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Der ungarische Schriftsteller István Örkény (1912-1979) hat eine literarische Form erfunden: die Mininovelle, deren Lektüre nicht mehr als eine Minute beansprucht und deren Titel unmißverständlich sein muß wie die Nummer einer Straßenbahn. Er schrieb sie »während der wenigen freien Stunden, die er der Geschichte abtrotzen konnte« - einer Geschichte, die ihm vor allem Verfolgung, Krieg, Gefangenschaft und den unberechenbaren Alltag in einer repressiven Gesellschaft zugedacht hatte. In diesen »Märchen aus dem 20. Jahrhundert« (György Konrád) lesen wir von einem kleinen Mädchen in Rußland, das…mehr

Produktbeschreibung
Der ungarische Schriftsteller István Örkény (1912-1979) hat eine literarische Form erfunden: die Mininovelle, deren Lektüre nicht mehr als eine Minute beansprucht und deren Titel unmißverständlich sein muß wie die Nummer einer Straßenbahn. Er schrieb sie »während der wenigen freien Stunden, die er der Geschichte abtrotzen konnte« - einer Geschichte, die ihm vor allem Verfolgung, Krieg, Gefangenschaft und den unberechenbaren Alltag in einer repressiven Gesellschaft zugedacht hatte. In diesen »Märchen aus dem 20. Jahrhundert« (György Konrád) lesen wir von einem kleinen Mädchen in Rußland, das fasziniert die neue Leica-Kamera betrachtet, mit der die Hinrichtung seiner Mutter aufgenommen wird; von einer Tulpe, die sich vom Fensterbrett stürzt, weil sie keine Tulpe mehr sein will; oder von der Pförtnerin eines Unternehmens, die vierzehn Jahre lang die selbe Auskunft gibt, bis sie eines Tages einen unerhörten Satz spricht und für Sekunden ein Loch in die Welt schlägt.
Die Minutennovellen, deren Humor und Rätselhaftigkeit an Kafka erinnern, gehören längst zu den Klassikern der osteuropäischen Moderne. In wenigen Zeilen die Essenz eines Lebens, in einem simplen Dialog die Absurdität einer Epoche festzuhalten - das ist die hohe Kunst dieses Autors, der seine Texte gern mit Brühwürfeln verglich, aus denen der Leser sich eine Suppe kochen soll.
Autorenporträt
Örkény, IstvánIstván Örkény, 1912 in Budapest geboren, war Apotheker und Chemiker. 1938 debütierte er mit der Erzählung Ringelreihen, die seinem ersten Novellenband von 1941 den Titel gab. 1942 wurde Örkény eingezogen. Weil er Jude war, mußte er in einem Arbeitsbataillon an der russischen Front dienen. Nach fünf Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft kehrte er nach Budapest zurück. 1953 veröffentlichte er seinen ersten Roman Eheleute. 1955 folgte der Novellenband Im Schneesturm. Seit 1956 zu einem mehrjährigen Schweigen verurteilt, wurde er erst Mitte der sechziger Jahre einem größeren Publikum bekannt. Im Ausland nahm man ihn als den bedeutendsten ungarischen Dramatiker seit dem Zweiten Weltkrieg wahr. Er schrieb Kurzromane und Erzählungen. Als Schöpfer einer neuen erzählerischen Gattung, der "Minutennovelle", gilt er heute als Klassiker der Moderne. Erste Auswahlsammlungen der Minutennovellen, übersetzt von Vera Thies, erschienen in der DDR: Der letzte Zug (1973) und Gedank

en im Keller, (1977). Sein Roman Rosenausstellung erschien zunächst in der DDR, 1982 u.d.T. Interview mit einem Toten bei Suhrkamp (Übersetzung: Hildegard Grosche). Seine Stücke, vor allem Katzen-Spiel(1966), Familie Tót (1967) und Pischti im Blutgewitter (1969) wurden auf allen großen Bühnen gespielt und liegen ebenfalls in deutscher Übersetzung vor. Terezia Móra, 1971 in Sopron/Ungarn geboren. 1990 Übersiedlung nach Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft und Hungarologie und erwarb das Drehbuch-Diplom der Deutschen Film- und Fernsehakademie. 1999 erschien ihr Erzählband Seltsame Materie. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Ungarischen, zuletzt Harmonia caelestis von Péter Esterházy. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1999.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2003

