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In seiner großen Biographie präsentiert Joachim Radkau Heuss als facettenreiche Persönlichkeit: Schöngeist und Spötter, Politiker und Ökonom. Theodor Heuss verkörpert die Modernisierung Deutschlands von der Kaiserzeit bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik. Nun ist er als zentrale Figur der deutschen Geschichte zu entdecken - und zugleich öffnet sich ein neuer Blick auf die frühen Jahre der Bundesrepublik.

Produktbeschreibung
In seiner großen Biographie präsentiert Joachim Radkau Heuss als facettenreiche Persönlichkeit: Schöngeist und Spötter, Politiker und Ökonom. Theodor Heuss verkörpert die Modernisierung Deutschlands von der Kaiserzeit bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik. Nun ist er als zentrale Figur der deutschen Geschichte zu entdecken - und zugleich öffnet sich ein neuer Blick auf die frühen Jahre der Bundesrepublik.
Autorenporträt
Radkau, JoachimJoachim Radkau, Jahrgang 1943, lehrte als Professor bis 2009 Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld. Bei Hanser sind erschienen: Das Zeitalter der Nervosität (Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, 1998), Max Weber (Die Leidenschaft des Denkens, 2005) und Theodor Heuss (2013). Im Januar 2017 erscheint Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. Joachim Radkau lebt in Bielefeld. 2015 erhielt er den Einhard-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2013

Mild und leise, wie er lächelt . . .
Dem Staatsmann und Privatmann Theodor Heuss ging es nach 1945 um eine "Entkrampfung der Deutschen"

Eins konnte der erste Bundespräsident nicht ausstehen: die Bezeichnung "Papa Heuss". Dabei hatte er sein Amt am 12. September 1949 im Alter von 65 Jahren angetreten, konnte sogar den 75. Geburtstag in der Villa Hammerschmidt feiern. Diese längst bekannte Empfindlichkeit hing nicht nur mit der Sorge um das eigene Geschichtsbild - Staatsoberhaupt mit "sanften Filzpantoffeln" - zusammen, sondern auch mit einer nun erstmals herauspräparierten heimlichen Verjüngung, die der Präsident zu einer Zeit empfand, als die Bundesrepublik im Wonnemonat Mai 1955 weitgehend souverän wurde.

Witwer "Theo" verbrachte damals eine Urlaubsreise mit der sechs Jahre jüngeren "Toni" (Antonie), Witwe des Nationalökonomen und Wirtschaftsjournalisten Gustav Stolper. Die im Fränkischen entflammte "erotische Liebe" seines schwäbischen Helden bringt den Biographen Radkau - Jahrgang 1943, mithin im besten Heuss-Alter - in Verzückung: "In der Geschichte der großen Liebesbeziehungen dürfte man nicht oft einen ähnlichen Lebensrhythmus finden. Und auch in all ihren intellektuellen und politischen Ingredienzien ist diese Liebe alles andere als alltäglich. Was sich dort abspielte, passte überhaupt nicht zum Image des gütigen, mit dem Alter geschlechtslos gewordenen ,Papa Heuss'; und der Gedanke daran muss dem Präsidenten, der diese seine ,Verkitschung' grässlich fand, ein diebisches Vergnügen bereitet haben."

Toni, seit 1933 in New York lebende Emigrantin österreichisch-jüdischer Herkunft, soll ein "Ausbund an Energie" gewesen sein und Theos "geistige Frische und Leistungsfähigkeit" geschätzt haben, erzählt Radkau - was doch wieder einmal die schöne Weisheit bestätigt: Wenn alte Scheunen brennen! Bereits 1970 erschien eine Auswahl aus den Briefen an Toni Stolper, herausgegeben von Eberhard Pikart. Der habe die Originale nie gesehen, sondern nur Auszüge, die Frau Stolper abgetippt habe: "Sie scheint auch nichts dabei zu finden, dass das Buch gelegentlich eine sexuelle Beziehung andeutet. Aber Pikart ist dabei, in Stuttgart ein erstes ,Theodor Heuss Archiv' aufzubauen"; dafür brauchte er "eine seriöse, eine politische Dokumentation". Den Briefwechsel konnte der Biograph auswerten, auch die Schreiben von Toni; manche Zeilen der ersten Verliebtheit dürften "viele heutige Leser unerträglich finden". In Anlehnung an Else Lasker-Schülers "Ein alter Tibetteppich" dichtete Toni im Herbst 1955 die Zeile "Süßer Lamasohn auf dem Moschuspflanzenthron" für Theo um: "Süßer Lamasohn auf dem Bonner Bundesthron".

