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Eine winzige Insel im Ozean als Brennpunkt der Sehnsucht von vier Menschen: drei Männer und eine Frau, deren Leben und Liebesgeschichten bestimmt werden von dem entlegensten Ort der Welt. Noomi Morholt, südafrikanische Wissenschaftlerin, Edwin Heron Dodgson, Priester und Bruder des berühmten Lewis Carroll; Christian Reval, Kartograph, und Mark Thompson, Briefmarkensammler: ein großer, vieldimensionaler Roman, eine zeitlose Geschichte unstillbarer Passionen und Obsessionen. Der Roman der Sehnsucht.

Produktbeschreibung
Eine winzige Insel im Ozean als Brennpunkt der Sehnsucht von vier Menschen: drei Männer und eine Frau, deren Leben und Liebesgeschichten bestimmt werden von dem entlegensten Ort der Welt.
Noomi Morholt, südafrikanische Wissenschaftlerin, Edwin Heron Dodgson, Priester und Bruder des berühmten Lewis Carroll; Christian Reval, Kartograph, und Mark Thompson, Briefmarkensammler: ein großer, vieldimensionaler Roman, eine zeitlose Geschichte unstillbarer Passionen und Obsessionen.
Der Roman der Sehnsucht.
Autorenporträt
Schrott, Raoul
Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt u.a. Homers Heimat (2008) und seine Übertragung der Ilias (2008), Gehirn und Gedicht (2011, gemeinsam mit dem Hirnforscher Arthur Jacobs), die Erzählung Das schweigende Kind (2012), die Übersetzung von Hesiods Theogonie (2014), der Gedichtband Die Kunst an nichts zu glauben (2015) sowie Erste Erde (Epos, 2016), Politiken & Ideen (Essays, 2018) und Eine Geschichte des Windes oder Von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal (Roman, 2019). Raoul Schrott arbeitet außerdem mit Unterstützung der Bundeskulturstiftung am Projekt Atlas der Sternenhimmel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Willst du meine Briefmarkensammlung sehen, Marah?
Der gehörnte Philatelist: Raoul Schrott schifft sich mit Tristan und Isolde in den Südatlantik ein und findet eine Utopie / Von Tilman Spreckelsen

Eigentlich hätte Noomi Morholt die Finger von der Bücherkiste lassen sollen, die irrtümlich in die Polarstation gelangt ist. Doch die Wissenschaftlerin, die zusammen mit neun Männern ein Jahr in der Antarktis verbringt, kann nicht widerstehen. Das Konvolut, das für ein geplantes Museum bestimmt ist, enthält dreizehn Bücher über die Atlantikinsel Tristan da Cunha, ferner ein paar Bände aus dem Privatbesitz des künftigen Kustoden und schließlich die handschriftlichen Aufzeichnungen dreier Männer über einen Zeitraum von neunzig Jahren. "Eine seltsame Auswahl", kommentiert Noomi ihren Fund, "aber von der Bibliothek von Alexandria ist auch nicht mehr übriggeblieben - und vielleicht ließe sich anhand ihrer ebenfalls eine ganze Welt rekonstruieren."

Natürlich wird das so deutlich markierte Vorhaben unmittelbar darauf in Angriff genommen. An dieser Stelle, nach kaum zwanzig Druckseiten, legt Raoul Schrotts üppiger Roman "Tristan da Cunha" bereits die Bedingungen offen, denen er seine Gestalt verdankt. Denn die Welt, die er so ausdauernd wie facettenreich nachzeichnet, ist das kreisrunde, karge und ständig sturmzerzauste Eiland im Nirgendwo des Südatlantik, das 1506 entdeckt und von 1816 an dauerhaft besiedelt wurde. Die Handbibliothek aus der fehlgeleiteten Bücherkiste liefert den Rohstoff zum Roman: Siedlungsgeschichte, Klima, Erfahrungsberichte von Seefahrern, Flora und Fauna, Naturbeobachtungen wie etwa die Schilderung des bislang letzten Vulkanausbruchs auf der Insel im Jahr 1961, der zu einem zweijährigen Exil der knapp 270 Bewohner in England führte, bis sie wieder in ihre unwirtliche Heimat zurückkehren konnten - ganz gegen den Willen der britischen Behörden, die das Eiland am liebsten menschenleer gesehen hätten.