Mangelgefühl
Im Hinterland der Geschichte:
István Örkénys „Minutennovellen”
Die wenigen freien Stunden, schreibt István Örkény, die ihm die Weltgeschichte (Kriegsdienst, Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Verfolgung und Schreibverbot) gelassen habe, hätten ihn zur Kürze gezwungen. „Minutennovellen” taufte er seine Erzählminiaturen, die das Leben, Überleben und Weiterleben in der ungarischen Wetterecke unter die Lupe nehmen. In seiner ungarischen Heimat gilt Örkény, der 1912 in Budapest geboren wurde, Chemie studierte und Apotheker war, ehe er 1938 mit Erzählungen debütierte, als Großmeister der kleinen Form. Nach 1956 konnte er mehrere Jahre lang nicht publizieren, 1979 ist er, inzwischen ein angesehener Dramatiker und Prosaist, gestorben.
Örkény betrachtet die Welt vom Hinterland der Geschichte aus, wo die Frontexistenz zur Tagesordnung übergeht, wo man Kohle aus dem Keller holt, Stillleben malt, die Geranien gießt, Trompete bläst, Schulklassen in den ungarischen Pantheon führt und im Lunapark seinem Vergnügen nachgeht. Allerdings trägt der Dorftrompeter immer noch seine Korporalsuniform, immer noch sucht der Heimgekehrte vergebens einen Reim auf die Liedzeile „Wir ziehen dahin im Kriegsgestöber”, die der Liedermacher Jenö Janász dichtete, als ihn am Steuer des Jeeps die Kugel traf.
Unvermeidlich begegnet Herr Király beim Kohleschleppen seinem Nachbarn, den er wegen vierzehn Kilo versteckten Schmalzes denunzierte, besichtigen die Schulklassen des Landes wieder die Milchzähne der tapferen Friedenskämpfer: jetzt ist es der, der furchtlos verkündete, Hitlers Tage seien gezählt, als Hitlers Tage gezählt waren. Sie alle sind Parodisten, die in der Wiederholung den dämpfenden Abstand zum Erlebten auskosten und, wie jener leidenschaftliche Geisterbahnfahrer, ein vom Leben hart hergenommener Polsterer, den Unernst genießen, das Spielzeug- und Pläsiergrauen ausgestopfter Eulen, ächzender Sargdeckel und wehender Gerippe. Die Bannung der Affekte durch die Distanz der Anschauung ist ein Stilprinzip des Autors.
Nur zu offensichtlich dient der Sachlichkeitsüberschuss vieler Texte der Ausnüchterung und Trockenlegung ihres Schicksalssinns im Dokumentarischen. Wo freilich die Kleinanzeigen, Inserate, Register, Zoonachrichten, Anekdoten und jüdischen Witze, mit Victor Sklovskij zu sprechen, „das Leben auf die Landkarte der Epoche pausen” müssten, begnügt Örkény sich mit Beliebigkeiten und mit Todesanzeigen, die in ein mattes memento mori – „du noch nicht” – münden. Hebels Anekdote vom unverhofften Wiedersehen kehrt als Minutennovelle wieder. Aber die kaltschnäuzige Pointe „Lernt Fremdsprachen” in der Geschichte vom jüdischen Opfer, das in einem Italientouristen seinen deutschen Peiniger wiedererkennt, sich den Einheimischen aber nicht verständlich machen kann, erscheint als gequälter Gag.
Sisyphos im Sozialismus
Örkény gewinnt als Erzähler immer dann Statur, wenn er seine Stoffe verfremdet, wie in der Parabel „Ostmann”. Károly Ostmann ist Geschäftsführer einer traurigen kleinen Drogerie in einem zum Abbruch verurteilten Haus. In Zeiten bitterer Wohnungsnot setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, bis er es schafft und eine Einzimmerwohnung in der Károly-Ostmann- Straße bezieht –, ohne freilich sein Mangelgefühl loszuwerden. Also kauft er vom letzten Heller, den er besitzt, ein Türschild, auf das er seinen Namen gravieren lässt –, ohne freilich sein Mangelgefühl loszuwerden. Also schreibt er seinen Namen mit Wachskreide auf die Rückseite seines Mantels. Im Sog zwischen Fehlempfindungen und Füllzwängen entsteht das Bild der Ostmann- Existenz im Bewusstsein ihrer Absurdität, ihrer Grundlosigkeit, Schattenhaftigkeit, Zeitlichkeit. Zugleich enthält diese Parabel die Poetik der Minutennovellen: die Kunst der Reduktion und Amplifikation.
Örkénys Angriffsziel ist die Vernunft, ihr pathologischer Zwang zur Entzauberung der Welt. Also versammelt er die vereinigten Streitkräfte des Widerstands, barmherzige Seelen, die dreibeinige Hunde durchfüttern, altes Eisen in Ehren halten und, rechte Sisyphosfiguren, weitermachen, obwohl ihr Leben keinen anderen Sinn hat als den, da zu sein. Selbst in den weniger geglückten, betulichen Texten überspringt er ganze Tatsachenreihen, um dem Bürger im sozialistischen Habenichts seinen Auftritt zu verschaffen, dessen Proletarisierung nicht gelingt, weil die Erbschaft der Bürgerklasse lebt: Stil, Bildung, Humanität.
Dazwischen lässt er ein paar Knallfrösche hochgehen, leere Seiten voller Wirklichkeits- und Sprachlöcher, Nachrichten über den unfruchtbaren Scharrer, eine Züchtung ungarischer Zoologen, die Ratten, falsche Bilanzen und Gerichtsurteile vernichtet, und jene Schnurre vom berstenden Grab auf Parzelle Nr. 27 und der Auferstehung Frau Stefánia Hajduskas (1827-1848), die gleich wieder in ihr Lehmloch verschwindet, als sie hört, dass der Freiheitskampf wieder ein Fiasko war.
István Örkénys Minutennovellen kommen in Terézia Moras vorzüglicher Übersetzung zu uns. György Konrád steuert Erinnerungen an den Autor bei, die das Bild des von der Weltgeschichte wie von einem Schlaganfall Getroffenen komplettieren.
SIBYLLE CRAMER
ISTVÁN ÖRKÉNY: Minutennovellen. Ausgewählt und aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Nachwort von György Konrád. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 176 Seiten, 12, 80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