Heuss hätte sie gern zur First Lady gemacht, doch die Antialkoholikerin und Nichtraucherin verzichtete. Für ihn waren Wein und Zigarren der Inbegriff von Behaglichkeit: "Die Stärke der Liebe mag man daran ermessen, dass die gemeinsamen Urlaubswochen anscheinend dennoch ungetrübt verliefen." Auch bereitete ihr die präsidiale Körperfülle Verdruss. Immerhin nahm Heuss Ende 1955, wie er Toni mitteilte, zehn Pfund ab, um "vom leicht angefetteten Bürger zum grazilen Intellektuellen" zurückzukehren - was Radkau sofort mit "reichlich übertrieben und nicht von Dauer" kommentiert.

Joachim Radkau ist eine höchst erfrischende Biographie gelungen, die Politik- und Geistesgeschichte gleichermaßen glänzend berücksichtigt. Durch Leitmotive bringt er eine Struktur in die "diffuse Vielgeschäftigkeit" des Heuss-Lebens. Jedem Kapitel stellt er eine Zeittafel voran, so dass er nicht alles und jedes thematisieren muss. Die ersten fünf Kapitel - zwei Drittel des Buches - beleuchten den langen Weg von Brackenheim nach Bonn.

Der am 31. Januar 1884 geborene promovierte Nationalökonom wurde Journalist und Wahlkämpfer für das Liberalen-Idol Friedrich Naumann. 1908 heiratete er die Professorentochter Elly Knapp. Wegen einer Schulterluxation war der "totale Zivilist" vom Militärdienst befreit. "Kühl und korrekt" soll Heuss durch die Jahre 1914 bis 1918 gekommen sein. In seinen Artikeln zum Kriegsbeginn wies Heuss den verbreiteten Eindruck zurück, "als ob nur das automatische Verfahren von Bündnisverträgen dieses Schicksal herbeigeführt" habe. Die fünfzig Jahre danach bekanntgewordenen Tagebücher von Kurt Riezler - des Vertrauten von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und des alten Bekannten von Heuss - interpretiert Radkau als Beleg für eine "Belastung der deutschen Reichsregierung". Während des Zweiten Weltkrieges, in der amerikanischen Emigration, wollte Riezler seine Aufzeichnungen publizieren; davon hielt ihn der Historiker Hans Rothfels ab. Dass die Tagebücher nach Riezlers Tod nicht vernichtet wurden, ging auf Interventionen von Heuss und Toni Stolper zurück. Heuss habe sich stark mit Bethmann Hollweg identifiziert wegen seines eigenen "Hangs zum einerseits-andererseits, zum unschlüssigen Lavieren". Über Riezler, so mutmaßt jetzt Radkau, "musste Heuss wissen, dass Bethmann in der Julikrise nicht ganz der Friedenspolitiker gewesen war, als der er vielfach galt. Er war nicht in den Krieg ,hineingeschlittert', sondern hatte sich bewusst für ihn entschieden".

Während der Weimarer Zeit saß Heuss von 1924 bis 1928 und von 1930 bis 1933 für die Deutsche Demokratische Partei und die Deutsche Staatspartei im Reichstag. Er publizierte fleißig, hatte viele Kontakte. Sein Buch "Hitlers Weg" (1931) war keine Kampfschrift gegen die Nazis, urteilt Radkau: "Das Übelste ist für ihn der Antisemitismus." Hier war Heuss hellsichtiger als viele Zeitgenossen. Er wollte ins Innere der NSDAP und des "Führers" schauen. Dass der Erfolg Hitler "nicht besonnener macht, vielmehr seinen Fanatismus und seine kriminelle Energie nur noch steigert, übersteigt damals das Heuss'sche Vorstellungsvermögen".