Mit den drei Manuskripten enthält die Bücherkiste aber gleichzeitig auch schon den größten Teil des beginnenden Romans: die Berichte dreier Männer, die der Insel auf unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichen Zeiten verfallen sind, die sie aufsuchen, um auf ihr zu wohnen, die sie vermessen oder lediglich aus der Ferne erforschen. Wesentlich versteckter ist schließlich der Zusammenhang, den die "seltsame Auswahl" der übrigen Bücher aus dieser Kiste mit Schrotts Roman aufweisen: Lewis Carroll, Darwin, Dante und "ein Handbuch zum Gebrauch für Priester", ein brasilianischer Roman und vor allem das Epos von Tristan und Isolde. Dabei ist dieses scheinbar abseitige Konvolut das missing link zwischen den beiden anderen. Es spannt den Bezugsrahmen auf, vor dessen Hintergrund die Inselgeschichte erzählt und in die spezifische Form der drei Manuskripte überführt wird - in der Kiste sind paradoxerweise nebeneinander Stoff, Hinweise auf die Methode und das Ergebnis der literarischen Weltrekonstruktion zu finden, von der Noomi träumt. An ihr ist es nun, dem Fund ihre eigene Geschichte an die Seite zu stellen.

Diese Konstellation ist es, die Schrotts polyperspektivische und alles andere als geradlinige Inselgeschichte von ähnlichen Versuchen unterscheidet, in einem starkleibigen Roman diachron von einer möglichst entlegenen Region zu berichten. Seine vier Erzähler - neben Noomi sind das ein Pfarrer, den es 1881 bis 1886 auf Tristan da Cunha verschlägt, ein Funker, der hier seine große Liebe findet und wieder verliert, ein Briefmarkensammler, der eine philatelistisch inspirierte Geschichte der Insel verfaßt - steuern einen jeweils eigenen Blickwinkel, Sprachstil und Hintergrund bei. Und weil die Konvolute in einzelne Abschnitte aufgelöst und munter gemischt dargeboten werden, ist oft die assoziative Verknüpfung dieser Teile von hohem Reiz, die unterschwelligen Signale, die das Journal Revals mit den Briefen Dogdsons, der Studie Thomsens und Notizen Noomi Morholts in Bezug setzen, gerade wenn sich Sprache und Stil der Manuskripte so auffällig voneinander unterscheiden.

Da ist der ängstlich eingefärbte religiöse Überschwang des Pfarrers Edwin Heron Dodgson, der in Briefen an seinen Bruder Lewis Carroll von seinen Kämpfen um einen Kirchenbau und seiner Verstrickung in eine Liebesgeschichte mit einer mystischen Schwärmerin berichtet, die schließlich sogar in den Todessturz eines Rivalen mündet (das "Handbuch zum Gebrauch für Priester" wird sich für die Schilderung der Zeremonien als nützlich erwiesen haben). Da ist der bemüht sachliche Bericht des Abenteurers Christian Reval, der von seiner lebenslangen Liebe zur herben, nach Tristan da Cunha verheirateten Irin Marah wie mit zusammengekniffenen Zähnen erzählt und dabei seine Ratlosigkeit über den Fortgang dieser Liebe kaum zu verbergen weiß - unter den Büchern aus Noomis Kiste ist auch der hilfreiche Bericht des Funkers D. M. Booy, der wie Christian Reval während des Zweiten Weltkriegs auf der Insel stationiert war.

Und da ist die Wut und Resignation des gehörnten Philatelisten Mark Thomsen, die in seinen mit winzigen Buchstaben unter der Lupe gekritzelten Zeilen aufscheint, in denen er vom Verlust seiner Frau - auch sie heißt Marah - an einen rivalisierenden Briefmarkenhändler berichtet. Seiner unter der Fahne der Sachlichkeit segelnden Erzählung von fünfhundert Jahren tristanitischer Geschichte ist die Einfärbung durch das Selbsterlebte am deutlichsten anzumerken. Denn wenn er von Entdeckungsreisenden und Siedlern, von Hochstaplern, Soldaten, Fischern und Händlern erzählt, die sich die Insel einverleiben wollten und dabei doch viel stärker von deren Ödnis und Kargheit geprägt wurden, als sie selbst auf ihr Spuren hinterlassen konnten, entwirft er immer wieder Konstellationen, die ihm aus dem eigenen Leben vertraut sind: Die Frauen in diesen fünf Jahrhunderte umspannenden Berichten heißen sehr oft Marah, sie wenden sich von ihren Ehemännern ab, demütigen sie offen oder schleichen sich heimlich davon, sie verfallen dem rätselhaften Zauber von Fremden, neben dem die solide heimische Langeweile aufgehoben scheint.

