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Anwesend waren Traurigkeit, tristitia oder tristesse in George Steiners Prosa seit jeher: als Gedanke, Thema und Gestimmtheit. Nun aber stellt er sie, von Schelling ausgehend, in den Mittelpunkt einer Meditation über Glanz und Elend der Reflexion. Grundiert ist alles Denken durch Schwermut, die in jedem Gedanken vernehmbar bleibt und sich fortpflanzt - so die von Steiner gewählte kosmische Analogie - wie das Hintergrundrauschen als Echo des »Urknalls «. Zweiflerisch ist dieses Denken und durchdrungen vom Gefühl seiner Vergeblichkeit. Es ist unberechenbar und heillos individuell,…mehr

Produktbeschreibung
Anwesend waren Traurigkeit, tristitia oder tristesse in George Steiners Prosa seit jeher: als Gedanke, Thema und Gestimmtheit. Nun aber stellt er sie, von Schelling ausgehend, in den Mittelpunkt einer Meditation über Glanz und Elend der Reflexion. Grundiert ist alles Denken durch Schwermut, die in jedem Gedanken vernehmbar bleibt und sich fortpflanzt - so die von Steiner gewählte kosmische Analogie - wie das Hintergrundrauschen als Echo des »Urknalls «. Zweiflerisch ist dieses Denken und durchdrungen vom Gefühl seiner Vergeblichkeit. Es ist unberechenbar und heillos individuell, verschwenderisch und kreisschlüssig, eingeschränkt in den Grenzen der Sprache, axiomatisch, neurophysiologisch determiniert. Es ist, als »Großes Denken«, weit entfernt von Mehrheitsentscheidungen und allgemeiner Anerkennung. Es ist aussichtslos, führt schließlich auf nichts. Und doch ist es die einzig menschenwürdige Anstrengung. George Steiners Schrift ist eine Variation in zehn Sätzen auf ein Thema von Schelling, das Produkt einer persönlichen Ästhetik, ein Stück Gedankenmusik, ein logisches Gedicht.
Autorenporträt
George Steiner, geboren 1929 in Paris, lehrte vergleichende Literaturgeschichte in Genf und Cambridge. Ab 1994 war er Professor für Komparatistik an der Universität Oxford (Lord-Weidenfeld-Lehrstuhl). Am 3. Februar 2020 verstarb George Steiner im Alter von 90 Jahren in Cambridge.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2006

