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Die Karriere der gefeierten Budapester Schauspielerin Rebeka Weer, unvergeßlich in der Rolle von Shakespeares Cleopatra, endet über Nacht. Der Grund: Ihre Tochter Judit, eine hochbegabte Geigerin, hat sich in den Westen abgesetzt. Von den Behörden unter Druck gesetzt, versucht sie, Judit zur Rückkehr zu bewegen - vergeblich. Um ihre Karriere zu retten, erklärt sie die Tochter für tot, inszeniert eine Beerdigung und verschickt Traueranzeigen an hochgestellte Persönlichkeiten in Kultur und Parteiapparat. Als die Entlassung nicht rückgängig gemacht wird, zieht sie sich in ihre Wohnung zurück.…mehr

Produktbeschreibung
Die Karriere der gefeierten Budapester Schauspielerin Rebeka Weer, unvergeßlich in der Rolle von Shakespeares Cleopatra, endet über Nacht. Der Grund: Ihre Tochter Judit, eine hochbegabte Geigerin, hat sich in den Westen abgesetzt. Von den Behörden unter Druck gesetzt, versucht sie, Judit zur Rückkehr zu bewegen - vergeblich. Um ihre Karriere zu retten, erklärt sie die Tochter für tot, inszeniert eine Beerdigung und verschickt Traueranzeigen an hochgestellte Persönlichkeiten in Kultur und Parteiapparat. Als die Entlassung nicht rückgängig gemacht wird, zieht sie sich in ihre Wohnung zurück. Fünfzehn Jahre lang setzt sie keinen Fuß mehr vor die Tür und überwacht jeden Schritt ihres Sohnes, der Schriftsteller werden will. Während draußen ein politisches System zusammenbricht, wird immer offensichtlicher, daß der Sohn dem aus Haß, Erpressung und Obsessionen geflochtenen Netz niemals entkommen wird. Auch nicht, als er nach allerlei unglücklichen Affären Estzer Feher auf der Freiheitsbrücke trifft und sich in sie verliebt. Attila Bartis erzählt diese Geschichte mit beklemmender Intensität. Dieser roman noir, der in manchen Zügen an Werke Sartres und Camus erinnert, ist Familiengeschichte und Künstlerroman und zugleich eines der bleibenden Bücher über die Wende in Ungarn.
Autorenporträt
Attila Bartis wurde 1968 in Marosvasarhely geboren. Er lebt als Fotograf und Autor in Budapest. "Der Spaziergang" ist seine erste größere Publikation.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2005

Das Meer der Ruhe liegt auf dem Mond
Requisiten eines abgesetzten Lebens: Der ungarische Autor Attila Bartis läßt die politische Wende im Familiendrama verschwinden

Während die Tochter beerdigt wird, muß das Taxi mit laufendem Zähler warten. Den Sarg hatte der Fahrer gegen zweitausend Forint auf dem Dachgepäckträger transportiert. Die Mutter, schwarzes Seidenkostüm, hauchdünne Sandaletten an den Füßen, schwarzes Samttäschchen, hat es eilig, und gleich nachdem ein paar Schaufeln Erde den Sarg bedecken, macht sie sich schon wieder auf den Weg zum Parteisekretär: ob er jetzt zufrieden sei, und sie nun wieder die großen Rollen spielen dürfe. Doch ihre Partie als trauernde Mutter, wahrlich kein Glanzstück, wird der letzte öffentliche Auftritt von Rebeka Weér gewesen sein.

Es geschah in Budapest, Mitte der achtziger Jahre: Die gefeierte Theaterschauspielerin, gerade als furiose Cleopatra zu bewundern, muß auf Druck der Partei ihre Karriere beenden. Die Tochter Judit, eine aufstrebende Geigenvirtuosin, hat sich in den Westen abgesetzt, und nachdem sie weder durch mütterliche Bitten noch durch Drohungen zur Rückkehr zu bewegen ist, greift Rebeka Weér zum letzten Mittel: Sie läßt Judit für tot erklären und beerdigt an ihrer Statt sämtliche Erinnerungsstücke. Die Partei zeigt sich unbeeindruckt und bleibt hartnäckig bei ihrem faktischen Berufsverbot; die Mutter verläßt fortan ihre Wohnung, vollständig eingerichtet mit Requisiten all ihrer großen Rollen, nicht mehr. Ihr Publikum besteht nur noch aus ihrem Sohn, dem Ich-Erzähler dieser Geschichte. Das Drama wird fünfzehn Jahre lang auf dem Spielplan stehen, bis zum Tod der Mutter.

