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Bereits mit fünfzehn vertiefte sie sich in Rilke und Gide, mit siebzehn heiratete sie ihren Professor: Susan Sontag war eine ungewöhnliche Frau. Ihr Lebenshunger und ihre unstillbare Wissbegierde führten die junge Intellektuelle von Kalifornien nach Chicago, später nach Paris und New York. Die frühen Tagebuchnotizen der Kunstbegeisterten bieten unvermutete Einblicke in ihre widersprüchliche Persönlichkeit: Das Private - ihre Ehekrise, ihre Liebschaften und ihre Homosexualität - sind der Anlass für weitreichende, tiefsinnige Betrachtungen. Ihr intimes Selbstporträt ist das Zeugnis eines…mehr

Produktbeschreibung
Bereits mit fünfzehn vertiefte sie sich in Rilke und Gide, mit siebzehn heiratete sie ihren Professor: Susan Sontag war eine ungewöhnliche Frau. Ihr Lebenshunger und ihre unstillbare Wissbegierde führten die junge Intellektuelle von Kalifornien nach Chicago, später nach Paris und New York. Die frühen Tagebuchnotizen der Kunstbegeisterten bieten unvermutete Einblicke in ihre widersprüchliche Persönlichkeit: Das Private - ihre Ehekrise, ihre Liebschaften und ihre Homosexualität - sind der Anlass für weitreichende, tiefsinnige Betrachtungen. Ihr intimes Selbstporträt ist das Zeugnis eines einzigartigen intellektuellen Werdegangs und gleichzeitig ein Zeitdokument ersten Rangs.
Autorenporträt
Susan Sontag, 1933 in New York geboren, ist Schriftstellerin, Filmemacherin und Theaterregisseurin. Sie erhielt unter anderen den Jerusalem Prize, den National Book Award, den Prinz-von-Asturien-Preis und 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie starb 2004 in New York.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2010