Was die Zustimmung der 1933 auf fünf Abgeordnete geschrumpften Staatspartei-Fraktion zum Ermächtigungsgesetz betraf, so war Heuss zunächst für Enthaltung, schwenkte jedoch um. Nach 1945 habe er "vergrätzt" reagiert, wenn er darauf angesprochen wurde. Radkau führt dies auf das ständige Heuss'sche einerseits-andererseits zurück: "Wie so oft wird er innerlich geschwankt haben: Das eine Mal nahm er dieses Mitläufertum auf die leichte Schulter, das andere Mal war es ihm doch eine Wunde in der Erinnerung. Für seinen Freund Gustav Stolper, der noch im gleichen Jahr in die USA emigrierte, war das Gesetz fatal; dennoch scheint er ihm sein Votum nie vorgeworfen zu haben." Die Phase des "Dritten Reiches" überschreibt der Biograph mit "Kreativer Rückzug auf sich selbst". Heuss verlor seine Stelle bei der Hochschule für Politik und das Reichstagsmandat, lebte weitgehend auf Kosten seiner Frau Elly, die als Komponistin und Texterin von Werbespots gefragt war. Er verfasste Biographien über Naumann, den Architekten Hans Poelzig, den Meeresbiologen Anton Dohrn, den Chemiker Justus von Liebig und den Industriellen Robert Bosch, publizierte in der regimeferneren Frankfurter Zeitung und in der Goebbels-Renommierzeitschrift Das Reich. Über Bosch lernte er Carl Friedrich Goerdeler kennen, der ihn Ende September 1941 gefragt haben soll, "ob er bereit sei, Pressechef einer Reichsregierung nach Hitler zu werden. Heuss sagte zu. Wir wissen von diesem Kontakt nur durch Heuss selbst."

Einen Blick in "NS-Abgründe" konnte er durch seinen Sohn Ernst Ludwig tun, der später die Tochter des im KZ ermordeten Fritz Elsas (der Goerdeler nach dem 20. Juli 1944 Zuflucht gewährt hatte) heiratete. Für Heuss junior war der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung, für Heuss senior "einer der furchtbarsten Tage der deutschen Geschichte". Er und Elly rechneten sich rückblickend nicht zum Widerstand, aber zu den "Anständigen". Doch sein allzu verständnisvoller Umgang mit NS-Belasteten machte in der Folgezeit manchmal Heuss-Bewunderer "ratlos", insbesondere der Fall des berüchtigten SS-Standartenführers Martin Sandberger.

Die Nachkriegskarriere verlief rasant: "Kultminister" Württemberg-Badens, Honorarprofessor, FDP-Vorsitzender, Mitglied des Parlamentarischen Rats. Heuss ließ nun nie einen Zweifel daran aufkommen, dass die Verschwörer des 20. Juli - von der Masse der Deutschen noch als Verräter verachtet - "für ihn Helden waren, die die beste Tradition deutscher Soldatenehre verkörperten". Endlich konnten sich die Ehepaare Stolper und Heuss wieder treffen, konnte Gustav Stolper bis zu seinem Tod Ende 1947 in den Vereinigten Staaten für die besseren Deutschen eintreten.

Seine wohl berühmteste Präsidentenrede hielt Heuss schon am 7. Dezember 1949 vor der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden. Eine "Kollektivschuld" wies er als "simple Vereinfachung" zurück, bekannte sich aber zu einer "Kollektivscham" gegenüber dem Holocaust. "Entkrampfung der Deutschen", so nennt Radkau das sechste und umfangreichste Biographie-Kapitel. Die Suche nach dem Präsidentenprofil, das schwierige Verhältnis zu Konrad Adenauer samt der Nachfolgediskussion 1959 und das Verhältnis zu Toni Stolper stehen im Mittelpunkt. Der frischgebackene Bundespräsident verkündete seinen Mitarbeitern: "Ich gebe keine Richtlinien, ich gebe Atmosphäre!" Dazu gehörte der gescheiterte Versuch, eine neue Nationalhymne durchzusetzen: "Land des Glaubens, deutsches Land" - alsbald als "Theos Nachtlied" verspottet. Doch vor allem setzte er sich die "Entkrampfung" zum Ziel. Diese umfasste nach Radkau den Abbau von Ressentiments "zwischen Altnazis und Antinazis, zwischen Kriegsopfern und Unversehrten, zwischen Emigranten und ,Dringebliebenen', zwischen Deutschen und Juden". Daneben fühlte er sich als geheimer Bundeskultusminister, gab Anregungen zur Förderung der Wissenschaften und Künste, agierte als Mitherausgeber der Bände "Die großen Deutschen".