Der ungarische Schriftsteller Attila Bartis, geboren 1968, erzählt in seinem zweiten auf deutsch übersetzten Roman (nach "Der Spaziergang" von 1999) die Chronik einer familiären Katastrophe, die keinen der Beteiligten verschont. Das Buch setzt mit der Beerdigung der Mutter ein. Zögerlich, fast widerstrebend legt der inzwischen zum Schriftsteller gewordene Sohn die verwickelten Fäden seines Lebens auseinander. Jahrelang hatte er der Mutter gefälschte Briefe der Schwester aus allen Teilen der Welt zugesandt; tatsächlich hat sich Judit schon vor Jahren in Frankreich mit einer Geigensaite die Pulsadern aufgeschnitten. Jahrelang muß sich der Sohn für jede Abwesenheit rechtfertigen; seine Geschichten, in denen er seine Situation zu verarbeiten sucht, hält die Mutter für "Müll" - und muß sie doch heimlich lesen. Der angehende Schriftsteller wiederum bringt seine Tage in der Eckkneipe herum und die Nächte mit One-night-stands, die ihn selber anekeln. Ein innerer Zwang regiert die Handlungen aller Figuren dieses Romans. Das Stück, das Mutter und Sohn geben und dessen immergleiche Dialoge zwischen "Wannkommstdu" und "Wowarstdu" keinen Souffleur brauchen, ist mal Strindberg und mal Tschechow, meistens aber reiner Beckett oder gar pures Theater der Grausamkeit.

Zur Eskalation kommt es, als der Erzähler Eszter begegnet, einer jungen Frau, die ebenfalls mit dem Leben abgeschlossen hat, und in die Donau springen will. Erst in ihrer Liebe finden die beiden jene prekäre Seelenruhe, von der der Romantitel auf fast höhnische Weise spricht. Das Mare Tranquillitatis liegt auf dem Mond, den sie gemeinsam beobachten. Seiner jenseitigen Stille kommt die Gegenwart allein in der momenthaften erotischen Erfüllung nahe. Doch ihr Glück wird im zerstörerischen Beziehungsgeflecht bald zerrieben. Die tyrannische Mutter lehnt Eszter als "Nutte" ab, die ihr den Sohn abspenstig machen will; zugleich verstrickt sich dieser in eine gewalttätige Affäre mit seiner deutlich älteren Verlegerin - der pathologisch gewordenen Mutterbindung kann er nicht entkommen. Weil zu allem Überfluß auch Eszter mit eigenen Traumatisierungen zu kämpfen hat, läuft das Psychodrama mit beinahe quälender Folgerichtigkeit auf einen furchtbaren Frontalzusammenstoß hinaus.

Der Zusammenhang der privaten Tragödie mit den politischen und sozialen Umbrüchen ist nicht so leicht herzustellen, wie die verlegerische Etikettierung des Buchs als "Wenderoman" verspricht. Zwar hat Bartis in die Familiengeschichte ein Panorama der ungarischen Gesellschaft eingelassen - der Schriftsteller macht für eine Lesung eine Reise durch die Provinz; Nebenfiguren wie eine verrückt gewordene, vögelmordende Prostituierte werfen grelle Schlaglichter auf die triste Großstadtrealität -, doch setzt die Weltflucht der Mutter ja vor der Wende ein. Bartis beschreibt vielmehr die Schwierigkeit, sich überhaupt von der Vergangenheit zu lösen und sich einer wie auch immer veränderten Gegenwart zuzuwenden. Auch der Sohn hat sich in einer Scheinwelt eingerichtet; auch er lebt in den Kulissen einer längst abgesetzten Inszenierung. Doch die alten Wunden verheilen auch in der neuen Zeit nicht mehr.

Mit beeindruckender Sprachkraft gelingt es Bartis, die Ambivalenzen seiner Figuren, ihre Haßliebe und selbstzerstörerischen Energien zu entblößen und dabei die Spannung über dreihundert Seiten zu halten. Nie gleitet er dabei in abstraktes Psychologisieren ab, immer bleibt er am Konkreten: am Schmerz. Gewalt äußert sich körperlich und sprachlich; die mitunter krassen und deutlichen Sexszenen lassen die enormen Kräfte spürbar werden, die im Innern der Figuren um die Herrschaft ringen. Allein hier scheint die ansonsten flüssige Übersetzung manchmal überfordert: "Deine Wonne fehlt mir" heißt es einmal, als der Orgasmus gemeint ist.

