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Ausgehend von seinem Schreckensjahr 1994/95, in dem sein Vater stirbt, sein Freund Saul Bellow schwer krank ist und sich die englische Presse vor allem seinen Zahnproblemen widmet, spinnt Amis Fäden in seine Vergangenheit. Er schildert die Liebschaften seines Vaters, erzählt von einer Jugend inmitten der intellektuellen Elite Englands, von seinen Anfängen als Schriftsteller und von seinen eigenen gescheiterten Beziehungen zum weiblichen Geschlecht - was so tragisch beginnt, ist doch unerhört kurzweilig, zuweilen bissig und immer scharfsinnig.

Produktbeschreibung
Ausgehend von seinem Schreckensjahr 1994/95, in dem sein Vater stirbt, sein Freund Saul Bellow schwer krank ist und sich die englische Presse vor allem seinen Zahnproblemen widmet, spinnt Amis Fäden in seine Vergangenheit. Er schildert die Liebschaften seines Vaters, erzählt von einer Jugend inmitten der intellektuellen Elite Englands, von seinen Anfängen als Schriftsteller und von seinen eigenen gescheiterten Beziehungen zum weiblichen Geschlecht - was so tragisch beginnt, ist doch unerhört kurzweilig, zuweilen bissig und immer scharfsinnig.
Autorenporträt
Martin Amis, geboren 1949 in Swansea, ist einer der bedeutendsten englischen Gegenwartsautoren. Er ist der Verfasser von zahlreichen Romanen, Sachbüchern und Kurzgeschichtensammlungen. Martin Amis lebt in New York.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2005

Familiengeschäfte
Sein Leben als Sohn: Rasante Reflexionen von Martin Amis

Literatur ist kein Familiengeschäft, das vom Vater auf den Sohn übergeht. Das Schriftstellergen mag noch vererbt werden, die dazugehörige Zähigkeit wird es meistens nicht. Autorensippen sind die große Ausnahme. Während wir seit der Demise der Manns in Deutschland keine literarischen Royals mehr haben, gab es jenseits des Ärmelkanals immerhin die Dynastien der Brontës, der Rossettis und der Trollopes, und auch die Mitford-Schwestern verband ein Talent zur pointierten Replik. Arbeitsgemeinschaften zwischen Eheleuten sind dennoch geläufiger, man denke nur an Sylvia Plath und Ted Hughes, Iris Murdoch und John Bayley, Claire Tomalin und Michael Frayn oder an Antonia Fraser und Harold Pinter. Doch was sind solche freiwilligen Allianzen gegen die geniale, äußerst rare Genealogie von Vater und Sohn?

Amis père et fils sind innerhalb der englischen Literatur ein einzigartiger Fall, nicht nur, was den Rang, sondern auch, was die Ausdauer angeht; weit abgeschlagen liegen Evelyn und Auberon Waugh. Kingsley und Martin Amis haben zusammen mehr als dreißig Romane und ein halbes Dutzend Bände mit Erzählungen veröffentlicht, flankiert von Hunderten von Rezensionen, Aufsätzen und Artikeln. Martin Amis ist sich dieser Sonderstellung stets bewußt gewesen - und hat sie augenzwinkernd pariert: Wenn Namedropping zu seinen schlechten Angewohnheiten gehöre, so liege das daran, daß er ihr eigentlich schon gefrönt habe, als er zum ersten Mal "Dad" sagte.

Den mächtigen Schatten des Vaters, der von Anfang an dafür sorgte, daß Martin Amis' Werke besonders gründlich gelesen wurden, empfand er nicht als Bedrohung, sondern als eine Art Schutz - zumal sich Amis senior und junior in literarischer Hinsicht stets eher einig waren als in parteipolitischer, wo Kingley sich als ein Mann erwies, "der geradezu süchtig danach war, unattraktive Ansichten zu unterstützen". In der Hauptdisziplin jedoch war der Wettstreit nicht erbittert, sondern spielerisch, man spornte sich gegenseitig an - naturgemäß ohne falsche Zimperlichkeit.