Nicht lächeln, nicht verbindlich sein
Als die amerikanische Essayistin Susan Sontag 2004 starb, hinterließ sie über hundert Tagebücher: Der erste daraus veröffentlichte Band „Wiedergeboren” ist der Selbstbildungsroman einer jungen Intellektuellen Von Thomas Steinfeld
Die junge Frau ist noch gar keine Schriftstellerin, geschweige denn eine Intellektuelle, als sie schreibt: „Was bedeutet es, jung an Jahren zu sein und plötzlich der Qual, der Intensität des Lebens gewahr zu werden?” Genauer: Die Autorin dieser Zeilen ist eigentlich noch keine Frau, sondern ein gerade erst fünfzehn Jahre altes Mädchen aus Tuscon/Arizona, das größtenteils bei den Großeltern aufwuchs und gerade in North Hollywood die Oberschule abschließt. Und, was bedeutet es, dieses Gewahrwerden? Das kluge Mädchen hat mehr als eine Antwort: „Es bedeutet, sich der eigenen Anmaßung quälend bewusst zu sein”, lautet die beste, und sie ist quälend ernst gemeint. Denn nichts an diesem Mädchen erscheint angelesen und unbegriffen, nichts erscheint geliehen und als Pose gebraucht. Alles ist gedacht, und wenn sie schreibt, dass ein idealer Staat sich nicht nur durch ausreichenden Mindestlohn, öffentliche Verkehrsmittel und Subventionierung der Künste auszeichne, sondern auch durch eine „staatliche Gesundheitsfürsorge für schwangere Frauen, ohne dass etwa nach ehelichen + unehelichen Kindern unterschieden wird”, so kann man sicher sein, dass auch dieser Plan überlegt ist.
Susan Sontags Tagebücher aus den Jahren 1947 bis 1963 sind ein erstaunliches Dokument. Sie verlangen vom Leser, dass er zurückfindet in eine Welt, die ihm gegenwärtig fremder vorkommen muss als die Karibik des Piratenkapitäns Sparrow oder der Planet Pandora des Films „Avatar”: Denn es gibt Intellektuelle in dieser Welt, Menschen, die sich prinzipiell kritisch ihrer Umgebung gegenüber verhalten, mit einer analytischen Distanz, die leicht und schnell in Ablehnung übergeht – und das tun sie, während sie doch in und mit und von dieser Umgebung leben. Mehr noch: In dieser Welt existieren junge, sehr junge Menschen, die mit kaltem Kopf ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten bedenken und sich daraufhin entschließen, genau solche Intellektuelle zu werden. Die dann hingehen, als Heranwachsende noch, und sich, mit dem stets ein wenig altklug wirkenden Pathos der Selbsterzieher, vorstellen, welchen Preis sie dafür zu entrichten haben: radikale Zweifel, geistige Marter, Lossagung von Familie und Kindheitsidolen, kurz, die gesamten Selbstopfer einer ins Intellektuelle übertragenen Nachfolge Christi. Und die schließlich genau das werden, was sie werden wollen und dabei nicht einmal an die Verkaufszahlen ihrer Bücher oder, wie einst der junge Anton Reiser, an den eigenen zukünftigen Ruhm denken. „Folge von Selbstbewusstsein: Publikum und Schauspieler sind identisch”, notiert Susan Sontag im Herbst 1959. „Ich lebe mein Leben als Schauspiel für mich selbst, zu meiner eigenen Erbauung. Ich lebe mein Leben, aber ich lebe nicht in ihm. Der Sammeltrieb in den zwischenmenschlichen Beziehungen . . . ”. An analytischer Kälte fehlt es hier nicht.
Ende Dezember 1949 – Susan Sontag ist zu dieser Zeit knapp siebzehn Jahre alt – geht sie, vielleicht in einem Anfall von sozialem Sammeltrieb, Thomas Mann in Los Angeles besuchen: „Beigefarbener Anzug, kastanienbraune Krawatte, weiße Schuhe – Füße zusammen, Knie auseinander.” Zurück bleiben von dieser Begegnung mehrere Seiten mit Kommentaren, die Thomas Mann zu eigenen Romanen sowie zu den Werken von James Joyce und Marcel Proust gesprochen haben soll und die von Susan Sontag größtenteils im Wortlaut wiedergegeben werden. Der „Zauberberg”: „ein Bildungsroman, wie alle deutschen Romane”. „Die Buddenbrooks” bis „Doktor Faustus”: Die „Werke bilden eine Einheit und sollten vorzugsweise als Ganzes analysiert werden”. Marcel Proust: „Die Zeit ist ein Problem unserer Epoche.” Über diese Seite mit den Nachschriften von Thomas Manns Bemerkungen zu sich selbst schrieb Susan Sontag: „Die Kommentare des Autors verraten das Buch durch ihre Banalität.”
Ein Jahr zuvor, nach der zweiten Lektüre, hatte sie den „Zauberberg” zum „besten Roman, den ich je gelesen habe” erklärt. Aber es ist nicht Enttäuschung, was sie angesichts des Menschen Thomas Mann empfindet. Vielmehr bemerkt sie erst einmal nur den Unterschied, und dann, wie der Schriftsteller seinen intellektuellen Ernst verliert, weil er seiner Besucherin etwas vorstellen, ihr etwas anbieten und sich doch zugleich keine Mühe geben will. Ihren ganzen, großen Scharfsinn wendet sie in ihren Tagebüchern auf solche schalen Kompromisse, und oft ist sie es, die sich die Kompromisse selber anbietet, um sie dann nachher um so heftiger auseinanderzunehmen.
Die Idee des Bildungsromans aber kann Susan Sontag nicht fremd sein. Ihre Tagebücher sind selber einer. Sie schlagen einen großen Bogen von der amerikanischen Westküste über die Universitäten von Chicago, Harvard, Oxford und Paris, bis sie im Jahr 1959 endgültig nach New York zieht. Nur, dass sie nicht aus der Perspektive der gelungenen oder gescheiterten Bildung geschrieben sind. Die großen Bücher Susan Sontags liegen alle noch in weiter Ferne – ihr experimenteller Roman „The Benefactor” erscheint zwar 1963, berühmt wird sie aber erst drei Jahre später, mit dem großen Essay „On Interpretation”.
