nicht nur den scharfen und "ergebnisoffenen" Blick der Autorin, sondern lernt hier auch einiges über latenten Rassismus. Dass NDiaye ihren realistischen Roman bisweilen mit fantastischen und märchenhaften Momenten anreichert, stört den Lesefluss der Kritikerin zwar - nichtsdestotrotz kann sie dieses wunderbare Buch aber nur unbedingt empfehlen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2014

Wer bist du?
„Ladivine“, der neue Roman von Marie NDiaye, ist ein kristallines Meisterwerk
über seelische Abgründe und eine Einsamkeit, der niemand entkommt
VON INA HARTWIG
Über Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die in Frankreich leben, schreibt Marie NDiaye oft. Aber noch nie hat sie dieses Wort verwendet. Es kommt also einer kleinen Revolution gleich, wenn in ihrem neuen Roman „Ladivine“ das Wort „Negerin“ fällt, „négresse“. Ein einziges Mal, auf Seite 53 der deutschen Ausgabe; es wird eine Explosion auslösen beim Leser, bei der Leserin.
  Malinka, die inzwischen Clarisse heißt, bewegt sich wie eine Königin auf der Bühne eines bescheidenen Bistros in Bordeaux, wo sie als Kellnerin Anstellung gefunden hat. Auf diese Clarisse ist Verlass, sie tänzelt durch den Raum, erfüllt jeden Wunsch. Vor allem Männer kommen in der Mittagspause vorbei. Clarisse, die Rechnung! Clarisse, noch einen Café! Das neue Leben läuft wie am Schnürchen. Es ist das perfekte, geradezu grandiose Schauspiel ihrer neuen Identität als ganz normale Frau, mitten in Frankreich, das sie vor allem für sich selbst aufführt.
  Doch dann taucht sie plötzlich auf, aus dem Norden ist sie angereist, und betritt das Bistro, als es sich schon geleert hat, gegen 14 Uhr: ihre Mutter Ladivine; die Mutter von Malinka, die inzwischen Clarisse heißt. Nach ihr ist der Roman benannt, „Ladivine“ – die Göttliche. Und diese Göttliche ist, jawohl, die Negerin. Sie hat, als Putzfrau arbeitend, ihre geliebte Tochter in der Nähe von Paris ganz allein großgezogen und muss jetzt erkennen, dass Malinka nicht nur fortgegangen ist, sondern sich zudem einen neuen Namen zugelegt hat; so handelt es sich „weniger um ein Wiedersehen als um ein Kennenlernen“.
  Die ärmlich gekleidete Frau wird nicht rebellieren, so wie sie überhaupt alles im Leben hinzunehmen gelernt hat; den schwarzen Groll macht sie mit sich allein aus. Clarisse weiß, dass ihre Mutter sie nicht „Malinka“ rufen wird, hier in diesem Lokal. Dennoch spürt sie den Blick der Chefin, „ohne Feindseligkeit, mit einer Art harter Betrübnis, als habe Clarisse sie getäuscht, was sie jedoch verstehen und dulden könne, dann schweifte ihr Blick noch über Clarisses lange Beine, ihre schmalen Hüften, ihr zartes Gesicht, diesmal wahrscheinlich nicht, um die Widerstandsfähigkeit dieses schlanken Körpers abzuschätzen, sondern um zu ermitteln, wie weit er dem anderen ähnelte, dem der Negerin, die sehr aufrecht am Fenster saß.“
  Man sieht, und es belegt zugleich Marie NDiayes subtile Erzählkunst: „Negerin“ ist keine Abfälligkeit aus dem Mund eines Rassisten. Das Wort wird ja nicht einmal ausgesprochen. Eher ist es eine Maske im Sinne Jean Genets, dessen Stück „Die Neger“ Marie NDiaye ohnehin inspiriert haben dürfte (und nebenbei, eine berühmte Romanfigur Genets heißt ausgerechnet „Divine“, an Zufall mag man da nicht glauben). Clarisse/Malinka „sieht“ das Wort im Blick der Chefin. Und dieser Blick, als ihre eigene Projektion, zieht sie zurück in jenes Leben, dem sie entfliehen wollte. Dieser Blick zerstört ihre Inszenierung, ihr schönes, erregendes Schauspiel. Klar, dass Clarisse, die eine helle Haut hat, vielleicht vom unbekannten Vater her, kündigen wird. Den Blick dieser Chefin wird sie nicht mehr ertragen können.