So muß man die Bälle schießen, Künstlerchen!
Warum ich einfach keinen Sinn darin sehe, dieses Buch nicht zu lesen: Zu István Örkénys "Minutennovellen" / Von Péter Esterházy

Terézia Móra! - beginnen wir es einmal mit diesen Worten und einem Ausrufezeichen (sie hat den Band nach einer Idee von Erzsébet Rácz zusammengestellt und übersetzt), um unsere Anerkennung und Hochachtung den Übersetzern gegenüber auszudrücken, deren Wichtigkeit wir nicht genug betonen können, und schlau habe ich nun das Problem umgangen, die Übersetzung konkret zu beurteilen, was ich einerseits wirklich nicht kann (ich habe ein ungarisches Gehör, mehr noch, eine ungarische Feder, und da Sie auch diese Zeilen nicht ungarisch lesen, soll hier noch ein Ausrufezeichen stehen!), andererseits wirklich nicht sollte - schließlich bin ich befangen, denn Terézia Móra hat auch meinen Roman "Harmonia Caelestis" übersetzt.

Als István Örkénys "Minutennovellen" herauskamen, war Mitteleuropa, soweit ich mich erinnern kann, noch nicht vorhanden, es gab nur Osteuropa, das heißt, es gab, was es gab, nur sprach man noch nicht darüber. (Eine Definition wäre: Mitteleuropa ist jetzt die modische Form von Osteuropa.) Örkénys Schriften waren im Handumdrehen populär, man erzählte sie in Gesellschaft wie Witze, sang sie wie Volkslieder, und auch die Friseurlehrlinge pfiffen sie, als ginge es um die "Traviata". Wenn jemand die neuesten Texte auswendig wußte, hatte er größere Chancen bei Frauen (Männern etc.).