Immense Verdienste um die Bonner Republik habe er sich "im Verborgenen oder Halb-Verborgenen" erworben: durch die Vernetzung einer neuen bundesdeutschen Elite, die "vom konservativ-nationalen Establishment bis zu einst emigrierten Linksintellektuellen reichte", durch unermüdliches Kommunizieren und Briefeschreiben, durch seine "Arbeit an den deutsch-jüdischen Beziehungen", durch seine "Entschärfung des Kalten Krieges auf unauffällige Art". Heuss lebte - so resümiert Radkau - den Deutschen vor, "wie man zwar das Grauen der NS-Zeit unverhüllt wahrnimmt, aber dann in eine Ecke schiebt, um sich innerlich unbeschwert Neuem zuzuwenden". Dies sei für die Kriegsgeneration von vitaler Bedeutung gewesen, allerdings nicht für die Jüngeren, die aufklärend das Thema NS-Verbrechen wieder aus der Ecke holten.

Der Ruheständler bereiste 1960 Frankreich, Israel und Indien, rang mit seinen "Erinnerungen 1905-1933". Kurz vor seinem Tod musste ihm das linke Bein amputiert werden. Das Leben des begnadeten Redners und Schreibers endete am 12. Dezember 1963. Wie seine Nichte dem Biographen "mit glänzenden Augen erzählte, wollte er erst sterben, wenn Toni kam; als sie endlich bei ihm war, schlief er ruhig ein. Das jugendliche Lächeln auf der Totenmaske, die viel reizvoller ist als sämtliche Heuss-Skulpturen, mag diese letzte Begegnung mit der Geliebten spiegeln. Auch wenn Heuss so gerne mit seiner Aversion gegen Wagner kokettierte, steht es dem Leser doch frei, bei dieser Szene in der Ferne ein Tristan-Motiv anklingen zu hören."

RAINER BLASIUS

Joachim Radkau: Theodor Heuss. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Hanser Verlag, München 2013. 640 S., 27,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hellauf begeistert zeigt sich Jens Bisky von Joachim Radkaus Biografie über Theodor Heuss. Sympathisch zugeneigt, aber nicht verherrlichend nähere sich der Autor seinem Gegenstand und nimmt ihn gegen die ideologische Kritik der Siebziger einerseits und den "Kitsch des Papa-Heuss-Geredes" andererseits in Schutz, lobt der Rezensent. So erscheint ihm der erste Präsident der Bundesrepublik als spannende, vielschichtige Figur, hinter dessen vermeintlicher Harmosigkeit und Behaglichkeit Radkau mit einer "Fülle kluger Überlegungen" durchaus ein scharfes Profil zum Vorschein bringe.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2013

