Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 2,50 €
  • Gebundenes Buch

Denken geht oft deutlich schneller, als man denkt. "Ich saß in einem Café und hörte plötzlich eine faszinierend sichere und dunkle Frauenstimme sagen: 'Ach, ich habe gleich gewusst, der Stoff gibt etwas her.' Aber noch bevor ich mich umdrehen konnte, setzte sie hinzu: 'Sie hat ein prima Hängekleid daraus gemacht.'" Thomas Lehr, einer der klügsten Schriftsteller in Deutschland, ist bekannt geworden durch seine großen, oft umfangreichen Romane. Sein neues Buch macht kurzen Prozess mit der großen Form: Geschichten und Gedanken werden in die kürzestmögliche Fassung gebracht - wenn möglich, in…mehr

Produktbeschreibung
Denken geht oft deutlich schneller, als man denkt. "Ich saß in einem Café und hörte plötzlich eine faszinierend sichere und dunkle Frauenstimme sagen: 'Ach, ich habe gleich gewusst, der Stoff gibt etwas her.' Aber noch bevor ich mich umdrehen konnte, setzte sie hinzu: 'Sie hat ein prima Hängekleid daraus gemacht.'" Thomas Lehr, einer der klügsten Schriftsteller in Deutschland, ist bekannt geworden durch seine großen, oft umfangreichen Romane. Sein neues Buch macht kurzen Prozess mit der großen Form: Geschichten und Gedanken werden in die kürzestmögliche Fassung gebracht - wenn möglich, in Sätze, die komplette Romane ersetzen: "Sex wollen alle. Aber wer kann schon was damit anfangen?"
Autorenporträt
Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen u.a. Größenwahn passt in die kleinste Hütte (Kurze Prozesse, 2012), die Novelle Frühling (2019) sowie die Romane September. Fata Morgana (2010), 42 (2013), Zweiwasser (2014), Nabokovs Katze (2016), Schlafende Sonne (2017), Die Erhörung (2021) und Manfred - Bekenntnisse eines Außerirdischen (2023). Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Spycher-Literaturpreis sowie dem Kranichsteiner Literaturpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2012

Zwischen Erbse
und Matratze
Thomas Lehr kalauert sich
durch das Reich des Aphorismus
Man misstraue dem Aphorismus. Weit entfernt davon, die Wahrheit auf handliches Format herunterzukürzen, macht er sie durch das Eitle der Form platt. Noch von den besten muss man sagen: Nicht leuchten wollen sie, sondern glänzen.
  Thomas Lehr, der vor zwei Jahren durch den Roman „September“ von sich reden machte, hat nach diesem überambitionierten Großprojekt über 9/11, das Leben in Amerika und im Irak wohl so etwas wie einen Ruhepunkt gesucht. Der Titel „Größenwahn passt in die kleinste Hütte“ trifft es genauer, als er weiß. Denn der Ehrgeiz ist noch da, nur schmallippig geworden: als würde es die Knappheit schon alleine richten. Einen zentralen Part übernimmt der mit gewichtiger Miene auftretende Kalauer: „Die Bretter, die die Welt bedeuten, werden gerne vor dem Kopf getragen“, oder: „Wer anderen eine Grube gräbt, legt heut’ ein Fernsehkabel rein.“ Oder noch platter: „Er sägte schon an dem Ast, den er sich gerade gelacht hatte.“ Und: „Er stellte seinen Scheffel auf jedes Licht.“ Das funktioniert schon deswegen nicht, weil ein Scheffel ein Eimer ist. Von diesem Buch ließe sich durchaus denken, dass es ein anderes, weit umfangreicheres nach sich zöge, das genau und ausführlich dartut, weshalb der eine Satz, auf den hier alles hinausläuft, dennoch nicht stimmt – und es wäre gewiss nicht ärmer an Gehalt. Im Übrigen sollte, wer im Untertitel „Kurze Prozesse“ verheißt, sein Buch nicht mit der Widmung „Für Dorle“ versehen und so das widrige Bild eines sentimentalen Scharfrichters heraufbeschwören.
  Lehr hat sein aphoristisches Ideal offenbar an Karl Kraus entwickelt, dessen Name immer wieder fällt. Aber gerade an Kraus lässt sich studieren, wie eine Einsicht ihren Wert verliert, wenn man sie aus dem Zusammenhang des Gedankens herauskämmt wie eine Klette aus dem Pelz; ihre Widerhaken stacheln dann ins Leere. Kraus hatte, auch schon in einem Aphorismus, nicht unkokett gefragt, woher er bloß die Zeit nehme, all die vielen Romane nicht zu lesen. Lehr gedenkt dies noch zu überbieten: „Oft vergehen Jahre, bevor ich ein Buch nicht lese.“ Das ist nicht nur, vorsichtig gesagt, zur guten Hälfte übernommen; sondern es hat in dieser Zuspitzung (als würde hier sozusagen Buch für Buch nach einem festen Plan übergangen) auch etwas Pedantisches und Abstraktes.
  Wo kommen in diesem perspektiv- und aussichtslosen Terrain die paar anderen Sätze her, jene, die nicht witzelnd recht behalten wollen, sondern in den vielen weißen Raum um sich herum zu schweigen und sogar zu lauschen scheinen? Schwer zu sagen; aber es gibt sie. „Wer kämpfen muss, hat schon verloren.“ Das ist so wahr, als stammte es von Kafka. „Völlig musikalische Menschen können beunruhigend sein wie ein Roboter.“ Das tritt der Musik nicht zu nahe, aber schränkt sie nachdenklich ein. „Schöne Frauen gehören immer den Phantasielosen. Denn diesen ist die Macht, sich nichts vorstellen zu können.“ Hat schon mal jemand so zum Ausdruck gebracht, dass Schönheit auch ein Defekt sein könnte, und worin er dann bestünde?   Leider steht dieser Satz direkt neben einem weiteren: „Wäre er die Erbse gewesen, er hätte die Prinzessin durch hundert Matratzen gespürt.“ Nicht als ob er schlecht wäre. Aber er macht die Gefahr der aphoristischen Form klar: dass unter dem gleichmacherischen Diktat der Kürze auch ein anderer Autor, ganz unabhängig, zum selben Ergebnis zu kommen vermag. Der andere war in diesem Fall Roger Willemsen. Und zu dem passt es entschieden besser.
BURKHARD MÜLLER
  