Der Welt melden Weise nichts mehr
Obskurantismus aus dem Manufactum-Katalog: George Steiner pflegt ein sattes Behagen an der Traurigkeit
Der Dummkopf und der Schöngeist kommen darin überein, dass sie das Vage lieben, das Unbestimmte in Inhalt und Form. Dem einen scheint die Welt eine Wiederholung seines Wohnzimmers, der Mühe nicht wert, die man auf sich nehmen müsste, sie zu begreifen. Der andere blickt von oben und von fern und sieht, wohin er auch schaut, immer wieder das gleiche traurige Schauspiel. Zwar treibt ihn der „geile Drang aufs große Ganze” – so Goethe präzise abfällig – stets zu neuen Gegenständen, aber diese belegen nur, was er immer schon ahnte.
Mit einem Bekenntnis zur Vagheit beginnt auch der Literaturwissenschaftler George Steiner, der als Kulturkritiker bekannt wurde: „In Wirklichkeit wissen wir nicht, was Denken ist, woraus es besteht. . . . Nichts, nicht einmal die tiefschürfendsten (sic!) epistemologischen oder neurophysiologischen Erkundungen haben uns über die Gleichsetzung von Denken und Sein bei Parmenides hinausgeführt.” Dies ist nun dem Autor kein Anlass, noch einmal die wenigen Fragmente aus Parmenides’ Lehrgedicht „Über die Natur” zu lesen oder zu fragen, warum die späteren Erkundungen nicht weiter führten, sondern die Lizenz, allerlei vorzutragen, was einem so einfällt, wenn man nicht wissen kann, was Denken „in Wirklichkeit” ist.
Steiner will erklären, „warum Denken traurig macht”. Aber auch, was Traurigkeit sei, wird nicht verraten. Dass ein Zusammenhang zwischen beidem bestehe, ist ein Topos der abendländischen Geistesgeschichte, wobei Ursache und Wirkung selten so eindeutig benannt wurden wie im schmissigen deutschen Titel, einer vergröbernden Übersetzung von „Dix raisons (possibles) à la tristesse de pensée”. Im Gegenteil: Der Melancholiker, der grundlos Traurige, schien zum Denken, zur Versenkung, besonders begabt. Es zog ihn aber immer weiter ab von der Welt und ihren Vergnügen, hinein in einen Abgrund, in die Bodenlosigkeit, in die Unendlichkeit der Schwermut. Man kennt das von Dürers „Melencolia I” oder aus Robert Burtons grenzenlos witzigen Kompendium „The Anatomy of Melancholy”.
Seine Motive und Argumente bezieht Steiner aus dieser Diskussion, wobei er sie, in diesem Punkt ein Zauberkünstler, zugleich vergröbert und verwässert. Das beginnt bereits mit jenen zwei Schelling-Zitaten, die dem Buch vorangestellt sind: „Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.” „ Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.”
Sound und Geistesmuskeln
Man findet diese Stellen, weit getrennt, in Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Untersuchung „Über das Wesen der menschlichen Freiheit” aus dem Jahr 1809. Das erste Zitat ist verkürzt, und zwar um eine theologisch einschränkende Bemerkung: „und wenn auch in Gott eine wenigstens beziehungsweise unabhängige Bedingung ist, so ist in ihm selber ein Quell der Traurigkeit”. Gott also wurde gestrichen und mit ihm der philosophische Gehalt, um den es Schelling ging: Die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt, die Theodizee, sowie um das Böse – hier rang Schelling mit Kant – und die Freiheit des Menschen. „Freude muß Leid haben, Leid in Freude verklärt werden”, fuhr Schelling fort, aber auch das ignoriert Steiner. Er hat aus Schellings Hohelied auf die Freiheit in und durch Vernunft einen Kalenderspruch für die dunkle Jahreszeit extrahiert und versucht dann zu begründen, was Schelling nie behauptete.
