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Jan Friberg fährt als Vertreter für Haushaltsgeräte auf seinem blauen Rad durch die Provinz Västmanland. In einem Herrenhaus hofft er ein Geschäft abzuschließen, als er vom Rad stürzt und sich das Handgelenk verstaucht. Jan wird in die Bibliothek gebeten, um sich zu erholen. Dort findet er ein altes Fotoalbum und beginnt zu träumen. Plötzlich kommt die schöne Hausherrin herein, die sich lebhaft für den jungen Mann interessiert. Doch da ist Jan über dem Betrachten der Fotos schon in eine andere Welt eingetaucht. Zehn Fotografien, von seinem Vater in den zwanziger Jahren aufgenommen, haben Lars…mehr

Produktbeschreibung
Jan Friberg fährt als Vertreter für Haushaltsgeräte auf seinem blauen Rad durch die Provinz Västmanland. In einem Herrenhaus hofft er ein Geschäft abzuschließen, als er vom Rad stürzt und sich das Handgelenk verstaucht. Jan wird in die Bibliothek gebeten, um sich zu erholen. Dort findet er ein altes Fotoalbum und beginnt zu träumen. Plötzlich kommt die schöne Hausherrin herein, die sich lebhaft für den jungen Mann interessiert. Doch da ist Jan über dem Betrachten der Fotos schon in eine andere Welt eingetaucht. Zehn Fotografien, von seinem Vater in den zwanziger Jahren aufgenommen, haben Lars Gustafsson zu seinem neuen Roman inspiriert - eine Geschichte aus einem vergangenen Schweden zwischen Traum und Wirklichkeit.
Autorenporträt
Lars Gustafsson (1936-2016) war einer der bedeutendsten Autoren Schwedens. Der Romancier, Lyriker und Philosoph lebte und lehrte lange Zeit im Ausland, u.a. an der University of Texas in Austin. Hinzu kamen mehrere Forschungsaufenthalte in Berlin, Bielefeld und Tübingen. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, 2009 erhielt er die Goethe-Medaille, 2015 wurde ihm der Thomas-Mann-Preis verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Dekan (Roman, 2004), Risse in der Mauer (Fünf Romane, 2006), Die Sonntage des amerikanischen Mädchens (Eine Verserzählung, 2008), Frau Sorgedahls schöne weiße Arme (Roman, 2009), Alles, was man braucht. Ein Handbuch für das Leben (mit Agneta Blomqvist, 2010), Das Lächeln der Mittsommernacht. Bilder aus Schweden (mit Agneta Blomqvist, 2013), Der Mann auf dem blauen Fahrrad (Roman, 2013), der Gedichtband Das Feuer und die Töchter (2014), Doktor Wassers Rezept (Roman, 2016) und Etüden für eine alte Schreibmaschine (Gedichte

, 2019).

Verena Reichel, 1945 geboren, wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie übersetzte u.a. Ingmar Bergman, Katarina Frostensen, Lars Gustafsson, Henning Mankell, Anna-Karin Palm, Hjalmar Söderberg und Märta Tikkanen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2013

Das poröse Verhältnis zur Wirklichkeit

Wer im Laufe dieser Erzählung nicht an Zeit und Identität zu zweifeln beginnt, der hat keine: Lars Gustafsson zaubert sich einen Roman.

Jeder kennt das Gleichnis des Chuang-tse, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling, und nach dem Erwachen nicht mehr sicher ist, ob er nicht in Wahrheit ein Schmetterling ist, der träumt, er sei Chuang-tse. Wer Lars Gustafssons jüngste Erzählung gelesen hat, kann die Frage fortsetzen: Wie wäre es, wenn der Schmetterling im Traum dem Chuang-tse begegnete und die möglichen Träume sich so ineinander verwickelten, dass ihre Unterscheidung von der Wirklichkeit sinnlos würde?