Thomas Lehr: Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse. Carl Hanser Verlag, München 2012. 107 Seiten, 14,90 Euro.
Der Autor sägt in der Tat
an dem Ast, den er sich lacht
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2013

Dieser Stoff gibt etwas her
Seneca im Hängekleid: Thomas Lehrs Aphorismen

Der Aphorismus ist die kleine Form mit großer Gebärde. Hier geht es nicht ums demokratische Für und Wider, sondern um den Pfeil, der mitten ins Graue des Gemeinplatzes trifft. Lichtenberg, Nietzsche, Karl Kraus - die Meister der Gattung waren alles andere als Bescheidenheitskünstler.

Wo das Geistige allerdings zum permanenten runden Tisch geworden ist, hat der Aphorismus mit seinem apodiktischen Gestus und seinem exklusiven Witz keinen Ort mehr. Wo die Fallgruben der Korrektheit lauern, ist die vorsichtige Formulierung stilbildend, nicht das scharfe Diktum. Man müsste ja größenwahnsinnig sein, um der Welt, wie wir sie kennen, in einem einzigen Satz heimleuchten zu wollen.

Thomas Lehr ist ein Autor, der über den gewissen produktiven Größenwahn verfügt. Sein letztes Buch "September - Fata Morgana" war der Versuch eines Jetztzeit-Epos, das die New Yorker Türme noch einmal in einer lyrisch-rhapsodischen Sprache ohne Punkt und Komma zusammenstürzen ließ, von Vätern und Töchtern, Terror und Krieg, Irak und Amerika, Öl und Islam erzählte - eine künstlerisch riskante Konflikt-Moderation im "Kampf der Kulturen".

Dass ein solcher Autor, der aufs Ganze geht, nun die kleine, zusammengezogene Form mit der flächendeckenden Aussage riskiert, passt ins Bild. Und Lehr weiß, was er tut, sonst würde er nicht schon im Titel Ironiesignale senden: "Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse". Im Bewusstsein des Vermessenen und Verkürzten werden hier Sentenzen geschliffen.

"Städte wie Flüche aus Stein" lautet eine der allerkürzesten. Solche überraschenden Bilder zeichnen die stärksten Stücke aus, so auch diese Vertiefung in den Blick des Nachrichtensprechers: "Fast jeden Abend derselbe Mensch, der so betroffen in dein Wohnzimmer starrt, als hinge dort klein gedruckt seine eigene Todesanzeige an der Wand, die er vergeblich zu entziffern trachtet." Oder Liebe als Eroberung, ganz wörtlich genommen: "Ihr Körper, der neue Kontinent. Er landete am Strand. Die ersten Eingeborenen empfingen ihn freundlich."

Lehr hält sich an klassische Muster beim Verfertigen von Aphorismen, darunter die Antithese und das Paradox: "Nichts macht Männer kriegerischer als der Austritt aus dem wehrfähigen Alter." Oft macht er sich die Doppeldeutigkeit eines Wortes zunutze, wie bei folgender Sentenz über die Tücken der Selbstfindung: "Noch aus jeder inneren Einkehr kam er als Zechpreller zurück." Es gibt wunderbar lapidare Pointen, wie dieses abschließende Wort zu einer literarischen Grundsatzdebatte: "Wer vom Ende des Romans redet, sollte sich einen neuen kaufen."