Und wenn wir mit dem besten Freund darüber nachdachten, was bei einem neuen Mädchen fehle, obwohl sie schön ist, brillant, einfach betörend, dann sprachen wir schweren Herzens die Lösung aus, nämlich den Örkény-Satz, daß die Herzenswärme fehle. Natürlich muß man da noch etwas hinzufügen. Was denn? Daß sie schön ist. Daß sie strahlend ist . . . Aber etwas, eine Kleinigkeit, eine Winzigkeit fehlt ihr doch. Die Wärme des Herzens, sagte einer von uns.

Der Osteuropäer bewegte sich mühelos in der Welt des Absurden. Ich korrigiere: nicht mühelos, sondern natürlich. In den sechziger und Anfang der siebziger Jahre war das osteuropäische Absurde die große Kunstgattung, ihr Nährboden war die verblüffende Gegenüberstellung von Schein und Wirklichkeit, und in diesem Zusammenhang weinten, heulten, lachten, grölten Mrozek, Hrabal, Örkény, György Konrád (in seinem "Der Besucher"), Páral, Fuks, Havel, Sorescu, Rózewicz; mit wütender Lust und spielerischem Schmerz registrierten sie die Widersprüche. Sicher, das "real Existierende", mit dem wir zu leben hatten, war zwar keine große, aber eine unglaublich interessante Erfindung. Unglaublich war sie. (Nebenbei erwähnt ging diese Geschichte so weiter, daß wir dieses Hin und Her von Schein und Wirklichkeit, das glanzvolle und abscheuliche Versteckspiel, bei dem die Versuchskaninchen wir selbst waren, in den achtziger Jahren dann satt hatten, und das war das Ende der Groteske. Geblieben ist die Ironie - selbstverständlich in jener konstruktiven Form, von der auch Musil spricht, na sicher.)

Über die so sehr fehlende Herzenswärme kann man in der Minutennovelle "Schleife" nachlesen; sie stammt aus den dreißiger Jahren. Die natürliche Stimme des jungen Örkény (1912 geboren) war die Groteske, die er dann fallenließ, und erst gut dreißig Jahre später kehrte er zu ihr zurück. Etwas lächerlich formuliert, könnte man sagen, daß für Örkénys Arbeit weder der Krieg noch die kommunistische Diktatur Bedeutendes gebracht hat, andererseits sind es gerade der Krieg und die beiden Diktaturen, die den wirklichen Kernpunkt, die Stille und das Entsetzen bieten, durch die Örkénys Kunst angetrieben wird.

Der kleine Brief, den er seinem Freund von der russischen Front geschrieben hatte, war bereits eine Minutennovelle: "Weder in die Oper noch zu Konzerten pflege ich oft zu gehen. Zur Zeit lege ich eher Wert auf Dinge wie Auf-dem-Bauch-herumkriechen und Menschenerschießen."

Aus der Kriegsgefangenschaft war er erst Ende 1946 zurückgekehrt ("ich war oft in Todesnähe und an Abgründen, wo die menschliche Moral aufhört"), dann wurde er von der schweren osteuropäischen Geschichte weitergetrieben. Aus dieser Zeit möchte ich auch nur eine Anekdote erwähnen. Als eine Art sozialistisch-realistischer Reporter hatte Örkény damals im Themenbereich des entstehenden Sozialismus Berichte zu schreiben. Als er über die Einweihung einer fertiggestellten Eisenhütte berichten wollte, hatte sein Informant, ein alter Fachmann, gerade erfahren, daß Örkény der Sohn des berühmten Apothekers Österreicher war, nun zog er ihn also vertraulich zur Seite, wies auf das riesige Bauwerk hin und sagte: "Scheiße wird hier fließen, Genosse Österreicher, nicht Stahl." Der Satz wurde in den Bericht nicht aufgenommen, hat aber alles andere aus jener Zeit überlebt. Ein aktueller, gut brauchbarer Satz, voller Leben.