Fast nebenbei erzählt Attila Bartis, auf spürbar autobiographischem Fundament, davon, wie ein Schicksal zum Stoff wird, ein Leben zum Roman und ein junger Mann zum Schriftsteller. Und eine tyrannische, verrückte, unerträgliche Mutter zur unsterblichen literarischen Figur. Dieses Buch ist ein gewaltiges Epitaph; wird es aufgeschlagen, ist es mit der Ruhe vorbei.

Attila Bartis: "Die Ruhe". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Agnes Relle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 300 S., geb., 22,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2005

In der Hölle der Requisiten
Ein Roman wie ein Hieb: „Die Ruhe” von Attila Bartis
Es könnte ein Paradies sein, in dem die Kinder immer neue Welten erfinden. Denn die Mutter ist Schauspielerin, die Wohnung voller Requisiten, und wenn es richtig dramatisch zugehen soll, kann man ein Päckchen Blutpatronen aus dem Theater mitgehen lassen. Ein Erzähler könnte vom Spiel der Kinder berichten, augenzwinkernd auch dort, wo es Unglück, Krankheit und Tod in sich aufnimmt, und am Ende würde ein anekdotengesättigter Familienroman daraus.
Der ungarische Schriftsteller Attila Bartis, der 1968 im rumänischen Siebenbürgen geboren wurde und seit 1984 in Budapest lebt, kennt in seinem Roman „Die Ruhe” keine Paradiese, auch keine verlorenen. Wie ein frostiger Wind fährt er durch das Ungarn der achtziger und frühen neunziger Jahre. In der Wendezeit wird er nicht milder. Die Kinder darin sind frühreif und mit einer Phantasie begabt, die nie unschuldig war. Judit, die künftige Geigenvirtuosin, besorgt die Patronen, denen ihr Zwillingsbruder Andor sein chronisches Nasenbluten verdankt. Andor schlägt mit dem Löffel neben das gekochte Ei, blickt durch die Augen der Mutter hindurch ins Nichts und markiert den plötzlich Erblindeten.
Denn der Schrott ist böse
Als die Mutter das Schauspiel des Sohnes durchschaut, ist einer der vielen Temperaturstürze im Requisitenparadies fällig. Judit übt auf der dazugehörigen Tonspur Bach-Partiten, Andor kommt ein gutes Stück voran auf seinem Weg zum Großmeister des bösen Blicks. Er ist, erwachsen geworden, der Erzähler des Romans und hat sich darauf durch die Exerzitien des Schachspiels gegen sich selbst und ausgiebige Lektüre von Dostojewski-Romanen vorbereitet. An Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften” fesselt ihn gar nichts, an Thomas Manns „Zauberberg” keinesfalls die Hauptfigur, sondern allenfalls die Szene, in der die tuberkulösen Frauen den tuberkulösen Herrn Albin auf der Dachterrasse beschwören, seine Pistole einzustecken. Und die mitteleuropäische Leichtigkeit des Seins entsorgt dieser Erzähler wie Sperrmüll zwischen den Zeilen.
Lange Jahre hat er mit seiner Mutter, der berühmten Schauspielerin Rebeka Weér, in einer Wohnung gelebt, die sich zunehmend in eine Gruft verwandelte. Denn als Judit, die Geigen-Virtuosin, in den achtziger Jahren in den Westen ging, war die Karriere der Shakespeare-Darstellerin jäh abgebrochen: als Komparsin und halbnackte Sklavin war sie vom Theater durch die Straßen der Stadt nach Hause geflüchtet. Ihre letzte Inszenierung hatte zuvor auf dem Kerepeser Friedhofs stattgefunden. Dort hatte die Mutter die unbequeme Tochter, nicht ohne ihr einen leibhaftigen Totenschein zu besorgen, in einem Sarg aus der Requisite beisetzen lassen. Aber die theatralische Geste zu Rettung der Karriere der Mutter war fehlgeschlagen und hatte ihr Ende als Schauspielerin besiegelt.