Warum also führt das Denken, von dem wir nicht wissen, was es ist, zur Traurigkeit, die nicht gefragt wird, was sie sei? Weil es auf viele Fragen keine Antwort gibt, weil wir kaum originell sein können, weil wir uns der Sprache bedienen müssen, weil wir selbst in der Liebe, ja, im Vollzug des Aktes, zwischen Wahrheit und Verstellung nicht unterscheiden können, weil wir nicht herauszufinden vermögen, was ein anderer denkt, weil Denken unendlich und unendlich verschwenderisch ist. Und so weiter.
Das klingt nur plausibel, wenn man mit Steiner unter „Denken” alles Mögliche versteht, jede Hirntätigkeit darunter begreift, auch Träume, Vorstellungen, ein Vorsichhindämmern ebenso wie das Lösen eines mathematischen Problems. So arm ist aber keine europäische Sprache, dass man höchst verschiedene Zustände und Aktivitäten unseres „Ich” unterschiedslos „Denken” nennen müsste.
Die leere Allgemeinheit dieses schöngeistigen Manifests gewinnt nicht durch Argumente, aber der Einspruch des Lesers soll durch einen „Sound” betört werden, durch Suggestion von Tiefe. Dazu bemüht Steiner Metaphern aus dem Geschwätz über Naturwissenschaften: Die Melancholie wird „der Hintergrundstrahlung” verglichen, es ist die Rede vom „output der Synapsen im menschlichen Gehirn”, von den „Muskeln des Geistes”; ein „Virus der Unerfüllbarkeit nistet in der Hoffnung”, während die Enttäuschung eine „ätzende Säure” sein soll. Man könnte mehrere Folgen des „Hohlspiegel” aus dem schmalen Band bestreiten: „Aber Innen- und Außenwelt murmeln Worte, die wir nicht verstehen.” Ein paar kryptische Andeutungen in Klammern sorgen für das Es-gibt-sie-noch-die-guten-Dinge-Gefühl: „Dantes moto spirituale”, „Shakespeares ,Verrückte, Liebende und Dichter‘” . . .
Stellen wir uns einmal vor, Steiners Gründe für die Traurigkeit würden entfallen, die Welt gleichsam neu geboren werden: Wir hätten Antworten auf alle Fragen. Wenn wir nachdächten, wären wir hoch effizient und würden rasch zu einer Lösung gekommen. Wir könnten die Gedanken anderer lesen, uns unvermittelt mitteilen. Wir wären glücklich aufs Endliche, zu Erledigende beschränkt. Liebende könnten einander ins Herz sehen. Was einer gedacht hat, wäre ein für allemal abgetan, jeder ein Originalgenie, kein Unterschied mehr zwischen außergewöhnlichen Denkern und der Mehrheit. Wir wären zu Hause in der Welt, geborgen, nirgends fremd. So ungefähr träumte der fortschrittstrunkene Philister am Sonntagnachmittag, auf den Flügeln des Gesanges.
Faun und Freiheit
Die Traurigkeit dieses Buches speist sich denn auch aus durchweg philiströsen Wünschen. Mit der Natur des Menschen, über die hier angeblich nachgedacht wird, hat das wenig zu tun, viel aber mit einer Mittelstandsgesellschaft, die es lieber nicht genau wissen will und ihre eigene Hässlichkeit und Nichtigkeit zur conditio humana aufbläht. Vergeblich ist das Leben, unvollkommen das Irdische? So ähnlich sagt es jeder Barkeeper. Schelling fand im Denken darüber einen Grund der Freiheit des Menschen. Hier aber wird nur gefühlig „angedacht”. „Das Gefühl ist herrlich”, heißt es in der Schrift von 1809, „wenn es im Grunde bleibt; nicht aber, wenn es an den Tag tritt, sich zum Wesen machen und herrschen will”. Es gebe „auch in der Erkenntniß etwas der Zucht und Verschämtheit Analoges, und dagegen auch eine Art faunischer Lust, die an allem herumkostet, ohne Ernst und ohne Liebe, etwas zu bilden oder zu gestalten”. JENS BISKY
GEORGE STEINER: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 90 Seiten, 14,80 Euro.
„Innen- und Außenwelt murmeln Worte, die wir nicht verstehen”: George Steiner, 1929 in Paris geboren.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Unheimliche Erfahrungen mit der Kultur der Freiheit
Der hohe Preis des Denkens: George Steiner definiert auf siebenundsiebzig Seiten unsere Antwort auf den Fundamentalismus / Von Christian Geyer