Auch die "Minutennovellen" sind voller Leben, sie sind keine "alten" Texte und nicht etwa nur interessante Nachrichten über eine vergangene Zeit, ein vergangenes System. In einem Interview sagte Péter Nádas einmal, Örkény zu lesen sei für ihn, als würde er im riesigen Meer baden. Dabei sollten wir uns das Meer als etwas Endloses und Unerreichbares vorstellen, da es in Ungarn ja kein Meer gebe.

Die "Minutennovellen" sind das Meer und gleichzeitig die ungarische Pfütze, und kosmisch sind sie, indem sie eine genaue Einführung in die ungarische Geschichte und die ungarische Mentalität bieten. Das aber hat (natürlich) schon etwas mit der Literaturgattung selbst zu tun. Örkénys "Minutennovellen" sind geheimnisvolle Objekte. Sie sind nicht nur Kurzprosa, sondern vielerlei zugleich. Anekdote (und nicht etwa die ungarische Version, die sich gerne als Sieger sieht und daher zur Gattung des gemütlichen Selbstbetruges gehört, sondern eher die tschechische Variante mit Selbstironie und einem Lachen über sich selbst), Aphorismus, Notiz, Objet trouvé, Märchen, Witz, Parabel, da ist von allem etwas, auch von Kafka, nur sind Örkénys Parabeln zugleich auch Parodien. Die Ein-Minuten-Texte von John Cage sind in erster Linie sechzig Sekunden lang, Daniil Charms ist poetischer, Peter Bichsels Texte fühlen sich zu Hause.

Örkény flieht, und seine Würde entsteht dadurch, daß er weiß, es gibt kein Wohin.

Wir ungarischen Schriftsteller sind mit ihm durch tausend Fäden verbunden. Was die Sprache betrifft, gehört Örkény in die puristische Linie von Kosztolányi (1885 bis 1936). Bei Örkény gibt es nichts Sentimentales, wodurch er mit dem größten aller Nüchternen in Verbindung steht, mit Miklós Mészöly, allerdings auch durch die Hagerkeit seiner Texte, durch den schmucklosen Puritanismus der Sätze. Um einzelne Begriffe klären zu können, führt er einen hoffnungslosen (ungarischen) Kampf, in dieser Hinsicht ist Nádas sein Schüler, und Örkénys Umgang mit der kaputten Alltagssprache hat dem Autor dieser Zeilen den Mut zu sich selbst gegeben. Meinerseits höre ich sogar in der unerbittlichen Kertészschen Ironie Örkény heraus.

Einem Gerücht zufolge soll einmal ein Schriftstellerkollege Ferenc Puskás gefragt haben, warum seine Bälle immer so genau ins Ziel gelangten. So muß man sie schießen, Künstlerchen, habe der linksfüßige, große ungarische Denker geantwortet. Entsprechend mochte Örkény für uns, was das Metier betrifft, ein Vorbild gewesen sein: wir konnten deutlich sehen, daß er "so schießt".

Er erzählt nicht, er spricht etwas aus. Was er schreibt, ist auf jene Weise Philosophie und also Denken, daß sie nicht abstrakt ist. Er ist geistreich, aber nicht gemütlich. Scharf, unerbittlich, gnadenlos: poetisch. Herb ist er wie ein Engländer, elegant wie ein Franzose, konsequent wie ein Deutscher: Er ist ein Ungar. Er ist der einzige Bürger nach Márai. (Nach ihm folgt dann Nádas.) Kartesianische Ordnung und credo, quia absurdum, Ernüchterung und Heiterkeit. Das Pathos der Ernüchterung. "Es lebe das Fragezeichen, vernichtet sei der Punkt", so sagte es Örkény.

Manchmal nehmen sich die "Minutennovellen" aus, als seien sie jene Gedichte, die man nach Auschwitz nicht schreiben konnte. Martin Lüdke sagte in seiner Kritik über das neue Buch von Semprún, daß er, weil er in der deutschen Kultur bewandert war, im Lager beinahe umgekommen wäre. Das weiß der ungarische Leser längst aus dem Text "Dr. K.H.G.".

",Hölderlin ist Ihnen unbekannt?' fragte Dr. K.H.G., während er die Grube für den Pferdekadaver aushob.