Um so mehr aber sind diese Tagebücher das Projekt einer solchen Bildung. Daher bestehen sie zu großen Teilen aus Listen – von Büchern vor allem, die sie liest und die noch zu lesen sind, und welche Bücher: Ein erstaunlich fester und umfassender Kanon einer abendländischen literarisch-philosophischen Bildung wird da zusammengetragen. Viele Filme erscheinen in diesen Listen, klassische Musik und immer wieder Appelle an sich selbst: nicht so viel lächeln, gerade sitzen, häufiger baden, nicht so verbindlich sein, nicht so viel lesen, weniger Geld ausgeben, härter an sich arbeiten.
Und noch etwas beschäftigt sie, und es ist nicht minder wichtig (eigentlich sogar: wichtiger) als die Bildung und nicht immer mit ihr verknüpft: die Sexualität, ihre Gefährtinnen, und wenn sie auch schreibt, dass sich die Sexualität von Tag zu Tag selbst verzehrt und weder Aufschub noch Akkumulation kennt, so akkumulieren sich doch immer wieder die unglücklichen Erlebnisse. Denn meistens ist sie diejenige, die wirbt und festzuhalten sucht, während die von ihr Begehrten sich nicht dem Verlangen fügen: Das Wort „Wiedergeboren” („Reborn”) im Titel dieser Ausgabe bezieht sich weniger auf ein intellektuelles als auf ein sexuelles Erweckungserlebnis. Die Ehe mit ihrem Lehrer Philip Rieff, die sie mit siebzehn Jahren einging und die immerhin sieben Jahre währte, beschäftigt sie indes weitaus weniger, auch wenn sie dem Überdruss an ihrem Mann in der späten Zeit ungehemmt Ausdruck verleiht.
Selbstverständlich sind diese Tagebucheinträge, die sich sehr lose, in wie zufälligen Häufungen über fünfzehn Jahre verteilen, indiskret, entblößend und, ja, zuweilen auch peinlich. Oft ist es, als stünde der Leser hinter der Tür des Kleiderschranks im Schlafzimmer der jungen Susan Sontag und könnte durch das einseitig verspiegelte Glas zusehen, wie sie nicht nur Kleider, sondern auch Gesichter und Posen ausprobiert.
David Rieff, ihr Sohn, der die Auswahl aus den über hundert Tagebüchern Susan Sontags in drei Bänden – dieser ist der erste – herausgibt, berichtet in einem vorsichtigen, taktvollen Vorwort davon, welche Schwierigkeiten ihm seine Arbeit bereitete, und es waren nicht ihre erotischen Verstrickungen, die ihn am meisten beschäftigten: „Ich habe mich dafür entschieden, viele der sehr strengen Urteile meiner Mutter mit aufzunehmen. Sie urteilte gern. Doch diese Eigenschaft zu exponieren – und die Tagebücher sind voll von solch exponierenden Momenten – heißt unweigerlich, die Leser einzuladen, ihrerseits über sie zu urteilen.” Und es stimmt, der Leser urteilt über Susan Sontag.
Aber er tut es nicht in dem Sinne, den David Rieff befürchtet. Es bekümmert ihn auch nicht die verständliche Indiskretion, die der Herausgeber selbst beging: Susan Sontag verfügte nichts über den Umgang mit ihrem schriftlichen Nachlass. Nachdem er an die University of California verkauft worden war, hätte es jedem freigestanden, die Tagebücher in die Öffentlichkeit zu tragen. Das alles tritt zurück, wird unwichtig im schieren Staunen über die Größe des Projekts, zu dem Susan Sontag sich selber machte.
Es gibt gegenwärtig keine solchen Intellektuellen, falls es überhaupt welche gibt: Menschen, die ihre ganze geistige Kraft dahineinlegen, gesellschaftliche Widersprüche, Reibungen, Konflikte zu erkennen, ihnen auf den Grund zu gehen und ihnen eine Figur zu verleihen, mit der alle umgehen können. Es gibt diesen Willen nach totalem geistigen Nachvollzug der Gegenwart nicht. An seine Stelle ist das Moralisieren getreten, die ebenso einfältigen wie selbstgefälligen Versuche, die Welt an den Idealen zu messen, die sie von sich selber hegt – um daraufhin in die wohlfeile Klage auszubrechen, dass die Ideale nicht erfüllt werden.
Das alles will Susan Sontag nicht, ebenso wenig wie sie eine akademische Laufbahn will („die Universitäten sind schlecht geführte Massenmedien”), ebenso wenig wie sie für andere schreiben will, jedenfalls nichts, wofür sie sich irgendwie kompromittieren müsste. Und wenn sie sich mit ihren Lehrern auseinandersetzt, mit Paul Tillich oder Jacob Taubes etwa, dann weniger, um ihnen zu folgen, als vielmehr, um sie als Wetzsteine ihres Verstandes zu benutzen, in einem endlosen Streit um intellektuelle Überlegenheit. Um am Ende nichts übrig zu lassen als einen von allem Persönlichen gereinigten Geist. Über die Sprache Franz Kafkas, der Thomas Mann als meistgeschätzter Schriftsteller ablöst, schreibt sie: „Es traf mich wie ein Fausthieb, die Absolutheit seiner Prosa, diese pure Unmittelbarkeit, da ist nichts gezwungen oder unklar.” Und als Susan Sontag im Januar 1958 an einem Roman arbeitet – er bleibt bislang unveröffentlichtes Fragment –, heißt es darüber: „Dieses Buch ist ein Instrument, ein Werkzeug – und es muss hart + wie ein Werkzeug geformt sein.” In beidem, im Kommentar zur Kafka und in dem zum eigenen Werk liegt dieselbe Verpflichtung: Intellektualität, nichts als Intellektualität.
Susan Sontag
Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963
Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Carl Hanser Verlag, München 2010. 380 Seiten. 24,90 Euro.
Zu großen Teilen bestehen die Tagebücher aus Listen kanonischer Bücher und Filme
An die Stelle geistiger Durchdringung der Gegenwart ist das Moralisieren getreten
Gerade sitzen, häufiger baden, nicht so viel lesen und härter an sich arbeiten, so lautete das Pflichtprogramm der jungen Intellektuellen. Unser Foto zeigt Susan Sontag (1933-2004) in den sechziger Jahren. Foto: Rue des Archives / SZ Photo
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2010