Die Freiheit des Denkens hat etwas Beklemmendes, weil sie uns erst einmal auf das Nichts zurückwirft. George Steiner macht die fundamentalistische Regression begreifbar und wendet sie ab.

Die Vertreibung aus dem Paradies war ein freier Fall ins freie Denken. Aber das Glück unter den Fittichen der Gedankenpolizei ist kein Glück, auch wenn es sich als solches ausgibt.

Woran es liegt, daß es uns manchmal so vorkommt, als würde die Freiheit uns nicht gut stehen? Nun ist es soweit. Nun haben wir die Antwort auf diese Frage. Sie ist nachlesbar. Dem großen George Steiner ist mit seinem kleinen Alterswerk "Warum Denken traurig macht" etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Einmaliges gelungen.

Drei Dinge in Kürze zu diesem Buch. Erstens: Sie werden nach der Lektüre ein anderer sein als vor der Lektüre. Das heißt, Sie werden denken, sich nach dem Buch erst einmal einige Tage lang von Grund auf neu ordnen zu müssen.

Zweitens: Sie werden beim Lesen mehr und mehr das Gefühl bekommen, aufgeschmissen zu sein. Sie werden in einem elementaren Sinn nicht mehr genau wissen, wie es nach der Lektüre des Buches nun eigentlich weitergehen soll. Zugleich werden Ihnen Ihre Überzeugungen möglicherweise mehr denn je ans Herz wachsen. Sie kommen Ihnen nun, da sie durch Steiners Säurebad gegangen sind, geläutert vor. Tatsächlich handelt es sich um ein sehr, sehr unheimliches Buch. Denn es definiert für den Westen, was die Kultur der Freiheit ist: Nicht die individuelle Konsumentscheidung, sondern die Freiheit des Denkens. Diese Freiheit hat etwas Unheimliches, weil sie uns erst einmal auf das Nichts zurückwirft. So unheimlich kann die Freiheit des Denkens sein, daß man gelegentlich lieber einen Rückzieher machen und sich in die fundamentalistische Regression flüchten möchte. Steiner macht diese Versuchung begreiflich und wendet sie zugleich ab.

Drittens: Sie werden sich wieder und wieder fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte, daß Sie so weit gelesen haben, wie Sie gelesen haben. Warum Sie nicht einfach abgebrochen haben, als Sie das erste, zweite und dritte Mal diesen leichten Anfall von Schwindel vor dem Nichts bemerkten, diese enorme Verunsicherung spürten. Sie werden sich fragen, warum Sie siebenundsiebzig Seiten lang ohne Gegenwehr im Bann dieses Buches geblieben sind. Der Autor des Buches muß ein Verführer sein, wie er im Buche steht, ein Zauberer vielleicht - soviel immerhin ist Ihnen am Ende klar.

War da gerade von siebenundsiebzig Seiten die Rede? Ja, das Buch hat, streicht man das Nachwort weg, tatsächlich nur ganze siebenundsiebzig Seiten. Selten wurde auf so wenig Raum so substantiell über das Menschsein und seine Freiheit gesprochen wie hier - so leichthin und dicht, so wuchtig und zart, so bezwingend poetisch und im tiefsten philosophisch. Der Autor rüttelt und schüttelt seine Leser so lange, bis sie endlich aufhören, abgelenkt zu sein. Und anfangen, über das Denken nachzudenken, darüber, wie sich denkend existieren läßt. Denn das ist Steiners Buch: Ein Buch über die Freiheit, maskiert als ein Buch über das Denken.

In allererster Linie ruft dieses Buch übers Denken den Zappelphilipp in uns zur Ordnung. Es sagt klar und deutlich, was das eigentlich Verruchte unserer Zeit ist: das fortwährende Abgelenktsein. Ihre Kurzatmigkeit, Kurzsichtigkeit, Kurzleibigkeit hat dafür gesorgt, daß nicht nur das kollektive Denken fahrig geworden ist - das wäre geschenkt. Nein, auch das persönliche Denken ist fahrig geworden, hat angefangen, sich in seinen Neurosen zu gefallen, in seinen Löchrigkeiten und Schreianfällen. So sind wir dazu übergegangen, jedem Popanz nachzulaufen, heute diesem, morgen jenem, sind davon abgekommen, Erfahrungen zu formulieren, Wirklichkeit zu treffen. Steiner findet, daß das auf Dauer nicht gutgehen kann.

Seine Schrift läßt einen nie mehr vergessen, daß es im Leben darum geht, konzentriert zu sein. Daß es darum geht, mit dem Zappeln aufzuhören, nicht abgelenkt zu sein oder jedenfalls darum, seine Ablenkungen zu kontrollieren. Steiner stellt uns das "hochtourige Denken" als Gegenbild zum Gezappel vor Augen, als Gegenbild gegen die Verhunzungen des Denkens durch das Schreiende, Affektierte, Grelle. Steiner sagt: Wenn die Welt zugrunde geht, dann aus lauter Ungeduld.