Dabei ist es eine ganz einfache Geschichte; nur der Tag ist falsch, es ist sogar ein "komplett höllenmäßig falscher Tag", an dem Jan Viktor Friberg von seinem blauen Fahrrad fällt. An einem Herbsttag des Jahres 1953 fährt dieser Handelsvertreter der Firma Electrolux durch den Hafen von Västerås (zufällig auch der Geburtsstadt Lars Gustafssons) zu einem abgelegenen Herrenhaus, um dort wie überall seine Haushaltsmaschine der Marke "Assistent" zu verkaufen. Jan ist einerseits "ein durch und durch untauglicher Mann . . . untauglich für das meiste". Aber er gilt andererseits auch als freundlich und vor allem als phantasievoll, mit einem "seit jeher sozusagen porösen Verhältnis zu dem, was die anderen hartnäckig für die ,Wirklichkeit' hielten". Denn Jan besitzt die Fähigkeit, unangenehmen Situationen dadurch zu entgehen, dass er sich in jemand anderen verwandelt und in eine andere Zeit flüchtet.

In der Allee aber stürzt er, von Hunden angegriffen, vom Fahrrad und verletzt sich; und so muss er nun im Herrenhaus, statt seine Maschine anzupreisen, um Hilfe und einen Moment Rast bitten. Zufällig wird er Zeuge des etwas gespenstischen Auftritts der sterbenskranken Hausherrin, auf deren Zustand sich anscheinend alles Übrige konzentriert. So bringt man den verletzten Radler in ein Nebengelass und vergisst ihn dort für eine Weile. Er sieht sich um, blättert in zwei Gedichtbänden eines Poeten namens Oswald Grane und findet ein Album mit Fotografien, die offenbar von ebendiesem Dichter stammen; er hat, so scheint es, in diesem Haus gelebt.

Jan Viktor entkommt seinen Schmerzen, indem er sich blätternd seinen Phantasien überlässt; und ebenso rasch wie unmerklich entgleitet die Szenerie ins Unwirkliche. Besucher erscheinen unvermittelt in seiner Kammer, verwechseln ihn mit irgendjemandem, verlassen und vergessen ihn wieder. Und da Jan hin und wieder in Schlaf fällt, mischen sich die Szenen der alten Fotos und die Bemerkungen der Besucher mit Traumbildern, bis weder ihm noch den Lesern deutlich ist, wer hier wen träumt. Es ist, als habe der Handelsvertreter in dem Augenblick, in dem er die Schwelle des Herrenhauses überschritt, "die Zeitzone" gewechselt - so deutet es eine der ganz beiläufig eingespielten Metaphern des Erzählers an.

Tatsächlich erweist sich als das womöglich entscheidende Objekt des zunehmend verwickelten Geschehens eine silberne Taschenuhr, die einst in unauslotbarer Wassertiefe versunken ist wie in einem Schwarzen Loch und die doch zugleich in Jans Hände gerät. Je ungewisser das wird, was eben noch "die eigentliche Welt" hieß, desto konturenschärfer werden die Anblicke der Fotografien und der von ihnen ausgehenden Geschichten, am Ende zeigen sich die Figuren des Traums plastischer als diejenigen der verschwimmenden Umgebung des Träumers. Derart klar sehen wir sie vor uns, dass wir in dem Fotografen, der schließlich selbst im Traum erscheint, für einen Augenblick den träumenden Handelsvertreter wiederzuerkennen meinen, in seinem ungelebten, wahren Leben: der Schmetterling als Chuang-tse. Aber vielleicht ist das wieder eine Täuschung. Denn die Wirklichkeit dieser Geschichte erweist sich als so schwankend, dass schon das Wort "phantastisch" eine vereinfachende Festlegung wäre. Wer im Laufe dieser Erzählung nicht an Zeit und Identität zu zweifeln beginnt, der hat keine.