Lob des Behagens
So schreibt man deutsche Geschichte: Joachim Radkau zieht
Theodor Heuss die Filzpantoffeln aus – eine kluge Entkrampfung
VON JENS BISKY
Im September 1950 sorgte sich der Heidelberger Schauspieler Arno Kießling um den Körper des Präsidenten und sandte ihm „in aufrichtiger Verehrung“ eine gereimte „Warnung“: „Warum wird unser Theodor / in letzter Zeit so dick? / Er hat doch keinen Wettstreit vor / mit Ost-Kollegen Pieck? / Dass er die jetz’ge Form bewahrt, / das hielten wir für gut. / Denn’s ist doch nicht des Schwaben Art, / dass er sich dicke tut. / Ach je! Es war so or’ginell: / Ein dünner Präsident! – / Doch wird er dicker, sagt man schnell: / Sieh: wie die Zeit verrennt! / Kriegt einer mal vom Staat Gehalt, / sitzt nah dem Kabinett, / verliert er seine Linie bald / und wird allmählich fett.“
  Zwölf Monate erst war Theodor Heuss Bundespräsident. 1945 hatte er lediglich 52,5 Kilogramm gewogen, inzwischen fiel jedem auf, dass der 66-Jährige kräftig zunahm. Aber war das kurz nach dem Krieg nicht ein erstrebenswertes Ziel? Und selbst wenn nicht, was ging das die Öffentlichkeit an? Heuss hatte, sollte man meinen, genug zu tun, um die warnenden Reime einfach abzuheften, am besten wohl im „Idiotenordner“. Doch er antwortete unverzüglich mit eigenen Versen: „Was Arno sieht, seh’n andre auch: / – schon rundet sich ein Bürgerbauch, / was meistens leichten Beifall findet, / weil manche Sorg mit ihm entschwindet. / Der Vorgang selber ist ganz klar, / er stellt ein Durchschnittsschicksal dar, / bei dem der Bundespräsident / sich nicht von seinem Volke trennt.“ Humor dieser Art passt gut auf jede Betriebsfeier, wenn es gilt, einander nicht weh zu tun. Auf die Dauer sind derlei Scherze wohl nur gut dosiert zu ertragen.
  Leicht schließt man von Anekdoten wie diesen auf die Harmlosigkeit eines Theodor Heuss: sympathisch als Schwabe, Zigarrenraucher und gebildeter Redner, aber politisch ohne klares Ziel und Gewicht. Hatte der erste Präsident der Republik, von der keiner wissen konnte, wie sie sich entwickeln werde, seinen Mitarbeitern nicht selbst gesagt: „Ich geben keine Richtlinien, ich gebe Atmosphäre“?
  In den frühen Siebzigerjahren hat Arnulf Baring ein vernichtendes Urteil über Heuss gefällt: Was dieser unter politischem Stil verstanden habe, sei im Grunde nichtssagend gewesen. „Seine Demokratie des Maßes war eine leere Formel.“ Ein unpolitischer Mensch sei er gewesen, „ein Mann ohne wirkliches Verantwortungsgefühl, ohne Leidenschaft, – bereit, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sie treiben zu lassen.“ Vielleicht waren die scharfen Töne hilfreich gegen den Kitsch des Papa-Heuss-Geredes. Heute klingen sie ideologisch verzerrt, verkrampft angesichts eines Mannes, der Verkrampfungen verabscheute und dessen politisches Talent darin bestand, sie zu lösen. „Entkrampfung der Deutschen“ wollte der Historiker Joachim Radkau sein Buch über den ersten Bundespräsidenten ursprünglich nennen. Ein guter Titel, doch hätte er schlecht zu dieser Lebensbeschreibung gepasst, deren großer Vorzug eben darin besteht, Heuss in seiner Vielfalt, seinem Einerseits-Andererseits zu zeigen, und ihn nicht auf einen programmatischen Nenner zu bringen. Gewiss, er war gern im Reinen mit sich. Aber sein Lebenslauf, der ihn aus dem Kreis um den Stark-Wort-Denker Friedrich Naumann an die Spitze der Bundesrepublik führte, die er lieber „Transitorium“ als „Provisorium“ genannt hätte, war reich an Wendungen, Zwiespalt, Unentschiedenheit.
  Radkau hat 2007 Max Webers „Leidenschaft des Denkens“ detailversessen und unterhaltsam erkundet. Nun spiegelt er deutsche Geschichte, Politik, Kultur, Mentalität, Geselligkeit und Freundeskreise – „Netzwerke“ – in der Biografie des Theodor Heuss. Und er spiegelt sie wirklich, degradiert Momente, Äußerungen, Entschlüsse nicht zu Beispielen für eine These. So bietet dieses Buch zugleich eine Fülle kluger Überlegungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zu den Krisen der Weimarer Republik, zum Aufstieg der Nazis und zur Teilung. Und dabei strahlt die Bundesrepublik keineswegs im Schummerlicht des späten Glückes.
  Radkau hat sich für ein Erzählverfahren entschieden, das sehr gut funktioniert, weil es die Vorteile des chronologischen Fortschreitens mit den Vorzügen abwägender, zurück wie voraus schauender Betrachtung verbindet. Das Buch ist aus Miniaturen komponiert, meist wenige Seiten langen Unterkapiteln, die einen Augenblick, ein Buch oder einen Streit behandeln. Um die Bauchfrage etwa geht es unter dem Titel „Gesellschaftsgeschichte des Präsidentenkörpers: Ein Pendeln zwischen Wirtschaftswunderbürger und ,grazilem Intellektuellen‘“. Da erfährt man einiges über Heuss’ Gesundheit, über Diäten. 1905, im Alter von 21 Jahren, hatte Heuss die Männerkörper des Malers Ferdinand Hodler gepriesen. Hodler besitze die Fähigkeit, „den Körper zum Ausdruck der Seele zu steigern“. 1957 hatte er wieder zugelegt, vier Pfund, die sich, wie er schrieb, im Gesicht ansiedelten. Die „Vergeistigung“ sei vertrieben und habe der „Verbürgerlichung“ Platz gemacht.