Aus Ungeduld worüber? Aus Ungeduld darüber, daß wir mit unserem Denken nie zu den Antworten durchstoßen, die uns wirklich interessieren. Daß wir vielleicht zu gar nichts vorstoßen. Wenn man dann mit seiner Endlichkeit nicht zu Rande kommt, fängt man zu krakeelen an. In den entwickelten Technokratien des Westens flüchtet man sich vor der Freiheit in die Exaltationen des Kulturbetriebs. Im Islamismus wirft man Bomben. "Die rohen Vereinfachungen des Fundamentalismus, seien es jene der Islamisten oder jene der Baptisten aus den Südstaaten, sind auf dem Vormarsch", so Steiner.

Die Ungeduld der Fundamentalisten richtet sich darauf, mit dem Denken nicht an ein solches Ende zu kommen, das sich sehen lassen kann. Ungeduldig rennt der Fundamentalist gegen diese Bedingung seines Menschseins an. Diese Bedingung, in die sich der Fundamentalist nicht fügen will, formuliert Steiner als "bedrückende Tatsache" so: "Welches Format, welche Intensität das Denken auch haben mag, welche Sprünge über Abgründe des Unbekannten hinweg es auch macht, wie groß sein Talent zu Kommunikation und symbolischer Darstellung - dem Erfassen seiner primären Objekte kommt es dadurch nicht näher. Wir sind einer nachprüfbaren Lösung des Rätsels unserer Existenz, ihrer Natur und ihres Zweckes - wenn es ihn überhaupt gibt - in diesem wahrscheinlich multiplen Universum, wir sind einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, keinen Zoll näher gekommen als Parmenides oder Platon. Vielleicht sind wir weiter davon entfernt als sie." Soll man da nicht traurig sein?

Steiner formuliert die Alternative messerscharf. Entweder eine Kultur der Freiheit um den Preis der Gewißheiten. Oder eine Kultur der Unfreiheit, ein Zur-Ruhekommen in Systemen um den Preis von uns selbst. Wie soll man übers Denken denken, fragt er, um nicht fundamentalistisch auszuflippen? Was tun, damit angesichts "der verräterischen Leere", die dem erfüllten Begehren folgt, der Geduldsfaden nicht reißt? Wie läßt sich sicherstellen, daß wir in der "traurigen Sattheit" nach dem Orgasmus tunlichst die Zigarette anzünden und nicht die Bombe?

Das Buch besticht durch seinen überlegenen Aussichtspunkt. Gerade weil sich Steiner nicht in die unmittelbare Aktualität hineinziehen läßt, sind seine Beobachtungen ungeheuer aktuell. Er hat einen Kunstgriff gewählt, mit dem die Gefährdungen der denkenden Existenz mit naturwissenschaftlicher Exaktheit bestimmbar werden. Natürlich bleibt diese Exaktheit eine poetische Fiktion. Aber als solche funktioniert sie wie geölt. Sie nimmt das Überschießende und Verschwenderische, das Undurchsichtige und Unzureichende des freien Denkens zugleich als die Merkmale des Menschlichen. Denken wird in dieser Fiktion vergegenständlicht, wie man Atmen, Gott und Völlegefühl vergegenständlichen kann. Und der Kunstgriff gelingt: Auf dem Wege einer Phänomenologie des Denkens kriegt Steiner den Menschen ganz gut in den Griff. Welchen anderen Rahmen, welche andere Grenze wollten wir für unsere Selbstverständigung auch schon ansetzen, wenn nicht das Denken? Im Denken ist alles gegeben, die Atmung, der Gott und das Völlegefühl. Im Denken ist auch all das präsent, was über das Denken hinausgreift. Der Titel des Buches lautet richtig: Warum Denken traurig macht. Ohne weiteres hätte er aber auch lauten können: Warum Menschsein traurig macht.