Das liegt vor allem an der unauffälligsten Figur: dem Erzähler selbst. Wie ein tückischer Zauberer lenkt er das Geschehen und redet dann doch wieder von "der Erzählung" so, als habe er ihrem Gang nur zuzusehen, weil eine unsichtbare, unbekannte Hand sie leitet. Manchmal kennt er die Zukunft seines Helden, manchmal verliert er den Überblick. Als bemerke er es selbst gar nicht, lässt er Nebenmotive wiederkehren, erzeugt Echos und Spiegelungen und schlingt in Jan Viktors schwedische Träume weit entfernte Geschichten hinein. "Hundejahre" nennt er beispielsweise das Kapitel, in dem Jan von den Hunden angegriffen wird. Ein alter Schiffer im Hafen, der sich mit jungen Mädchen unterhält, steht da wie "an den Mast gefesselt"; aber was haben Odysseus und die Sirenen im beschaulichen Hafen von Västerås verloren? Jans wundersame Haushaltsmaschine erinnert von ferne - und so komisch wie fast alles hier - an das klassische "Maschinen"-Gedicht eines schwedischen Poeten namens Lars Gustafsson (dessen Namenstag wiederum eine kleine Nebenrolle spielt), so wie der fiktive Poet an den Geistesaristokraten Gunnar Silfverstolpe. Und führt von den beiden Mädchen aus dem Foto, die so lustig gewürfelte Kleider tragen, dass sie "die Kreuzwortmädchen" heißen, und von irgendjemandem mit dem Namen "Irgendjemand" nicht ein recht gerader Weg zur Teeparty bei "Alice im Wunderland"?

Und dieser Erzähler stellt unvermittelt philosophische Fragen, von denen nicht immer ganz klar ist, ob sie seine eigenen sind oder die des phantasiebegabten Jan Viktor. Auch bewundert er die Strümpfe, Schrauben und andere Gegenstände, die sich auch dann genau daran erinnern, in welcher Kommodenschublade sie liegen, wenn ihre Besitzer sie vergessen haben sollten: "Solange wir sie nicht mit unserem schlechteren Gedächtnis stören, wissen sie immer, wohin sie gehören." Das unterscheidet sie von Gustafsson und seinen Helden, die auf die vergnüglichste Weise nicht sehr verlässlich in der Welt zu Hause sind. Ihr blaues Fahrrad fährt in Welten, in denen Luftgeister und Erdenprinzen sich begegnen, weil sie alle aus dem Stoff gemacht sind, aus dem man Träume macht, und der Schlaf größer ist als das kleine Leben.

Lars Gustafssons Erzählung ist, wie das Nachwort erklärt, tatsächlich aus den Bildern eines alten Fotoalbums hervorgegangen, von denen einige den Band illustrieren. Der Fotograf sei sein Vater gewesen, das Album ein Erbstück. "Träume aus einer alten Kamera" lautet der Untertitel seines Buches, und auch er wird in Jan Viktors Geschichten wiederkehren: Der schwarze Kasten kann nicht nur Gewesenes zeigen, sondern er besitzt auch die Fähigkeit, Blicke in neue Reiche zu eröffnen. Um von dem zu erzählen, "was nicht geschehen war", genügt es, "die Bilder in eine etwas andere Ordnung zu bringen". Unbekannte Träume hat die Kamera gespeichert, und nur der Zauberer weiß, wie man sie wieder freilässt, wie man die Wirklichkeit porös macht, wie man die Welt romantisiert.

Das Ergebnis ist ein im Wortsinne zauberhaftes Spätwerk: Prospero zeigt sein Werkzeug vor, und dann beginnt er zu zaubern. Kein Kniff, kein Trick bleibt dem Leser verborgen, und doch ist das Ganze ein kleines Wunderwerk. Ein falscher Tag für den Mann mit dem blauen Fahrrad, wahrhaftig. Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt, es ist nicht wieder gutzumachen. Aber wenn man im falschen Leben gesteckt hat - was wäre willkommener als dieses Läuten?

HEINRICH DETERING

Lars Gustafsson: "Der Mann auf dem blauen Fahrrad". Roman.