Die legendär sardonische Ader Kingsleys, der die Bücher seines Sohnes meist schon nach Lektüre der ersten Seiten entnervt in die Ecke feuerte, kommt in einem Brief an den Dichterfreund Philip Larkin zum Ausbruch: "Hast Du mal versucht, Clive Sinclair und Ian McEwan und Angela Carter und M**t** *m** [sic!] tatsächlich zu lesen?" Ähnlich unmißverständlich fiel seine Reaktion auf die Idee der National Portrait Gallery aus, zusammen mit seinem Sohn für ein Porträt Modell zu sitzen: "Das ist wohl der unangebrachteste und taktloseste Vorschlag, der mir je untergekommen ist. Martin ist diesbezüglich übrigens vollkommen meiner Meinung." Doch haben wir es nicht nicht mit einem Buch über den Ödipus-Komplex eines begabten Sohnes unter väterlicher Fuchtel zu tun, sondern mit einem in seiner Einzigartigkeit unendlich reizvollen, zugleich universell anwendbaren Porträt einer Vater-Sohn-Beziehung.

Nun führen Schriftsteller nicht unbedingt interessantere Leben als ihre Leser, sondern machen bekanntlich bloß mehr daraus. Nur wenige Autoren haben so viel zu erzählen wie Martin Amis, dem allein die Beziehung zu seinem Vater Stoff für mehrere Bücher bieten würde. Aber Amis junior schreibt nicht einfach über Amis senior. Er schreibt über "Hauptsachen".

Amis' Hauptsachen - das sind seine beiden Frauen, Antonia Phillips und Isabel Fonseca, seine Kinder (beim Stand des Buches zwei Söhne und zwei Töchter, inzwischen ist eine weitere Tochter hinzugekommen), der väterliche Freund Saul Bellow und Lucy Partington. Zur Annäherung an die Hauptpersonen und -ereignisse seines Lebens nimmt Amis lauter Nebenwege. Auf verschlungenen chronologischen Pfaden führt er den Leser ins Epizentrum seines Bewußtsein: 1995, das Jahr der Katastrophen, in dem der Umwandlungsprozeß unbarmherzig hereinbricht. "Zerrüttung der Ehe, Trennung von den Kindern, gesundheitliche Krise." Kurz davor die Nachricht von Lucys grausamem Ende, kurz darauf der Tod des Vaters. "Das ist, als würde man einen Teil von sich selbst verlieren", sagt der Bruder. Und Amis fügt hinzu: "Ja, genauso war es. Und daran erkennt man, daß man eine Erfahrung macht, daß man es mit einem wesentlichen Ereignis zu tun hat: wenn ein Klischee einen mit seiner ganzen ursprünglichen Macht ergreift."

Bei Amis, diesem hochreflektierten Schriftsteller, scheinen viele der Hauptsachen ein geradezu freudsches Leben im Hinterkopf zu führen, "dort, wo nichtformulierte Gedanken und stumme Ängste lagern". Hier ist der Hauptwohnsitz des schriftstellerischen Impetus, denn hier wohnen zwei Frauen, die ihn aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Ruhe kommen lassen: seine "Vermißten". Die eine ist Lucy Partington, seine Kusine, die als Studentin 1973 eines Nachts spurlos verschwand. Erst viele Jahre später erfährt die Familie, was damals geschah: Das Mädchen wurde Opfer des Serienmörders Frederick West. Daß dieser Tod die Hinterbliebenen untröstlich zurückläßt, spürt man in jedem Satz, den Amis seiner Erinnerung dazu abgerungen hat. Die andere Abwesende ist Delilah Seale, die Tochter, deren Existenz der Vater jahrelang verdrängt hatte und die doch in seinem Hinterkopf ein merkwürdiges Eigenleben gefristet haben muß, wie Amis glaubwürdig versichert. Als sie mit achtzehn endlich leibhaftig in sein Leben tritt, ist die Liebe jedenfalls unmittelbar, gegenseitig und selbstverständlich.

Auch Gesundheit ist eine Hauptsache - oder vielmehr ihre Abwesenheit. Amis' ganze diesbezügliche Sorge gilt 1995 nicht nur dem schwerkranken Saul Bellow. Denn mit Zahnschmerz ist völlig unzureichend bezeichnet, was ein fachkundiger Blick in die Mundhöhle ihm eröffnet: ",Die oberen sind kaputt. Die unteren sind auch nicht gut. Und schauen Sie.' Wir starrten die Mondlandschaft des Röntgenbildes an. ,Es kann Ihnen beim Essen jederzeit passieren, daß Sie plötzlich Ihre Zähne in der Hand haben. Die müssen am nächsten Montag raus. Sie haben keine Wahl.'" Amis, nie ohne Ehrgeiz, zieht Trost aus der Aussicht, nun immerhin in einer Hinsicht mit Joyce und Nabokov gleichzuziehen: "Auf einem Feld sehe ich mich mit diesen Meistern auf einer Stufe. Nicht in der Kunst und nicht im Leben. In den Zähnen." Ihm werden sie alle gezogen und durch Implantate ersetzt, dann sorgt eine Zyste für neuen Ärger, und schließlich muß der Unterkiefer mit etwas tierischem Knochen ausgebessert werden. Doch Amis' Biß verliert nicht an Kraft, im Gegenteil: Die Zahnpassagen gehören zu den funkelndsten des ganzen Buchs.