Halt, so schnell kann ich nicht wachsen!

Ihre Zweifel vertraute sie nur den Tagebüchern an: "Wiedergeboren" gibt intimste Einblicke in den Lebensalltag der amerikanischen Vorzeigeintellektuellen Susan Sontag in den Jahren 1947 bis 1963.

Die meisten Amerikaner beginnen den Liebesakt, als sprängen sie mit geschlossenen Augen aus dem Fenster", schrieb Susan Sontag 1962 in ihr Tagebuch. Sie war eine der bissigsten Kritikerinnern ihres Landes, und noch mit fast siebzig Jahren löste sie im September 2001 einen Skandal aus mit dem kühlen Satz: "Was immer man über jene sagen mag, die das Blutbad vom Dienstag angerichtet haben - Feiglinge waren sie nicht."

Viele ihrer Landsleute hätten sie am liebsten gelyncht damals, trotz ihrer großen Verdienste, die natürlich niemand bestritt. Immerhin hatte sie Amerikas Intelligenz mit den wichtigsten europäischen Schriftstellern und Filmemachern bekannt gemacht, von Benjamin über Canetti und Sarraute bis Fassbinder, Godard und Bergman. Und das so leidenschaftlich, klarsichtig und unermüdlich, wie sie alles betrieb, was sie interessierte.