  Marie NDiaye, geboren 1967 in Pithiviers als Tochter einer französischen Lehrerin und eines senegalesischen Vaters, der die Familie bald verließ, ist in ihrer Heimat bereits eine Klassikerin. Mit siebzehn Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman, und das gleich bei Jérôme Lindon, dem Verleger der berühmten Editions de Minuit. Im Unterschied zu ihrem Bruder, einem renommierten Historiker, hat sie sich gegen das französische Eliteschulwesen entschieden, da sie ihre Bestimmung zu schreiben schon sehr früh erkannt hatte. Die Intuition hat nicht getrogen; ihre Stücke werden an der Comédie française gespielt; den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, bekam sie 2009 für ihren Roman „Trois femmes puissantes“, der unter dem Titel „Drei starke Frauen“ den Durchbruch in Deutschland brachte. Dort also, wo sie seit einigen Jahren lebt, in Berlin, und wo Teile ihres neuen Romans „Ladivine“ angesiedelt sind.
  Die Familientragödie, die hier erzählt wird, erstreckt sich über drei Generationen. Da wird etwas weitergereicht – was genau, das ist die dunkle, drängende Frage. Mit biblischer Wucht umkreist der Roman Schuld, Opfer, Verleugnung, Reue, Gewalt. Und das, obwohl häufig von Liebe die Rede ist, zur Mutter, zum Ehemann, zu den eigenen Kindern. Marie NDiaye schreibt in einem klassizistisch anmutenden Stil, geschult am psychologischen Roman des 17. Jahrhunderts, einem Stil, der auch dann nicht aufgegeben wird, wenn die Lüge in die Liebe einzieht, wenn Liebe ihre Fratze zeigt und umschlägt in Zweifel und Entfremdung.
  Wie ein Staffelholz reicht Marie NDiaye die Verfehlungen weiter. Alles gewinnt eine kristalline Logik. Clarisse/Malinka verschweigt ihrem Mann, dem sympathischen Autohändler Richard Rivière, die Existenz ihrer Mutter, und so springt ihre gespaltene Identität über auf die Ehe. Richard ahnt nicht, dass der Name der kleinen Tochter – sie nennen sie Ladivine – die Großmutter ehrt, welche die Enkelin nie kennenlernen wird. Aber auch die erste Ladivine hat etwas Entscheidendes verschwiegen. Nie hat sie ihrer Tochter Malinka erzählt, woher sie kommt, wer sie ist, wo ihre Familie lebt.
  Diese Leerstellen rächen sich aufs Fürchterlichste. Um zu lieben, muss man zeigen, wer man ist; auch das sagt dieser abgründig kluge, bedrückend schöne Roman. Wer sein Innerstes verschließt, aus Scham, wird irgendwann zur bloßen Hülle. So ergeht es der armen Clarisse. Ihr Mann verzweifelt regelrecht, weil er nicht zu ihr vordringt, sie emotional nicht zu fassen bekommt. Ihre Tochter Ladivine wiederum spürt ein moralisches Vakuum, denn Clarisse sagt nie, etwas sei richtig oder falsch. Aber Marie NDiaye wäre nicht die Meisterpsychologin, die sie ist, wenn sie den eingemauerten Binnenraum nicht aufbräche.