Überhaupt liest sich Amis am besten, wenn er nicht gerade vor Liebe überströmt oder Selbstzweifel anklingen läßt. Empörung, Besserwisserei und Eitelkeit stehen ihm dank Selbstironie und Stilwillen mit Fünfzig so gut wie in den sechziger Jahren Samtjackett und fettige Matte. Seine Erinnerungen sind gespickt mit Schmähungen, kleinen Bosheiten und koketten Seitenhieben. Triefend vor Sarkasmus ist manche Bemerkung gegen die Presse, nachsichtiger Spott begleitet seine Erinnerungen an die eigene halbstarke Schul- und Studienzeit, aufrichtige Bitterkeit die Schilderung vom Ende der Freundschaft zu Julian Barnes; fair, doch deutlich, zeigt er seine Enttäuschung über Eric Jacobs, den Biographen seines Vaters: Glänzende Unterhaltung auf stilistisch durchweg höchstem und menschlich bisweilen mittlerem, also unterhaltsamstem Niveau. Was sein Schürzenjägertum angeht, so werden zwar viele Namen genannt, doch keine Details: Nicht jede Liebe ist eine Hauptsache, und nicht alle Hauptsachen sind salonfähig.

Andere würden in solchen Erinnerungen schwelgen wie die Katze im Sahnetopf. Nicht so Amis. Die Erfahrung - "Experience" lautet der Originaltitel - trat im Dezember 1973 in sein Leben, als seine Kusine verschwand und er zum ersten Mal "wirklich große Angst" erlebte. Es gefiel ihm nicht. Denn "dieses Ereignis hat mir auf lange Sicht gezeigt, daß selbst die Literatur nicht beherrschbar ist". Doch die verzweifelte Einsicht, daß selbst der gottgleiche Autor das Leben nicht in der Hand hat, tut ihm gut: Sie macht demütig. Und so verliert die Eloquenz, mit der Amis die Hauptsachen beschreibt, durch den Schmerz wahrer Empfindung jeglichen Hauch triumphaler Aufgeblasenheit. Mit dem offenherzigsten seiner Bücher hat er schließlich ein Werk über die Kunst der Zurückhaltung geschrieben - und den Verzicht darauf im richtigen Moment. Das zeigt sich vor allem in den anrührenden Passagen über das Siechtum seines Vaters und in dem Brief an seine Tante, der den Band beschließt: Miggy Partington war argwöhnisch, als sie erfuhr, daß ihr Neffe über Lucys Tod schreiben wollte. Ihre Sorge war unbegründet.

So quintessentially English sich dieses Buch auch für deutsche Leser zunächst ausnehmen mag, so muß man doch weder ein Faible für die angelsächsische Spezialität eines durch brachialen Humor auf ein verträgliches Maß gestutzten Selbsthasses haben noch sich brennend für die englische Literatur oder gar für die Amises interessieren, um daran Gefallen zu finden - wenngleich eine geneigte Disposition natürlich nicht schadet. Doch Hauptsachen haben es an sich, daß sie niemanden verschonen. Manchem lassen sie nur etwas länger Zeit, bevor sie ihn heimsuchen. Im Entstehungsjahr dieses Buches, 1999, erleben wir einen Martin Amis, der in mehrfacher Hinsicht in der Mitte angekommen ist: zwischen Freunden, Frauen, Müttern, Vätern, zwischen Liebe und Tod, dem Alter und den eigenen Kindern. Grund dafür, daß diese Mitte trotz schlimmer Bewährungsproben und manch gegenteiliger Behauptung nichts Krisenhaftes hat, ist wohl jene dritte Abwesende, der das Buch gewidmet ist: Isabel Fonseca, seine zweite Frau. Ehen, wie Scheidungen, sind eindeutig Hauptsachen. Aber sie gehören einem nicht allein. Amis ist wohltuend diskret, was das Scheitern seiner ersten Ehe angeht, und auch der Zusammenbruch der Ehe zwischen seinem Vater und der Schriftstellerin Elizabeth Jane Howard wird nur insofern thematisiert, als daß Kingsley sich davon nie mehr erholt.