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser Verlag, München 2013. 192 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit Lars Gustafssons neuem Roman "Der Mann auf dem blauen Fahrrad" hat Rezensent Heinrich Detering ein "kleines Wunderwerk" gelesen. Nach der Lektüre dieser Erzählung um den freundlichen und fantasievollen Handelsvertreter Jan Viktor, der eines Tages von seinem Fahrrad fällt und in einem nahegelegenen Herrenhaus Hilfe sucht, beginnt der Kritiker selbst an Zeit und Identität zu zweifeln. Denn Gustafsson spiele derart geschickt mit Wirklichkeit und Fiktion, dass dem Rezensenten das Wort "fantastisch" schon zu vereinfachend erscheint: Nicht nur Jan, der in dem Herrenhaus zwei alte Gedichtbände und ein Fotoalbum eines gewissen Oswald Grane entdeckt und derart plastisch zu träumen beginnt, dass er Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr auseinander halten kann, führt den Kritiker immer wieder aufs Glatteis, sondern auch der Erzähler, der das Geschehen wie ein Zauberer lenkt und dabei philosophische Fragen stellt. Dieser Roman, der Detering bisweilen an "Alice im Wunderland" erinnert, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein ganz "zauberhaftes Spätwerk", lobt der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2013

Die Lotleinen von Bo Gryta
In seinem neuen Roman „Der Mann auf dem blauen Fahrrad“ schickt Lars Gustafsson einen
Handelsvertreter durch die schwedische Provinz – und lässt ihn auf seine eigenen Traumbilder stoßen
VON NICO BLEUTGE
Im Süden von Västmanland, dort, wo die Felder flach und die Eichen zahlreich sind, liegt einer Sage nach Bo Gryta. Die dunkle Stelle eines Sees, an der sich das Wasser plötzlich vertieft. Keine Lotleine, so erzählen die Schiffer, habe je den Boden in der Mitte des Lochs erreicht. Das Loch wölbe sich nach innen und reiche bis ans Ende der Welt. Und es sei gar nicht sicher, dass die Zeit dort unten auf dieselbe Art voranschreite wie an der Oberfläche.
  Es ist dieses Schwebende, noch nicht Entschiedene, das Lars Gustafsson in seinem Schreiben von jeher kultiviert. Mit großer Lust spürt der schwedische Schriftsteller jenen Orten nach, die eine Zwischenwelt fühlbar machen, eine Sphäre zwischen Wachen und Schlaf, die eigene Bilder hervorbringt: „An der Oberfläche, in der Brechung der Wasserfläche, nur dort, / im haarfeinen Übergang zwischen Luft und Wasser. /An dieser Oberfläche, glitzernd und nicht vorhanden, / da müsst ihr suchen.“ Auch in seinem neuen Roman folgt Lars Gustafsson einer verschobenen Vorstellung von Zeit. Bisweilen scheint es sogar, als werde hier, wie in den Tiefen von Bo Gryta, die Zeit zu Raum und der Raum zu Zeit. Nur dass es sich diesmal um eine andere Tiefe handelt, aus der die Erzählung ihre Kraft zieht.
  Janne Friberg ist das, was man einen Handelsvertreter nennen könnte. Mit seinem Köfferchen wandert er Anfang der Fünfzigerjahre durch die schwedische Provinz, um das Haushaltsgerät „Assistent“ zu verkaufen, ein glänzendes Ungetüm, das kneten, mischen und quirlen, ja, sogar Wurstpellen füllen kann. Seiner handfesten Profession zum Trotz ist Janne Friberg ein „empfindsamer Mensch“, wie es einmal heißt. Und schon immer hat er ein brüchiges Verhältnis zu dem, was die anderen Menschen für die Wirklichkeit halten: „Träume – gehörten die vielleicht nicht zur Wirklichkeit?“, ist einer seiner Lieblingssätze. Und sind Träume und Vergangenes überhaupt zu unterscheiden?