  Und hier kommen die zotteligen Boten ins Spiel: die Hunde, die herrenlos vor der Tür sitzen und warten. Nennen wir sie Wächter oder Schutzengel, Abgesandte einer anderen Sphäre. Einer dieser Hunde hat die schwarzen Augen ihrer Mutter Ladivine, stellt Clarisse erstaunt fest. Es ist eine seltsame und doch magisch-unabweisbare Begegnung: Ihre Schwiegereltern sind zu Besuch gekommen, um das neugeborene Töchterchen zu begrüßen. Sie bringen einen „Wolfshund“ mit, den Richard verabscheut. Das Baby, die kleine Ladivine, liegt in der Wiege, als der Wolfshund sich heranschleicht. Die Erwachsenen bemerken es erst, als der Hund schon über dem Säugling liegt und ihm direkt in die Augen sieht, mit den Augen der Großmutter! Richard schreit vor Panik und Entsetzen; Clarisse aber ist ganz ruhig angesichts der „geheimnisvollen Seele des Hundes“. Nicht jeder ist mit diesen magischen Anteilen im Erzählen der Marie NDiaye einverstanden, aber sie gehören zu ihr wie der Klassizismus ihrer Sprache. Und sie führt die Motive über Hunderte von Seiten immer wieder elegant, fast unmerklich zusammen.
  Mehr als zwanzig Jahre nach dieser Episode mit dem Wolfshund wird die Tochter von Clarisse und Richard Rivière mit ihrem Mann, einem aufrechten Norddeutschen, in Berlin-Charlottenburg leben. Das zufriedene, aber unspektakuläre Dasein des deutsch-französischen Paars kreist um die beiden geliebten Kinder. Eines Tages haben sie genug von den deprimierend langweiligen Sommerferien im Campingbus an der Ostsee. Sie reisen weit weg, in ein Land ohne Namen. Es liegt in Afrika, von Gemetzel und Völkermord zeugen die Bilder im Museum, das sie besuchen. Heiß ist es in diesem Land und schmutzig, der Koffer gleich am Flughafen abhanden gekommen. Am Straßenrand entdecken sie Kleidungsstücke aus ihrem Koffer, zum Kauf dargeboten. Der Urlaub, ein Albtraum. Einerseits.
  Andererseits scheint hier jemand auf vertrautem Terrain zu wandeln, und das ist Ladivine. Sie wird angesprochen im Bus von einer fremden Frau, die sie fragt, wie denn „die Hochzeit“ gewesen sei und „welches Kleid“ sie getragen habe. Eine Verwechslung? Die Frage bringt aber etwas zum Klingen in ihr, als wäre sie schon einmal dort gewesen. Und ein Hund, struppig, ausgemergelt, mit schwarzen Augen, begleitet sie. Er wartet auf sie vor dem Hotel und folgt ihr durch die unbekannten Straßen. Wessen Seele steckt in ihm: die ihrer Großmutter Ladivine, der Göttlichen, deren Namen sie trägt? Fest steht nur, dass Ladivine Rivière nicht mit ihrer Familie nach Berlin zurückkehren wird.
  In der französischen Provinz wird derweil eine alte Frau als Zeugin vor Gericht geladen. Wir kennen sie. Sie heißt Ladivine Sylla. Ihre Tochter ist ermordet worden, mit knapp über fünfzig, und die alte Frau kennt den Mörder. Er heißt Freddy Moliger (eine sagenhafte Nebenfigur). Ehrlich gesagt hatte sie ihn sogar gern gehabt, diesen Freddy, für den sie ein paar Mal gekocht hatte. Ein Säufer zwar, ein Sozialfall, aber der erste Mann, den ihre Tochter nicht vor ihr verheimlicht hatte. Es war, für Ladivine, wie die Aufhebung eines Fluchs gewesen. Die Gefahr, in der Malinka schwebte, denn so nannte ihre Tochter sich wieder, hatte Ladivine Sylla nicht erkannt, nicht erkennen können in ihrem kurzen Glück.
  Dieser phantastische, todtraurige Roman handelt von einer Einsamkeit, der niemand entkommt und die doch jeden antreibt. Sehr schön übersetzt von Claudia Kalscheuer, entfaltet „Ladivine“ einen Sog, der in Regionen führt, die man freiwillig nicht betreten würde. Hat man sie aber einmal kennengelernt, möchte man sie nicht mehr missen – so blutig sie auch zugegebenermaßen sind.
Der harte Blick der Chefin
zieht die Protagonistin zurück
in ihr vergangenes Leben
Magische Anteil gehören zu
NDiayes Erzählkunst wie der
Klassizismus ihrer Sprache
Gilt in ihrer französischen Heimat bereits als Klassikerin. Die Prix-Goncourt-Preisträgerin des Jahres 2009 Marie NDiaye in Berlin.
Foto: Action Press
          