Amis weigert sich konsequent, "die" Geschichte seines Lebens zu erzählen. Indem er Puzzleteile hervorholt, betrachtet und liebevoll ausbreitet, überläßt er es dem Leser, sich selbst ein Bild zu machen. Er wollte keine Rechenschaft ablegen; es sind nicht Fragen von Moral und Charakter, die sein Buch vorantreiben, sondern es ist der Entschluß, sich der unerhörten Formlosigkeit des Lebens nicht kampflos zu ergeben.

"Die Hauptsachen" sind die rasante Reflexion eines Schriftstellers über den Zustand des menschlichen Geistes, die Wiedergutmachung eines Vaters an seinen Kindern und das Gedenken eines Sohnes an den Vater. Amis, auch hier selbstvergnügt in der Rolle des literarisch-genetischen Sonderfalls, sagt, er habe es als seine Pflicht empfunden, "unseren Fall darzustellen". Das tut er mit der sprachlichen Energie und Virtuosität eines Nabokov, dessen Vorbild auch die ausführlichen Fußnoten geschuldet sind (ein Lob dem Übersetzer Werner Schmitz), der galgenhumorigen Unerbittlichkeit eines Kingsley Amis und der intellektuellen Neugierde eines Saul Bellow, mitunter auch mit der mimosenhaften Empfindlichkeit, wie ein Canetti sie an den Tag legte. "Die Hauptsachen" sind eine Hauptlektüre.

Martin Amis: "Die Hauptsachen". Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München 2005. 455 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2005