Welch unglaublichen Zweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen ihre Haltung und ihr Werk abgerungen waren, zeigen die Tagebücher, die sie nur für sich selbst schrieb, ohne, wie die meisten anderen Autoren, je an Veröffentlichung zu denken. Sie las auch nie daraus vor - obwohl sie allen Freunden gesagt hatte, wo sie die mehr als hundert Hefte aufbewahrte. Einige durchblätterte sie immer wieder und fügte spöttische Randbemerkungen ein, als würde sie diese Baustelle ihres Ichs ständig beobachten und die Fortschritte ausmessen. Auf einer Umschlagseite hatte sie den Titel "Wiedergeboren" notiert - er steht für die tiefe und sehr amerikanische Überzeugung, jeder Mensch könne sein Leben transzendieren und sich neu erschaffen.

Wie hart man dafür kämpfen muss, erzählen diese Aufzeichnungen, deren besondere Qualität Herausgeber David Rieff in ihrer Ungeschliffenheit sieht. Zu Recht, denn sie zeigen das ungeschönte Bild einer brennend ehrgeizigen jungen Frau, die aus einer der trostlosesten Provinzecken Amerikas kam und sich mit unendlicher Energie zu genau der städtischen femme de lettres bildete, die sie schon als junges Mädchen sein wollte. Begeistert von André Gides "Journal", ist sie überzeugt, das Buch beim Lesen selbst zu erschaffen, und notiert ganz ohne Ironie: "Ich denke nicht: Wie unglaublich luzide das alles ist!, sondern: Halt, so schnell kann ich nicht wachsen!" - eine typische Aussage für das intellektuelle Selbstbewusstsein Susan Sontags. Unglaublich, dass sie damals erst vierzehn war.

Die schonungslose Akribie, mit der sie auch ihre Schwächen beobachtet und bis in intimste körperliche Details festhält, muss ihren Sohn verstört haben. David Rieff, der erste Leser dieser Gefühlsprotokolle, schreibt in seinem sehr ehrlichen Vorwort, sie "als Selbstentblößung zu bezeichnen wäre eine drastische Untertreibung". Er hätte vieles lieber nicht gewusst. Aber weil die Schriftstellerin leidenschaftlich gern Tagebücher und Briefe las, je intimer und ungeschützter, desto besser, handelt er mit der Veröffentlichung wohl doch in ihrem Sinne. Sie selbst formuliert es drastischer und nennt es den tiefsten Sinn privater Aufzeichnungen, heimlich gelesen zu werden. Wenn sie in den Tagebüchern ihrer Geliebten verletzende Bemerkungen über sich findet, weiß sie deren brutale Ehrlichkeit zu schätzen, schließlich muss sie lernen, sich gegen die Gesellschaft zu wappnen, die sie als Homosexuelle nicht weniger grausam beurteilt.

Genau dieses schnelle Wechselspiel zwischen literarischer Maskerade, Selbstentblößung und strenger Kritik reizte sie am Tagebuchschreiben. An einem Tiefpunkt ihres Lebens, nach gescheiterter Ehe, zwei gescheiterten Liebesbeziehungen und zutiefst unglücklich mit der Rolle als alleinerziehende Mutter, notiert sie während einer Vortragsreise 1963: "Mein ,wahres' Ich, das leblose. Das Ich, dem ich zumindest teilweise entfliehe, indem ich mit anderen Menschen zusammen bin. Die lahme Ente. Die schläft und, wenn sie wach ist, ständig Hunger hat. Die nicht gern badet oder schwimmt und nicht tanzen kann. Die ins Kino geht. Die an den Fingernägeln kaut." So einig Susan Sontag mit ihrem Geist war, so unzufrieden war sie lebenslang mit ihrem Körper und ihrem Lieben.