    
    
      
Marie NDiaye: Ladivine. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 445 Seiten, 22,95 Euro, 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2014

Ich bin zu Gast in meinem eigenen Leben
Bloß wer zahlt die Rechnung? In ihrem Roman "Ladivine" erzählt Marie NDiaye von weiblichen Mängelgefühlen

Als Marie NDiaye neulich bei einer Lesung in Frankfurt gefragt wurde, warum in ihrem neuen Roman ausgerechnet Lüneburg eine so wichtige Rolle spiele, gab sie eine schöne, lapidare Antwort: wegen des Klangs. Sie sei noch nie in Lüneburg gewesen, sagte sie, aber der Name der Stadt habe ihr einfach gefallen.

Im Publikum sorgte diese Bemerkung für eine gewisse Heiterkeit. Es ist ja schön zu hören, dass Lüneburg offensichtlich in der Lage ist, in manchen französischen Ohren derart freundliche Assoziationen hervorzurufen. Wer mit dem Werk von Marie NDiaye aber ein wenig vertraut ist, der erkannte auch, dass sich hinter diesem kleinen Bekenntnis ein Hinweis auf das verbarg, wofür sich die französische Schriftstellerin schon immer interessiert hat, und zwar am allermeisten: für Stimmungen und atmosphärische Nuancen, für Dinge, die im Raum stehen, ohne gesagt worden zu sein, und auch für das, was diese Dinge in den Menschen bewirken.

Insofern mag Lüneburg tatsächlich gut in das Konzept von Marie NDiaye passen, deren neuer Roman "Ladivine" aber nicht nur dort, sondern auch in Bordeaux und Berlin, in Afrika und Annecy spielt. Das Buch variiert ein Thema, das bei dieser Autorin, die mit ihren gerade mal 46 Jahren schon ein gutes Dutzend Romane und mehrere Theaterstücke geschrieben hat, immer wieder auftaucht: Es geht um Menschen, die sich in ihren Leben wie Gäste fühlen, denen die Berechtigung für die eigene Existenz irgendwie abhanden gekommen ist oder ohnehin seit je her fehlt. Wie in dem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Drei starke Frauen" (2010) und dem "Selbstporträt in Grün" (2011) sind es wieder vor allem weibliche Figuren, die sich diesen Mängelgefühlen zu stellen haben. Und sie tun dies auf mitunter radikale Weise. Malinka etwa, eine der vier Frauen, um die sich hier beinahe alles dreht, ist die Erste: Als Tochter einer dunkelhäutigen Putzfrau, die sie nur "die Dienerin" nennt, spürt sie früh das Bedürfnis, ihre Herkunft verleugnen zu müssen, um im Leben eine Chance zu haben. Sie nennt sich also Clarisse, heiratet, bekommt eine Tochter, wird aber weder Mann noch Kind jemals von der Existenz ihrer Mutter berichten und diesen Verrat irgendwann mit dem Leben bezahlen. Doch damit ist es nicht getan: Auch Clarisses Tochter Ladivine bekommt die Nachwirkungen dieser existentiellen Tragödie zu spüren, als sie mit ihrem deutschen, aus ebenjenem Lüneburg stammenden Ehemann eines Tages nach Afrika reist und dort bald begreift, dass sie das Land nicht als die verlassen kann, als die sie gekommen ist.

Ohne dass die Beteiligten je in der Lage wären, die Gründe für die Ereignisse klar zu benennen, sehen sie sich also Kräften ausgeliefert, deren Wirkungen sie sich nicht entziehen können. Zweifellos hat dabei eine allzu menschliche Schwäche ihre Hände oft im Spiel. Aber auch die Liebe, wie sie vor allem zwischen Eltern und Kindern besteht (auch dies übrigens ein Thema, dem sich Marie NDiaye gerne widmet), die Eifersucht, der Hass und die Rache liefern Motive, die leicht zu durchschauen, aber schwer nachvollziehbar und sowieso schwer beherrschbar sind. Marie NDiaye macht aus dieser Not eine Tugend: Sie nimmt konsequent die Innenperspektive ihrer Figuren ein, um deren Handlungen auf die Schliche zu kommen. Ihr Schreiben ähnelt in diesem Sinn einer Tiefenbohrung in die vielen Schichten der Gefühle. In diesen sehr feinen Beobachtungen von Hoffnungen und Enttäuschungen, Ausflüchten und Wahrheiten aber offenbart sich stets eine menschliche Ambivalenz, die jede Form des Zusammenlebens als ein Ausloten von Möglichkeiten begreift. Bei NDiaye geht es folglich nie um das, was oberflächlich getan oder gesagt wird, sondern immer um das, wofür Worte und Handlungen eigentlich stehen. Dass Worte und Taten auf der einen sowie Motive auf der anderen Seite selten einen Einklang bilden, ist hier die Annahme, die dem Geschehen als Triebfeder dient.