Der unwiderstehliche Sanguiniker
„Die Hauptsachen”: Martin Amis hat seiner Familie und seinen Freunden ein hinreißendes Denkmal gesetzt
Dieses Buch handelt vom Herzen. Davon, dass alles, was wirklich zählt im Leben, durch dieses metaphorische Organ muss. Zugegeben, eine Wahrheit, um die sich schon schlechtere und sehr oft die schlechtesten Bücher bemüht haben. Dieses aber ist an keiner Stelle sentimental. Dazu ist es viel zu beweglich, boshaft und intelligent. Das Herz ist deshalb das Zentralorgan des Lebens, weil es uns in seinen stärksten Momenten mit anderen Menschen in einer Weise verbindet, die sich unserer Kontrolle entzieht. Diese Hilflosigkeit des Herzens ist die einzige Ohnmacht, der wir uns freiwillig ausliefern, weil sie uns in Wahrheit nicht schwächt, sondern stärker mit dem Leben verbindet. Deshalb handelt dieses Buch von Söhnen und Töchtern, Vätern und Müttern, von Frauen und Freunden (ungefähr in dieser Reihenfolge).
Dem Herzen allerdings - sonst wäre das Ganze vollkommen uninteressant für den Leser - folgt dicht auf den Fersen der Verstand. Er hat einerseits genug damit zu tun, die wunderlichen Manöver des Herzens zu beobachten und zu analysieren, ihnen Tiefe und Witz zu verleihen, andererseits können sich seine Erkenntnisse ihrerseits in beherrschende Empfindungen umwandeln: Der Stoffwechsel geht in beide Richtungen. Der Verstand ist deshalb nicht einfach schlauer als das Herz, er liefert zuallererst das Reflexionsniveau, auf dem die Gefühle ihre königliche Souveränität voll ausspielen können. Auch Emotionen sind eine Frage des Niveaus.
Unschuld und Erfahrung
Das, wodurch sich ein Leben am stärksten seiner selbst bewusst wird, worin sich seine Verwundbarkeit wie seine Kostbarkeit am vorbehaltlosesten zeigen, das sind „die Hauptsachen”. Um diese Hauptsachen geht es in Martin Amis’ autobiografischem Buch, das deshalb in seiner deutschen Fassung auch genau so heißt. Das englische Original trägt den Titel „Experience”. Auch das passt: Denn dieses Buch beschreibt Leben als die kontinuierliche Verwandlung von Unschuld in Erfahrung. Ein Prozess, an dessen Anfang die Geburt und an dessen Ende der Tod steht. Beiden Markierungen widmet Amis anrührende Seiten. Weder widerlegt die Erfahrung die Unschuld, noch denunziert die Unschuld die Erfahrung. Amis Buch preist die Unschuld und saugt Honig aus der Erfahrung.
Martin Amis, geboren 1949, ist der Sohn von Kingsley Amis, dem in Großbritannien sehr berühmten Schriftsteller, dessen sagenhaft komische Romane, die „britisch” zu nennen wir nicht umhin können, in Deutschland leider nahezu unbekannt sind. Der Echoraum für „Die Hauptsachen” ist deshalb in Amis’ Heimat ein völlig anderer als hier - dort ist das Buch, das herrlich viel Klatsch, Tratsch und Insider-Anspielungen enthält, auch ein voyeuristischer Leckerbissen: der Blick durchs Schlüsselloch auf eine berühmte Schriftstellerdynastie. Amis, der von Salman Rushdie über Iris Murdoch bis V.S. Naipaul und Saul Bellow alles, was in der internationalen Welt der Literatur Rang und Namen hat, zu seinem Freundeskreis zählt, erliegt denn auch hingebungsvoll dem Laster des Namedroppings. Das ist ihm bewusst. Er hat auch eine Entschuldigung dafür parat: Dem Namedropping, schreibt er, „fröne ich in gewisser Weise schon, seit ich zum ersten Mal ,Dad‘ gesagt habe.”
Das Wort „Dad” taucht in den „Hauptsachen” ständig auf. Mal ist damit Kingsley, dann wieder Martin, selbst mehrfacher Vater, gemeint. Der Klang dieser Silbe strahlt Zufriedenheit, Heiterkeit und Weltvertrauen aus. Das Wort steht aber auch für einen bestimmten Humor, der diese Familie über die Generationen und die teilweise erheblichen ideologischen Gräben hinweg zusammenhält. „Wenn er”, schreibt Martin über den Vater, „einen zum Lachen brachte, konnte es passieren, dass man - nicht unablässig, aber immer wieder - für den Rest seines Lebens darüber lachen musste.”
Dabei pflegen sie eine ziemliche offene Aussprache, denn nicht selten ist der Sohn nichts weniger als entgeistert, ja entsetzt über die ein oder andere Ansicht, die der Vater genüsslich zum Besten gibt. Der ist nämlich ein regelrechter Reaktionär undweist eine intellektuelle Physiognomie auf, die unsere Gegenwart so nicht mehr kennt: eine reaktionäre Einstellung als hochgradig gewitzte, vollkommen unkonventionelle Lebensform, die sich durch coole und gebildete Schlagfertigkeit auszeichnet. Kingsleys Humor ist boshaft, elegant, misanthropisch und frei von jeder Prüderie oder Spießigkeit.
Wenn der Sohn dem Vater erzählt, er schreibe gerade einen Aufsatz über Nuklearwaffen, antwortet dieser vollkommen sardonisch: „Aha. Ich nehme an, du bist . . . ,dagegen‘, stimmt’s?” Eine gewisse Misogynie gehört auch dazu. Und was Kingsley über Nelson Mandela denkt, wird zwar nicht ausdrücklich verraten, es muss aber in jedem Fall so monströs sein, dass der Sohn ihm versichert: „Mit deinen Ansichten würdest du sogar aus einer Kneipe fliegen, die sich Kaffernschinder nennt.” Man muss aus einem solchen Satz beides heraushören: Dass Martin ernst in seiner Entrüstung ist und doch voller liebevoller Anhänglichkeit - dann hat man etwas von dieser Vater-Sohn-Beziehung verstanden. Kingsley war „ein Mann, der geradezu süchtig danach war, unattraktive Ansichten zu unterstützen.” Und manchmal fallen seine Ketzereien eben etwas grob aus.