Sosehr sich die Erzähler und die Erzählungen in diesem Roman unterscheiden, ergänzen oder widersprechen, so deutlich wird doch in diesem polyphonen Gewebe, daß sie neben der Insel, über die sie schreiben, ein Zweites teilen, das die Texte in verblüffender Weise prägt - und dadurch auch den Zusammenhalt des gesamten Romans befördert. Es ist der gelegentlich überdeutliche, oft auch versteckte Verweis auf den mittelalterlichen Tristanroman. Schrotts Erzähler sind ausnahmslos Liebende, und die Dreiecksgeschichten, in die sie geraten oder die sie beobachten, folgen zumeist dem Muster, das im "Tristan" vorgegeben ist. So liebt Christian Reval eine Frau seines Alters, die dem deutlich älteren Fischer Marcus versprochen ist und die er auf seinem Boot aus Irland auf die Atlantikinsel bringt - natürlich nehmen Christian und Marah unterwegs gemeinsam einen Trank zu sich, den ihnen Marahs Schwester bereitet hat, die zu allem Überfluß den Namen von Isoldes Amme trägt: Brangain. Es fehlt auch nicht die berühmte Belauschungsszene, in der die Liebenden eines Morgens an den Fußspuren in der Nähe ihres Lagers feststellen, daß sie von dem eifersüchtigen Ehemann beobachtet wurden - Marke heißt er bei Gottfried von Straßburg, Marcus bei Schrott. Die Zahl dieser Anklänge ist hoch, kaum eine Szene aus der Lebensgeschichte Christian Revals, die sich nicht mit der Vorlage in Beziehung setzen ließe und wo Schrott nicht mit Namensgleichheit oder wenigstens Vokalfolgen (wie in "Tristan" / "Christian") spielt, sind es Figurenkonstellationen oder Episoden, die ein Entsprechungsverhältnis eingehen.

Besonders liebevoll schmückt Schrott die "Isolde Weißhand"-Episode am Ende des Romans aus, die Geschichte jener Frau, die Tristan statt der verbotenen Geliebten heiratet - hier heißt sie Maria, ihre "schlanken weißen Finger" werden gleich mehrfach gerühmt, ihr Familienname entspricht dem von Tristans letztem Gefährten, aber Schrott erspart ihr, wie ihr literarisches Vorbild den Tod ihres Gatten herbeizuführen. Statt dessen stirbt sie mit ihm, und das berühmte Schlußbild des "Tristan", das sein Grab neben Markes Frau Isolde zeigt, wird hier entscheidend verändert: Jetzt liegt Christian Reval neben seiner Frau Maria, nicht neben Marah. Der bleibt nur, die Toten zu identifizieren.

Die Perspektive des betrogenen Dritten steuert schließlich Mark Thomsen bei, schon durch seinen Namen auf diese Rolle festgelegt, und auch die Geschichte der Insel, wie er sie niederschreibt, ist gespickt mit verborgenen Verweisen auf den mittelalterlichen Roman. All dies kann man als literarisches Puzzlespiel goutieren, als Versuch werten, der auseinanderdriftenden Erzählung von der Atlantikinsel einen nachträglichen Zusammenhang zu verschaffen. Und wer dem Gleichklang der Worte vertraut, wird Schrott auf seinen additiven Streifzügen durch die Welt- und Literaturgeschichte folgen, wird von der Markensammlung über Mark Thomsen zu König Marke, von Tristan da Cunha über Tristan den Liebenden zu Christian Reval, von Maria über Marah zur biblischen Marah gelangen, und weil die eigentlich Naemi heißt, wird er auch den Namen Noomi Morholt keineswegs weit hergeholt finden, zumal auch Morholt eine Gestalt aus dem "Tristan"-Roman ist - immer wieder scheint sich der Kreis der Anspielungen zu schließen, um sich dann doch ins Uferlose zu weiten.