Erschreckend, dass diese eloquente und schöne Frau, die es wagte, mit ihren essayistischen "Anmerkungen zu Camp" bereits 1964 Trash und Hochkultur ästhetisch kurzzuschließen, und in "Against Interpretation" mit ihrer Forderung nach einer "Erotik der Kunst" ganze Studentengenerationen von akademischer Bigotterie befreite, in der Liebe ängstlich, ja fast unterwürfig war. Sie hielt sich für eine Blenderin, für verlogen, faul und unattraktiv. Kaum jemand hat sich lebenslang dem Mainstream so heftig verweigert - trotzdem geißelt sie sich immer wieder für ihr "X-Gefühl": den ständigen Drang, freundlich zu sein, den Vorstellungen anderer zu entsprechen und sich schuldig zu fühlen. So befreiend ihr lesbisches Coming-Out war, ihre beiden ersten (und wesentlich älteren) Geliebten verachten sie für ihre Intellektualität und halten sie für unfähig, Mann oder Frau sexuell zu befriedigen, was ihnen die traurige, an sich selbst zweifelnde Tagebuchschreiberin sofort glaubt. Sie nimmt die größte Demütigung hin - die nicht etwa Untreue ist, das fände sie nicht der Rede wert, sondern ihre bewunderte Irene spricht ihr jede körperliche Empfindung ab.

Mit endlosen, rührenden Listen versucht Susan Sontag ihr "jämmerliches Ich" zu erziehen und verbietet sich, ungewaschen und in Kleidern zu schlafen, ständig zu reden oder den kleinen Sohn zu vernachlässigen. Und sie gibt so freimütig zu, wie sie es nie einem Menschen gegenüber tun würde, dass sie nur schreibt, weil sie einfach gern "diese Figur, die Schriftstellerin" sein will, und nicht etwa, weil sie etwas Besonderes zu sagen habe. Aber vielleicht würde das Tagebuch dieses Besondere herausfiltern? Und das tut es zweifellos, denn nach einem Jahr in der Pariser Bohème erkennt die Fünfundzwanzigjährige die beiden Kräfte, die sie antreiben: Vitalität und Emotion, die künftig ihre literarischen und philosophischen Begriffe prägen. Sie weiß jetzt, dass Angst, Wut und Trauer ihre besten Inspirationsquellen sind, und hält ihre unmittelbaren Eindrücke fest, um sie durch unermüdliche Recherche weiter auszubauen. Ein Jahr später erscheinen ihre "Anmerkungen zu Camp". In den Notizbüchern erkundet sie immer wieder ihre Unsicherheiten, und nur das, was sie tief beunruhigte, fand hier Eingang. Selten ging es dabei um ihr Schreiben. Sie wollte sich als Person daran hindern, lau oder bequem zu werden, denn Kunst, das war ihre tiefste Überzeugung, ist eine Frage auf Leben und Tod.

NICOLE HENNEBERG

Susan Sontag: "Wiedergeboren". Tagebücher 1947-1963. Hrsg. David Rieff. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Carl Hanser Verlag, München 2010. 382 S., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ein bisschen zu viel der Einblicke ins Privatleben von Amerikas scharfsichtigster Kritikerin enthält dieser erste Band von Susan Sontags Tagebüchern nach Meinung des Rezensenten. Außer als Ort der reflexiven Selbstvergewisserung anhand von Literatur, Sprache, Sexualität, Judentum, Film und dokumentierten Beziehungsdramen (als Vorstufe der berühmten Essays) begreift Oliver Pfohlmann den Band vor allem als Ansammlung von Listen: zu lesende und gelesene Bücher, Stücke, Filme, aber auch Fehler und Selbstermahnungen. Für den Rezensenten zeigt sich darin, wie in Sontags Gedanken zu ihrer sexuellen Identität, eine tiefe Verunsicherung, die Kehrseite einer intellektuellen Existenz.

© Perlentaucher Medien GmbH