Wir alle werden mit diesem Buch für einen quälend langen Moment aus unseren Entlastungen geschleudert, in denen wir uns eingerichtet hatten, aus unserer Gewöhnung, die immer alles entschärft. Wir werden gezwungen, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen. Wir werden jäh und in überaus scharfen Umrissen vor uns selbst hingestellt, vor die entsetzliche Möglichkeit, daß alles, wirklich alles eine große Illusion ist, eine "kollektive Halluzination" (Steiner), weil das Denken uns einen gigantischen, einen jede Vorstellung sprengenden Streich gespielt haben könnte.

Steiner setzt seine ganze literarische Potenz ein, um uns diesen Streich in den schockierendsten Farben auszumalen. Damit wir wissen, worauf wir uns einlassen, wenn wir die Freiheit des Denkens wählen. Schauen wir uns das Denken doch ruhig einmal aus der Nähe an, so fordert uns Steiner luziferisch heraus. Was, so fragt er, was sollte uns denn am Denken schon so zuversichtlich stimmen, daß wir ihm trauen könnten? Wir sind doch noch nicht einmal in der Lage, "einen gesicherten Einblick in das Denken eines anderen zu erlangen. Dieser Ungeheuerlichkeit widmen wir zu wenig Aufmerksamkeit, sie sollte uns schaudern lassen."

Und in der Tat, das läßt uns schaudern: Versagt das freie Denken nicht schon in den intimsten Konstellationen, wenn es darum geht, sich der Gedanken der Geliebten zu vergewissern? Wie erst, wenn das Denken aufs große Ganze geht, auf Gott und die Welt? Gar nichts läßt sich vergewissern, sagt Steiner und schmückt die Leerstelle mit Goethe aus: "Selbst in Augenblicken größter Intimität - und vielleicht am schmerzhaftesten empfunden in gerade diesen Augenblicken - kann der Liebende die Gedanken der Geliebten nicht erfassen. ,Woran denkst du, woran denke ich, wenn wir uns lieben?' Dieser Ausschluß läßt die vielgepriesene Verschmelzung beim Orgasmus und die Rhetorik der Einheit als trivial erscheinen. Goethe wies mit Vorliebe darauf hin, daß Männer und Frauen im Liebesakt oft andere - erinnerte, ersehnte, phantasierte - Liebhaber umschlingen als jene, die anwesend sind. Dieser kognitive Einschub, dieser geistige Vorbehalt, ob gewollt oder ungewollt, verschwommen oder plastisch, kann ein spöttisches Echo bilden zu den Schreien, dem Flüstern der Ekstase."

Steiner führt dieses Motiv der vergeblichen Liebesmüh bravourös vom Organischen bis zum Transzendentalen durch, von der Traurigkeit nach dem Geschlechtsverkehr bis zur Traurigkeit über den verborgenen Gott. So gelangt er alles in allem zu einer "eher peinlichen Chronik der Conditio humana". Die Vertreibung aus dem Paradies war ein freier Fall ins freie Denken: In allen Erträgen, die dieses Denken erbringt, in all den inspirierten Fragestellungen, die es im Laufe der Geistesgeschichte erzeugt, in all dem liegt eine bestürzende Unschärfe, ein gräßliches Ohnmachtsgefühl, was die Einschätzung der Proportionen angeht. Denn was sollen wir mit unseren Erkenntnissen tun, solange wir nicht wissen, in welchen Proportionen wir sie sehen müssen? Genau das aber werden wir denkend niemals herausbekommen. Das Ganze bleibt uns verschlossen, weswegen das freie Denken unter dem nicht ausräumbaren Generalverdacht steht, "nirgendwohin" zu führen.