Natürlich ist das oft zuviel, und wenn man im Übermaß Episoden hinehmen muß, die erkennbar um der literarischen Vorlage oder der durch das Buch mäandernden Figurennamen willen entworfen wurden, wünscht man sich statt dessen ein bißchen mehr von jenen großartigen Naturschilderungen, den regenfeuchten Wanderungen, den Besuchen auf den Vogelklippen oder in den klammen Steinhäusern der Inselbewohner, die Raoul Schrott immer wieder mit überzeugender Hingabe entwirft.

Und auch seine Deutung Tristan da Cunhas als Ort, an dem sich Utopien ansiedeln und sogar kurzzeitig leben lassen, bis umgekehrt aus der Warte der Insulaner die übrige Welt als staunenswerte Utopie erscheint, ist evident. Denn die große Faszination, die Tristan da Cunha als Sehnsuchtsort in der Literatur besitzt (und die so merkwürdig an den tatsächlichen Lebensbedingungen der Vulkaninsel vorbeigeht), hat eine lange Tradition - schon Johann Gottfried Schnabel hat im frühen achtzehnten Jahrhundert seine Fabel von der Insel Felsenburg dort angesiedelt, wie Arno Schmidt herausgefunden hat. Der zivilisationsmüde Schmidt beließ es allerdings nicht dabei: "Müßte man nicht mir, der ich diese fremdeste aller Inseln als eine nunmehr hochinteressant=besungene nachwies, eine Siedlerstelle dortselbst vergönnen=zuweisen? Dicht neben der kleinen Funkstation, so twenty acres, und ein Wellblechhüttchen von 50 Quadratmetern? Überfahrt bezahle=pumpe ich selbst:?!" Vermutlich hätte er sich schon bald das Geld für die Rückreise beschaffen müssen. Daß die Insel ein Ort der Literatur ist, macht Schrott eindringlich klar. Daß sie nicht unbedingt ein Ort zum Leben ist, allerdings auch.

Raoul Schrott: "Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Welt." Roman. Hanser Verlag, München 2003. 720 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.08.2003