  Eines Morgens bricht Janne auf, um sein Glück in einer der unbequemsten Ecken zu versuchen. In Västmanland gibt es vornehmlich große Gutshöfe mit Schweinen und Kühen, wo die Menschen wenig von Technik verstehen und noch weniger davon halten. Meist wird Janne bei seinen Präsentationen von den Bauern einfach ausgelacht. Was könnte ein Hausierer aus der Stadt ihnen schon vom Wurststopfen erzählen? Jannes Stimmung ist an diesem Tag ohnehin getrübt, hat ihm doch seine Frau am Morgen vorgeworfen, er sei ein ganz und gar untauglicher Mensch. Sie hat ihn sogar als Versager beschimpft und ihm eröffnet, sie wolle ihn nie wiedersehen.
  Aber das erfahren wir als Leser erst viele Kapitel später. Wie dieser wundersame kleine Roman überhaupt von Sprüngen und schnellen Schnitten lebt, von Vor- und Rückblenden, ja, zuweilen von wahrhaftigen Überblendungen der Zeiten und Räume. Lars Gustafsson teilt mit seiner Figur die Fähigkeit davonzufliegen. Seine Erzählungen können entstehen, hell werden und sich ebenso rasch wieder verflüchtigen. Als Janne an jenem merkwürdigen Tag Einlass in ein altes Herrenhaus gewährt wird, hat er gerade einen Sturz mit dem Fahrrad hinter sich. Nicht, dass ihn das Unglück von seinen Verkaufsideen abbringen würde – aber er verstaucht sich das Handgelenk. Und so, wie sein Körpergefühl durcheinandergerät, vermischen sich auch die Schichten von Wirklichem und Möglichem, von Erleben und Traum.
  In jenem Herrenhaus scheinen die gewohnten Verhältnisse ein wenig verschoben zu sein: Wände verschwinden im Dunkeln, Gerüche treten überdeutlich hervor, zudem wird Janne von Menschen erkannt, die er noch nie gesehen hat. Als er in einem der Zimmer auf die Herrin des Hauses wartet, entdeckt er in einem Stapel Bücher ein Fotoalbum, großformatig, gebunden, dunkelrot, das angenehm in der Hand liegt. Das weiche Leder zieht ihn an, erst recht aber die alten Bilder, die in kleinen Zelluloidecken ruhen. Sein freies Verhältnis zu den Dingen hat es Janne von jeher leicht gemacht, in das Sein anderer Menschen einzutauchen. So träumt er sich in die Fotos und ihre Figuren hinein – und die Bilder werden nach und nach durchlässig.
  Doch das Verschwimmen der Sphären reicht noch weiter, die Macht der Bilder hat eine noch größere Bedeutung. Lars Gustafsson hat beim Schreiben des Buches seinerseits mit Fotos gearbeitet. Im Nachlass seines Vaters, so erzählt er es in einem kleinen Nachsatz, sei er auf ein paar alte Fotografien gestoßen, die der Vater, ein leidenschaftlicher Amateurfotograf, selbst aufgenommen hat. Seine eigene Erzählung habe er „aus der Tiefe der Bilder“ heraus zu schreiben versucht. Was der Vater in einem kleinen Dachbodenverschlag an Bildern zu entwickeln wusste, vermittle beim Durchsehen das „Gefühl einer fernen, noch nicht ganz wirklichen Welt“. Und Gustafsson fügt an: „Was von der guten optischen Schärfe und der oft raffinierten Komposition verstärkt wird.“
  Dieser Satz mag für die Bilder des Vaters gelten. Er gilt aber erst recht für Lars Gustafssons Roman. Wie von selbst ragen hier die Fäden von der einen Erzählung in die andere. Eben noch hören wir, wie Janne sich ein Mädchen namens Irene vorstellt, schon folgen wir jener Irene durch einen Frühlingstag, dessen Figuren den Fotografien aus dem väterlichen Album Lars Gustafssons entsprungen sind. Die Kamera kann erzählen. Sie kann die Zeiten übereinander legen wie Janne Friberg und die Orte ganz der Phantasie öffnen, sodass wir als Leser bisweilen gar nicht mehr wissen, wer hier eigentlich wen träumt.