Das alles könnte nahelegen, dass die Autorin die Gelegenheit nutzt, um über ihre Figuren zu richten, oder wenigstens um zu zeigen, wie verloren sie sind. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ihr Blick ist stets ergebnisoffen und ihre Sprache von einer Poesie geprägt, die sich dem Zynismus verweigert und stattdessen von tiefem Verständnis zeugt. Häufig erzählt Marie NDiaye von ihren Figuren im Rückblick. Sätze wie "Clarisse Rivière würde sich an die Monate nach Ladivines Geburt später als an eine Zeit großer Verstörung erinnern . . ." sind aber auch insofern typisch, als sie deutlich machen, dass es hier weniger um Absichten als mehr um Reaktionen geht. Trotz all der Kälte und Härte, welche die Personen zuweilen zeigen, nimmt der Leser sie deswegen meist als Opfer wahr. Und genau diese Perspektive erlaubt es uns auch, im hintersten Seelenwinkel vor allem von Malinka (alias Clarisse) die Ursache all des durch den Roman wabernden Bösen zu erkennen - nämlich einen unausgesprochenen, aber latenten Rassismus: "Es kam ihr vor, als habe sie von Anfang an, noch bevor sie verstehen und sprechen konnte, gewusst, dass Malinka und ihre Mutter für niemanden zählten, dass dies so war und man sich darüber nicht zu beklagen hatte, dass sie dunkle Blumen ohne Lebensberechtigung waren, dunkle Blumen." Marie NDiaye seziert ihre Figuren, aber sie verrät sie nie.

Umso schwieriger ist es indes zu verstehen, wieso sie offensichtlich glaubte, den Figuren so etwas wie Schutzengel mit auf ihre Wege geben zu müssen. Denn wie schon in mehreren Büchern lässt Marie NDiaye auch in "Ladivine" irgendwann (und relativ unvermittelt) sämtliche Gewissheiten zusammenbrechen, indem sie das Geschehen um eine weitere, surreal anmutende Dimension erweitert. Als Wegmarker dieser Erweiterung dienen ihr die Hunde - oft sind es zerrupft aussehende, knochige Tiere, die sich ihren Schutzbefohlenen immer dann zu erkennen geben, wenn bedeutende Veränderungen deren Leben schwer machen. Der realistische Rahmen, der die Erzählung umgibt, bricht in diesen Momenten aber regelmäßig zusammen, und dies provoziert ein Knirschen im Gebälk des Romans.

Anders als alles andere kann die Innenperspektive, die Marie NDiaye gewählt hat, den Einbruch des Märchenhaften und Phantastischen in das Geschehen nämlich nicht erklären. Darüber geraten aber nicht nur die Figuren, etwa Ladivine, ins Zweifeln ("Oder war sie es, Ladivine Rivière, die einen kranken Blick auf die Dinge richtete"). Auch der Roman selbst gerät unter der Last der ihm aufgebürdeten Phantasmagorie leicht ins Wanken. Dass er nicht in seine Einzelteile zerfällt, ist den hellwachen und messerscharfen Blicken zu verdanken, die Marie NDiaye immer wieder auf ihre Figuren wirft. Dass diese Blicke zuweilen hinter einen obskuren Schleier aus Zauberei zurücktreten müssen, ist indes ein Trick, auf den man hätte verzichten können.

LENA BOPP

Marie NDiaye: "Ladivine". Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 445 S., geb., 22,95 [Euro].

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"Marie NDiaye erweist sich auch mit diesem Buch als eine souveräne Erzählerin. Leichtfüßig tänzelt sie durch eine literarische Landschaft."
Tilman Krause, DIE WELT