  Der Leser erinnert sich an die erstaunliche Karriere des „Geistes“ in den späten Jahren des Ersten Weltkriegs und nach der Niederlage. 1918 meinte Heuss in einem Brief, „wir brauchen jetzt eine gewisse Allerweltsflachheit, um weiter leben zu können“. Ein verteufelt humaner Satz. „Mit ironischer Gelassenheit“ erlebte Heuss Niederlage und Revolution 1918, als Bundespräsident lernte er, so Radkau, „mit seiner eigenen Banalisierung zu kokettieren“. Die Allerweltsflachheit bekam eine Bauch, und wer Visionen, Sensationen, Alarmismus und Endkampfstimmung misstraut, der wird darin eine zivilisatorischen Fortschritt sehen.
  Für diesen brauchte es in Deutschland Übergangsfiguren wie Theodor Heuss. Dessen Schwächen haben sich, so Radkau, nach 1945 in Stärken verwandelt. Er knüpft an diese Beobachtung Überlegungen zu den „Grenzen des Politischen“ und verteidigt gegen die Schmitt-Jünger und Provinzialitäts-Verächter das Behagen. Damit liefert er das Komplementärstück zu seinem Buch über das „Zeitalter der Nervosität“ (1998). „Produktivität des Behagens“ gehörte zu den Lieblingswendungen des späten Heuss.
  Sein Biograf bringt ihm viel Sympathie entgegen, den Heiligenschein aber lässt er in der Schublade. Es gibt auch viel Verstörendes in diesem Leben: das Eintreten für ein Gesetz gegen „Schund und Schmutz“ in der Weimarer Republik, die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz aus Fraktionsdisziplin, sein Gnadengesuch für Martin Sandberger. Als Führer eines Sonderkommandos hatte dieser im Baltikum besonderen Einsatz bei der Ermordung von Juden und Kommunisten gezeigt. 1948 verurteilte ihn ein US-Gericht zum Tod durch den Strang. Warum setzte ein Heuss sich ausgerechnet für diesen ein? Die Erklärung ist einfach: Sandberger hatte viele Fürsprecher, Angehörige einer Heuss vertrauten Welt, „für die Opfer galt das nicht“. Zugleich aber hat Heuss einen klaren Blick für die „Kollektivscham“ angesichts der Verbrechen und agiert „erinnerungspolitisch“ sehr anständig.
  Es gib in diesem Buch keine letzten Sätze. Selbstverständlich fasst Radkau Einsichten zusammen, spitzt zu, aber dann setzt er wieder von vorn an. Auf diese Weise nähert man sich historischem Verstehen. Auch da, wo man geneigt ist, Theodor Heuss zuzustimmen – etwa in seiner Distanz zu Vertriebenenfunktionären, ein Zeichen für politischen Realismus – verhindert Radkau den identifikatorischen Kurzschluss: Heuss fiel die Absage an das revanchistische Pathos leichter, da er seine Heimat nicht verloren hatte. Zu seinen Schwächen gehörte die Vorliebe für historische
Analogien, die ja meist nichts taugen, gehörte der Wille zum Abwägen auch dort, wo ein klares Wort am Platz gewesen wäre. „Papa Heuss“ besaß auch ein Talent zum Übelnehmen, zur Abneigung. Wahrscheinlich überschätzte der Literat, der das
Literatentum verachtete, seine Formulierkraft. Immer wieder aber ist man dann überrascht von Formeln wie dieser zu Max Weber: da habe man „eine Geschichtsphilosophie der Wahrscheinlichkeitsrechnung“.
  Joachim Radkau meidet das Straffe und Zackige, er fragt lieber nach, als voreilig zu urteilen, und seine Neugier auch im Kleinsten springt auf den Leser über. Die bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung hat sich oft in Rechthaberei und naiven Glücksbeschwörungen gefallen. Hier ist ihre Entkrampfung gelungen.
Joachim Radkau: Theodor Heuss. Carl Hanser Verlag, München 2013. 640 Seiten, 27,90 Euro, E-Book 20,99 Euro.
„Mein wesenhafter Ehrgeiz
ist der, mit mir selber
im Reinen zu bleiben.“
Auf diesen Präsidenten konnte man bauen:
Theodor Heuss (1884-1963) vor seinem Stuttgarter
Haus, im Jahr 1961.
 FOTO: ULLSTEIN BILD
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"Ein furios ungemütliches Buch über den ersten Bundespräsidenten." Stephan Schlak, Die Zeit, 26.09.13

"Zu den Vorzügen von Radkaus Buch gehört es, dieses Unentschiedene als Charakteristikum von Heuss herauszustellen." Marc Reichwein, Die Welt, 05.10.13

"Joachim Radkau ist eine höchst erfrischende Biographie gelungen, die Politik- und Geistesgeschichte gleichermaßen glänzend berücksichtigt." Rainer Blasius, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.13