Die elegische Variante der Geschichte wäre das Sich-Einspinnen der Schauspieler-Mutter in die Beschwörung der Aufführungen von einst. Aber die anheimelnde Glut der Erinnerung hat gegen die Kälte der Prosa in diesem Roman keine Chance. In die Asche der verdienten Schauspielerin im sozialistischen Ensemble, das an Neujahr gelegentlich hoffnungsfrohe Propagandastücke in Gefängnissen aufzuführen hat, bläst er nur, um daraus das Drama der Hassliebe zwischen Mutter und Sohn aufsteigen zu lassen. Mit Shakespeareschem Welttheater hat es nicht zu tun: Es ist trist, trivial, böse, obszön. Am Ende landen alle Theater-Requisiten der Mutter auf dem Sperrmüll.
Die zynisch-zärtliche Erzählung des Sohnes vom Begräbnis der Mutter schließt Anfang und Ende des Romans zusammen. Dem Tod der Schauspielerin geht ihr letzter dramatischer Moment voraus: die Entdeckung, dass die Briefe und Karten, die von virtuosen Judit aus den Metropolen des Westens eintrafen, nicht nur alle vom Schriftsteller-Sohn fingiert waren (das mochte sie geahnt haben), sondern dass sie zudem seit Jahren schon von einer Toten, einer Selbstmörderin kamen. Der Schriftsteller-Sohn bereist die ungarische Provinz, dokumentiert hellhörig die O-Töne des Volksmundes beim Zusammenbruch des Sozialismus, beim Aufgang der westlichen Waren- und Werbewelt oder beim Abzug der russischen Truppen. Aber das Amt eines Budapester Stadtschreibers und Chronisten der Wende in Ungarn schlägt er aus. Tauwetter liegt ihm nicht, mit beeindruckender Konsequenz arbeitet er am Ruin seiner Figuren.
Er wird dabei von Priestern begleitet, selbsterfundenen wie dem, der in einer plakativen Jugendarbeit vergiftete Hostien an seine Gemeinde verteilt, und leibhaftigen wie dem Dorfpfarrer, der ihn dazu überreden will, das Schreiben als „das vierte Sakrament”, als Übung der Reue und Buße zu betreiben. Aber Dostojewskis bestrittenem Gott kommen hier die großen Dialoge der Zweifler abhanden, mit rüden Gesten und Flüchen wird der Priester abgefertigt. Und zwar gibt es eine Nachfahrin der demütigen Sonja-Figuren namens Eszter. Aber aus deren Opfergeschichte zwischen Rumänien und Ungarn ist kein Heil zu gewinnen. Und die Liebe ist keine erlösende Macht, sondern eine Art Notwehr, roh und in panischer Angst vor Zeugung betrieben.
Nichts erinnert hier an die mitteleuropäische Utopie der achtziger Jahre, in der die Sexualität als anarchische Kraft die staatliche Ordnung unterminierte. Höhepunkt der obszönen Passagen in diesem unversöhnlichen Roman ist die heftige, vom Hass befeuerte Affäre des seiner Eszter untreuen Erzählers mit der Verlagslektorin. Hier kommt der böse Blick der Auflösung in die Allegorie bedenklich nahe. Aber die schneidende Schärfe, mit der das Buch aller „unschuldigen” Literatur seine Absage erteilt, verdient Respekt. LOTHAR MÜLLER
ATTILA BARTIS: Die Ruhe. Roman. Aus dem Ungarischen von Agnes Relle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 300 Seiten, 22,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Ein Roman wie ein Hieb", urteilt Lothar Müller über dieses Buch des ungarischen Schriftstellers Attila Bartis. Von einem augenzwinkernden, anekdotengesättigten Familienroman ist dieses Buch denkbar weit entfernt. Durch die im Ungarn der achtziger und frühen neunziger Jahre angesiedelte Geschichte über die gefeierte Budapester Schauspielerin Rebeka Weer und ihre frühreifen Kinder, die künftige Geigenvirtuosin Tochter Judit, und den zum Schriftsteller avancierenden Sohn Andor, die sich auf jeweils eigene Weise an ihrer tyrannischen Mutter rächen, weht für Müller ein "frostiger Wind". Während Judit in den Westen geht und damit das Ende von Rebekas Schauspielkarriere besiegelt, entspinnt sich zwischen der Mutter und ihrem Sohn das "Drama der Hassliebe". Müller ist beeindruckt von der Kälte der Prosa, von der Unversöhnlichkeit und Konsequenz des Romans. Auch wenn der "böse Blick" Andors der Auflösung in die Allegorie bisweilen bedenklich nahekomme, verdiene die "schneidende Schärfe" des Romans Respekt.

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