  Gleichwohl gehorcht dieses Buch keineswegs dem Zufall. In einem eigenen Rhythmus verwebt Lars Gustafsson seine Bilder und Erzählfäden. Die Sätze, von Verena Reichel in ein anschauliches, dann wieder schwereloses Deutsch übertragen, wirken einfach. Doch so, wie sich die Erzählstimme an Jannes Sichtweise anschmiegt und wieder von ihr entfernt, durchqueren sie ganze Räume. Als würden wir als Leser selber in einem Album blättern, aber die Fotografien wären nicht vergilbt, sondern lebendig, von kleinen pulsierenden Adern durchzogen und fähig, jederzeit die Erscheinungsform zu ändern. Und eigenartigerweise gelingt es Gustafsson, gerade den geträumten Bildern die größte optische Schärfe zu verleihen: „Noch weiter westlich liegt dieses Bo Gryta, das merkwürdige tiefe Loch. Man erzählt seltsame Geschichten von Lotleinen, ja, sogar von Ketten. Genauso sauber gekappt wie mit einem scharfen Messer oder mit der glänzenden Schnittfläche einer Blechschere.“
  Bei aller Liebe zum Traum verliert sich Lars Gustafsson aber nicht in der Zeitlosigkeit. Wie nebenbei macht er die Atmosphäre der Jahre 1923 und 1953 spürbar, zwischen denen seine Erzählungen hin und her laufen. Alte Hüttenwerke, das ländliche Schweden zwischen den Weltkriegen, Reisen mit Dampfschiffen und Expresszügen - oder das öde Dasein als Vertreter, der kaum zu entscheiden vermag, was schlimmer ist, die Gespräche in den Korridoren der Firmenzentrale oder die Tingelei über Land. Das alles zieht Gustafsson in seine Kapitel ein. Erst so wird der Roman zu einem großen Buch über die Frage nach dem vermeintlich sicheren „Ich“. Über die Sehnsucht, ein anderer zu sein. Und über den Versuch, aus dem scheinbar Sinnlosen am Ende doch etwas zu machen.
  Eine Erzählung könne niemals die ganze Wirklichkeit einfangen, schreibt Gustafsson einmal. Das ist schade, weil sich die brüchige Welt vielleicht nur in Brüchen wahrnehmen lässt. Es ist aber auch ein Glück, weil nur so der Möglichkeitssinn erhalten bleibt. Und wer weiß, vielleicht verfügt das Buch genau deshalb über jene Kraft, die Janne an der Besitzerin des Herrenhauses bewundert: „Von ihr ging – wie sollen wir es nennen – ein Magnetismus aus.“
Lars Gustafsson: Der Mann auf dem blauen Fahrrad. Träume aus einer alten Kamera. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag, München 2013. 192 Seiten, 17,90 Euro.
Dieser wundersame kleine Roman
lebt von Sprüngen und Schnitten
Die Bilder eines dunkelrot
gebundenen Fotoalbums ziehen
Janne Friberg in ihren Bann
Quirlen, kneten, Wurst stopfen: Das Haushaltsgerät, das Janne Friberg in der schwedischen Provinz verkauft, kann sehr viel.
FOTO: OH
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"Ein unbedingt lesenswerter kleiner Roman." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 04.04.16

"Unmöglich, dass noch ein anderes Herbstbuch so sommerzart wäre wie dieses." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 31.07.13

"Das ist ein kunstvolles Spiel voller Überblendungen, Überzeichnungen und Gegenläufigkeiten, das sich souverän an den großen literarischen Meistern orientiert und respekt- und liebevoll mit deren Themen und Mitteln jongliert." Claus-Ulrich Bielefeld, Literarische Welt, 10.08.2013

"Dieser wundersame kleine Roman lebt von Sprüngen und Schnitten." Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 11.09.13

"Ein kurzweiliges Meisterstück." Ulf Heise, Dresdner Neueste Nachrichten, 11.11.13