Der Vater ist ständig präsent - auch durch Zitate aus seinen Büchern. Denn „Die Hauptsachen” ist ein Buch, das das glücklich gewählte Zitat als eine hohe Form ausweist, einem anderen (Autor) seine Zuneigung auszudrücken. Es ist ein Buch aus Parenthesen, Klammern und immer wieder auf jeder Seite überhand nehmenden Fußnoten - und in diesem Dickicht der zügellosen Abschweifungen geben sich alle literarischen Hausgötter von Martin (neben seinem Vater vor allem Nabokov, Borges und Saul Bellow) ein fröhliches Stelldichein.
„John Travolta”, heißt es einmal, „ist einer der vernünftigsten Menschen, die ich kenne. Er vergeudet keine Zeit damit, so zu tun, als sei er kein Filmstar.” Auch Martin Amis gibt sich keine große Mühe zu verstecken, dass er ein Star der literarischen Szene ist. Das heißt aber auch, dass die Lektüre für jemanden, der nicht zur intellektuellen Schickeria Großbritanniens gehört, ein wenig so ist, wie wenn man mit ziemlicher Verspätung zu einer bereits kräftig angeheiterten Gesellschaft stößt: Man hat die Vorstellungsrunde verpasst, weiß also nicht immer, wer gerade spricht und überhaupt wer mit wem - aber die Stimmung ist bestens, und man muss sich einfach fallen lassen. Dieses Buch, das keine Chronologie kennt und zu Recht mit einem Namensregister endet, mag einem tieferen Bauplan folgen: Der müsste dann aber von einer Raffinesse sein, die der Leser, überrumpelt von der Brillanz jeder einzelnen Szene, vor Rührung und Lachen einfach nicht in den Blick bekommt.
Sonniger Leichtmatrose
Zu den Hauptsachen gehören: Geburten, Lieben, Scheidungen, Freundschaften und Todesfälle. Die eigentliche Zeit der Hauptsachen für Martin Amis sind die Jahre 1994/95. Das ist das Ende der Unschuld. Wie eine Schockwelle erfasst ihn die Erfahrung. Er erfährt, dass seine über alles geliebte Cousine Lucy Partington, die 1973 im Alter von 21 Jahren spurlos verschwand, das Opfer von Englands viehischstem Massenmörder, Frederick West, geworden ist. Die Freundschaft zu Julian Barnes zerbricht. Martin verlässt seine erste Frau und die zwei Söhne. Kingsley stirbt. Martins Kiefer muss durch ein künstliches Gebiss ersetzt werden (diese Höllenpein wird vielleicht ein wenig zu ausführlich beschrieben). Und er erfährt, dass er eine zwanzigjährige Tochter hat. Der sonnige Leichtmatrose bekommt für seine Verhältnisse kräftig eingeschenkt. Aber jetzt erst ist er ganz im Leben angekommen.
Vielleicht ist der zentrale Gefühlsmotor, der dieses Buch hervorgebracht hat, Amis’ Angst, es könne sich jemand von ihm abwenden. Die einzigen Seiten, die mit Groll geschrieben sind, handeln vom Ende der Freundschaft zu Julian Barnes. Nichts trifft ihn stärker als der Moment im Krankenhaus, wenn der an Alzheimer erkrankte Kingsley ihm auf seinem Krankenlager den Rücken zukehrt. Und selbst bei seiner kleinen Tochter, „die sich zum erstenmal im Leben um die eigene Achse dreht und sich von mir abwendet”, kommt leichte Panik auf. Vielleicht ist das Buch Martin Amis’ Versuch, gegen die Zentrifugalkräfte des Lebens seine Welt zusammenzuhalten. Es ist auch ein kleines Denkmal der Treue und der Anhänglichkeit für seinen Freund Christopher Hitchens. Philosophie, wird einmal Sokrates zitiert, sei der Versuch, „sterben zu lernen”. Abschied zu nehmen dürfte dem überschäumenden Sanguiniker Amis besonders schwer fallen.
IJOMA MANGOLD
MARTIN AMIS: Die Hauptsachen. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München 2005. 455 Seiten, 24,90 Euro.
Oben: Martin Amis mit seinem Vater und dessen zweiter Frau. Unten (im Bild rechts) mit seinen Eltern und den Geschwistern.
Fotos: Hanser Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Vor allem die Diskretion hat es Hubert Winkels angetan, die der Brite Martin Amis für seine Skandalchronik der Familie an den Tag gelegt habe. Obwohl und gerade weil der Sohn des Schriftstellers Kingsley Amis sich von Haus aus, in naturgegebener Konkurrenz, gegen den Vater zu behaupten hatte, und sowohl Vater als auch Sohn für nicht eben unbeschriebene Blätter in der britischen Yellow-Press bekannt seien, gelinge dem Autor ein bemerkenswerter Spagat zwischen Literatur und Leben. Als "eigentümliche Mischung aus Erinnerungsbruchstücken und Familien- respektive Vaterroman" sei das Buch zu lesen, dessen "viele Neben und wenige Hauptsachen" dann doch eine Einheit zu bilden imstande seien. Im stetigen Wechsel zwischen der Familie des Sohnes und der des Vaters bildeten sich zwei dramaturgische Hauptstränge heraus, die schließlich im Jahr 1995 als Annus horribilis mit dem Tod des Vaters und der Scheidung des Sohnes kulminierten. "Diskretion als Stilprinzip" sei wider Erwarten dem "literarischen Popstar Martin Amis" zu bescheinigen, so der Rezensent.

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