Ist es da ein Wunder, wenn man über solchen Abgründen, die die Freiheit aufreißt, mit dem Zwangsmittel der Zensur droht? Die Regime des Fundamentalismus tun genau dies. Sie wollen totschweigen, daß das freie Denken - und nur solches ist überhaupt Denken - zu nichts Sicherem führt, daß alle Liebesschwüre und Erlösungsmythen in die Irre führen könnten, zurechtgelegt von der denkenden Existenz während einer langen evolutionären Entwicklung, um dem Tod den Stachel zu nehmen. Schon diese schiere Möglichkeit, vor dem Nichts zu stehen, läßt das fundamentalistische Regime wild um sich schlagen. Hat es doch seine Herrschaft, wie es glaubt, unverbrüchlich an irgendeinen Faden des Denkens geknüpft. Daß sich dieser Faden über Nacht als brüchig erweisen könnte, wäre der Anfang vom Ende der Herrschaft. So bleibt scheinbar nichts anderes übrig, als die Freiheit des Denkens und Redens mit einer Bedrohungskulisse auf Leben und Tod einzuschüchtern.

Steiners Buch liest sich in diesem Sinne als ein elektrisierender Essay über den aggressiven Hochmut des Fundamentalismus und darüber, wie er sich vielleicht vermeiden läßt. "Anstrengungen, das Denken zu rationieren, es auf erlaubte, fest umrissene Kanäle zu begrenzen, bilden das Herzstück jeder Tyrannei", schreibt er. "Anarchisches, spielerisches, verschwenderisches Denken ist das, was totalitäre Regime am meisten fürchten. Der Wunschtraum der Zensur besteht darin, nicht nur den Text, sondern auch die ihm zugrunde liegenden oder von ihm verborgenen Gedanken zu lesen. Daher die Orwellsche Trope der Gedankenpolizei".

Die Zukunft der Welt wird auch davon abhängen, wie sie mit der Freiheit des Denkens zu Rande kommt. Ob sie Steiners fulminantes Plädoyer beherzigt, sich bei Bedrohungen nicht in Selbstzensur zu üben. Ob sie der Versuchung zur fundamentalistischen Regression auch dort widersteht, wo die ganze Unheimlichkeit des Denkens auf sie zurückzuschlägt. Das Glück unter den Fittichen der Gedankenpolizei ist kein Glück, auch wenn es sich als solches ausgibt. Aber so heiter traurig zu sein wie George Steiner, das wäre für uns alle wirklich ein Glück.

George Steiner: "Warum Denken traurig macht." Zehn (mögliche) Gründe. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 91 S., geb., 14,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Martin Meyer sieht sich nach der Lektüre von George Steiners Traktat über die Traurigkeit des Denkens veranlasst, ihm ein aufmunterndes "Kopf hoch, Herr Professor" entgegen zu rufen. Gar zu trist gerät ihm offenbar Steiners Buch, das er in die Traditionslinie melancholischer Philosophen wie Schopenhauer, Heidegger und Adorno eingebettet sieht. Dabei stelle Steiner mit der Trauer und Melancholie, in die das Denken seiner Überzeugung nach führe, ein Kernproblem seines um Hinfälligkeit kreisenden Werkes ins Zentrum dieses Buches. Steiner handle in zehn Punkten ab, warum der Denker an einem unausweichlichen Ungenügen seines Denkens leide. In Optimismusverdacht gerät Steiner mit seinen Ausführungen wohl kaum, beobachtet der Rezensent, und kontrastiert Steiners trübseligen Befund mit erbaulicheren Denkpositionen, die die Grenzen des Denkens nicht betrauern, sondern sie anpackend zu überbrücken suchen (wie Leonardo) oder ihnen mit Humor begegnen (wie der Nietzsche der "Fröhlichen Wissenschaft").

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»So heiter traurig zu sein wie George Steiner, das wäre für uns alle wirklich ein Glück.« Frankfurter Allgemeine Zeitung