,Wer war das?' fragte der deutsche Wächter.

,Der den Hyperion geschrieben hat. Die größte Gestalt der deutschen Romantik', erklärte Dr. K.H.G. Er liebte es sehr, zu erklären. ,Und zum Beispiel Heine?'

,Was sind das für welche?' fragte der Wächter.

,Dichter', sagte Dr. K.H.G. ,Aber Schillers Namen werden Sie wohl kennen?'

,Doch, den kenne ich', sagte der deutsche Wächter.

,Und Rilke?'

,Den auch', sagte der deutsche Wächter und wurde puterrot und erschoß Dr. K.H.G."

Sagen wir, daß die ontologische Absurdität der Welt heute durch die Absurdität der Montage und Dienstage ausgetauscht wurde. Auch die "Minutennovellen" gleiten auf diese Art zwischen Himmel und Erde. Aus Unglaublichem wird Glaubwürdiges. Wer versteht das schon? ist die Grundfrage Örkénys. Aber auch wenn wir das nicht verstehen, sind wir, was wir sind, nämlich unnachahmlich.

",Wer bist du, du schlankes, schönes junges Mädchen mit den langen Haaren?'

,Mein voller Name ist: Klára Nóra Annamária Olga von Vorazlick. Aber man nennt mich nur: Kukschi. Und wer ist der Herr?'

,Mein Name ist ebenfalls Klára Nóra Annamária Olga von Vorazlick, und auch mich nennt man nur Kukschi.'

,Merkwürdig. Dabei ist der Herr doch schon ganz alt und kahl, und sein rechtes Auge ist ganz verdreht . . . Ich verstehe das nicht.'

,Merke dir, Kukschi, es gibt eben keine zwei gleichen Klára Nóra Annamária Olga von Vorazlicks.'

,Wie schade!'

,Ja, so ist das nun einmal.'"

Wer versteht das schon? Und ja, so ist das nun einmal.

Ein trauriger Mensch, der viel erlitten hat, so habe ich ihn immer gesehen. Und als Zeitgenossen. Als Osteuropäer, der also viel weiß. Viel und ab ovo wenig. Das alles meinte ich in dem zerknitterten, schweren, lächelnden Gesicht sehen zu können. Im Jahr 1979, vor mehr als zwanzig Jahren, ist er gestorben, mit diesem Zeitabstand pflegt das Gedächtnis der Literatur am undankbarsten, am vergeßlichsten umzugehen. Örkény ist eine große Ausnahme. Selbstverständlich möchte ich den Leser zu nichts überreden, nur sehe ich einfach keinen Sinn darin, dieses Buch nicht zu lesen. In Örkénys Gesicht gab es so viele Runzeln wie in dem meiner Großmutter. Würden wir uns jetzt in einem Roman befinden, könnte ich sagen, es waren genausoviel, denn ich habe sie gezählt.

Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse.

István Örkény: "Minutennovellen". Ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Terézia Móra. Mit einem Nachwort von György Konrád. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 164 Seiten, geb., 12,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Istvan Örkeny hat selbst einmal von sich behauptet, berichtet Sybille Cramer in ihrer Rezension, seine Lebensgeschichte, die eng mit dem politischen Schicksal seines Landes verknüpft war, hätte ihn immer zur Kürze gezwungen. Örkeny, Jahrgang 1912, verbrachte Jahre im Krieg, in Gefangenschaft, im Arbeitslager, später hatte er Schreibverbot. Insofern passt der Titel "Minutennovellen" bestens auf seine Erzählminiaturen, findet Cramer. Nicht alle "Minutennovellen" seien hundertprozentig geglückt, behauptet Cramer, manche hätten deutlich einen "Sachlichkeitsüberschuss", um die Affekte bei so viel Schicksalsschlägen in Schach zu halten. Richtig gut findet Cramer Örkeny dort, wo er seine Stoffe verfremdet, zu Parabeln umschreibt wie etwas in der Erzählung "Ostmann". Vortrefflich sei auch die Übersetzung von Terezia Mora, lobt Cramer, das Nachwort von György Konrad steuere Erinnerungen an den 1979 verstorbenen Autor bei.

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