Ein kulturkritischer Grundton zieht sich durch die Sammlung: "Ich saß in einem Café und hörte plötzlich eine faszinierend sichere und dunkle Frauenstimme sagen: ,Ach, ich habe gleich gewusst, der Stoff gibt etwas her.' Aber noch bevor ich mich umdrehen konnte, setzte sie hinzu: ,Sie hat ein prima Hängekleid daraus gemacht.'" Was ist gegen prima Hängekleider einzuwenden? Hier wird zwischen dem Autor und seinen Lesern ein bildungsbürgerliches Einverständnis vorausgesetzt, das Texte prinzipiell für höherwertiger hält als Textilien. Doch dieses Einverständnis ist brüchig, und darin besteht ein Problem für den Aphoristiker heute: An welchen Zirkel richtet er seine Worte, wer teilt seine Werte? Weil der Aphorismus keine umständlichen Begründungen und Kontexte liefern kann, ist er auf das angewiesen, was sich von selbst versteht. Aber solche Verbindlichkeit kann immer weniger vorausgesetzt werden.

Deshalb beziehen sich Lehrs Aphorismen oft auf einen schwindenden Grundbestand an Redewendungen und Sprichwörtern, aus denen sich Pointen der Sinnumstülpung schlagen lassen. "Wenn die Späne fallen, redet man sich gern auf einen Hobel hinaus" - eine Sentenz von geradezu machiavellistischer Qualität. Oder: "Manche graben den anderen so tiefe Gruben, dass sie nie wieder ans Tageslicht zurückfinden."

Am sichersten funktionieren die Aphorismen zur Lebensweisheit, weil sie an die allgemeine Erfahrung appellieren können: "Vom Planet der Glücklichen zum Planet der Unglücklichen braucht es kaum einen Schritt." Wie wahr! "Wer nicht verzeihen kann, hat keine Freunde." Das klingt so klassisch, als hätte es schon bei Seneca gestanden. Selbst der Floskel von der Weisheit des Alters kann Lehr einen Dreh ins Wahrhaftige geben: "Jedes Quentchen Weisheit, das das Alter mit sich bringt, ist nötig, um es zu ertragen." Immerhin bleibt noch der Weisheit letzter Schluss: "Manchmal gehe ich so gerne schlafen, dass ich mir vorstellen kann, mich einmal auf den Tod zu freuen."

Allerdings enthält der Band auch viele matt verpuffte Kalauer, unerfreuliche "Quengelware", platte Pointen, verknitterte kulturkonservative Scherze: "Erst der Flachbildschirm offenbarte die wahre Dimension des Fernsehens." Angestrengt wirkt der Versuch, einen berühmten Satz von Kafka im Aphorismus-Shaker zu bearbeiten: "Der Kritiker ist die gefrorene Gestalt, die mit der Axt auf das Meer einschlägt." Überhaupt fällt Lehrs unsouveränes Ressentiment gegenüber der Kritik ins Auge.

Gute, leicht wirkende Aphorismen zu schreiben ist schwer. Deshalb sollte man dem Autor seine schwächeren Versuche nachsehen. Es sind viele bemerkenswerte oder sogar merkenswerte Formulierungen in diesem Buch, das in die Jackentasche passt und die kleine Nachdenklichkeit zwischendurch befördert.

WOLFGANG SCHNEIDER

Thomas Lehr: "Größenwahn passt in die kleinste Hütte". Kurze Prozesse.

Carl Hanser Verlag, München 2012. 107 S., geb., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Buch eignet sich fabelhaft fürs kleine Nachdenken zwischendurch, freut sich Wolfgang Schneider über Thomas Lehr und seine gesammelten Aphorismen. Manchmal klingt es wie Seneca, wenn Lehr überraschende Bilder und Lebensweisheiten findet, lapidare Pointen und geschliffene Sentenzen. Dann wieder schluckt Schneider ob der Plattheit mancher Erkenntnis, der Biederkeit einiger Scherze und der Gequältheit dieser oder jener Formulierung. Insgesamt jedoch hat er Respekt vor Lehrs Versuchen, gute, easy wirkende Aphorismen zu drechseln, das sei nämlich durchaus nicht leicht, bekundet der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Thomas Lehrs Texte sind knappste Sinneinheiten, die den Leser herausfordern." Markus Bundi, NZZ am Sonntag, 25.11.12

"Thomas Lehrs Aphorismen sind klug, von bestrickendem Witz." Peter Zimmermann, ORF, 18.11.2012

"Dieses Bändchen also doch lieber nicht im Bett lesen! Das durch die Lektüre ebenso angeregte wie anregende Nachdenken könnte nicht nur die Müdigkeit vertreiben: 'Vor der Literatur sind schon viele ins Leben geflüchtet.'" Darmstädter Echo, 05.11.2012