Und ich, ich sah die Augen dieser Kreatur
Mit angehaltenem Atem zu lesen: Heute erscheint Raoul Schrotts Roman „Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde”
Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Nicht viel. Für einen Angehörigen der westlichen Zivilisation des 21. Jahrhunderts tut es da zum Beispiel im allgemeinen eine exotische Insel in seinen Wunschträumen. Diese aber nennt der wache Verstand „eskapistisch”. Eskapaden sind Fluchtversuche, und mit solchem Bescheid sind jene Träume für den realistischen Verstand erledigt. Noch realistischer wäre es freilich zu erkennen, in welchem Maße Flucht kein absonderlicher Ausnahmezustand des Lebens ist, sondern seine Normalbefindlichkeit. Leben selber ist Flucht: vor Krankheit, Alter, Tod. Nicht zwischen Realitätssinn und Flucht verläuft die Scheidelinie, sondern zwischen gelingender und misslingender Flucht.
Was der Traum derer, die reif für die Insel sind, von ihr ersehnt, ist nicht einfach Natur. Ihre Attribute sind vielmehr unverdaute Kultur; der Geist, der aufs Exotische anspringt und den Buchverlagen Gewähr bietet für den Absatz des jeweils letzten Schmarrens über Atlantis, ist der der Halbbildung. Dies hat Raoul Schrott in seinem neuen Roman „Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde” aufs Genaueste erfasst, und so ist ihm in dem Buch, unter anderem, aber vielleicht nicht zuletzt, eine literarische Phänomenologie der Halbbildung geglückt, die seit Flauberts „Bouvard et Pécuchet” ihresgleichen nicht hat. Muss man sagen, dass eine Phänomenologie der Halbbildung keine halbgebildete Phänomenologie sein darf? Sie hat das Gegenteil zu sein: Sie kennt ihr Objekt, weil sie sich über es erhebt.
Mehrere Figuren in „Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde” haben an Halbbildung Teil, doch ihr reinster Protagonist ist der Briefmarkensammler Mark Thomsen. Ob er nun einen aufgeschnappten Satz Jean-Jacques Rousseaus einem Holländer des frühen 16. Jahrhunderts zuschreibt, Omar Khayyam, den Autor der „Rubayyat”, mit Saadi, dem Autor des „Gulistan” durcheinanderwirft, oder missratene Fremdwörter wie „Sklavokratie” bildet: was ihm unterläuft, sind nicht individuelle Irrtümer, wie sie jedem einmal passieren, es manifestiert vielmehr jenes beliebige Aufschnappen und Assoziieren von Kulturgut, welche der Ausdruck Halbbildung trifft, ein Bewusstsein, das von primärer Erfahrung mit Kunst und Denken abgeschnitten ist.
Die Tünche der Sehnsucht
Nicht um ihrer selbst willen berührt dies Buch die Halbbildung, sondern als Teil einer Pathologie des Fernwehs. Dessen Gegenstand im Roman benennt der Titel. Tristan da Cunha ist eine Inselgruppe im Südatlantik. Neben der gleichnamigen, von rund 200 Menschen bewohnten Hauptinsel gehören zu ihr die kleinen, unbewohnten Inseln Inaccessible und Nightingale. Die Inselgruppe war 1506 durch den portugiesischen Admiral Tristão da Cunha entdeckt worden, wurde 1816 von britischen Truppen besetzt und ist seit 1938 der Kronkolonie St. Helena angegliedert.
In vier Perspektiven bricht Schrott den Blick auf Tristan da Cunha: neben der des Philatelisten in denjenigen des anglikanischen Priesters Edward Heron Dodgson, Bruder Lewis Carrolls, des Kartographen und Funkers Christian Reval und der Forscherin Noomi Morholt, die 2002/03 zwölf Monate in der Antarktis verbringt und dabei auf die Briefe und Aufzeichnungen der anderen Figuren stößt: sie waren für das Museum auf Tristan da Cunha bestimmt, doch sind irrtümlich an ihre Forschungsstation geleitet worden. An diesen Gestalten und denen, die ihnen begegnen, entfaltet Schrott mit bestürzender Konsequenz seine Pathologie des Fernwehs.
Nicht ein Zustand vor oder jenseits aller Zivilisation wird in der Ferne erreicht, sondern ein verwahrloster Zustand der Zivilisation, von dem aus Normalität, Kaffeehaus und Tünche unerwartet zu Gegenständen verzehrender Sehnsucht aufrücken. Die Charaktere des Buches müssen die Erfahrung machen, dass das, zu dem man flieht, zuweilen fürchterlicher ist, als das, vor dem man geflohen ist. Die innere Ruhe ist nicht zu finden, das Paradies am Ende der Welt bald unerträglich.
Der ingeniösen Konstruktion dieser Chronik menschlicher Enttäuschungen an die Seite tritt in Schrotts Roman eine Kraft der Sprache, von der nicht leicht ein Begriff sich geben lässt. Es erscheinen Passagen, die man nicht anders als mit angehaltenem Atem zu lesen vermag, Sätze, die einem tagelang nachgehen. Nur exemplarisch lässt sich eine Idee davon vermitteln, was dem Autor gelingt – so misslich solches Vorgehen im übrigen ist, weil andere Stellen so durchaus anders wären. Von seiner Überfahrt nach Tristan schreibt Dodgson:
Ich war noch nicht lange von meinem Wechselfieber genesen, und der zwei Tage nach St. Helena einsetzende Sturm ließ mich leiden, überaus, doch um wieviel mehr noch die Stute, die im offenen Teil des Frachtraums in einen engen Verschlag gezwängt war, ihr Kopf über dem Verdeck. Sie machte jedes Schlingern und Stampfen des Schiffes mit, war in ihm befangen, anders als ich, der ich mich am Mast festklammern konnte. Das Pferd wehrte sich nicht, es wieherte auch nicht, obwohl ihm die Bretter in die Flanken drückten, schnaubte nur, wenn sich eine See über es ergoß, und versuchte, den Kopf aufzuwerfen, der im seitlich festgezurrten Geschirr steckte. Der braune Kopf und seine Blesse auf der Stirn, sie erschienen mir wie eine Bake in diesem Meer, als wäre in diesem Haltlosen gleichsam eine Mitte, die bis in die Tiefe reichte und unser Schiff hielt, unverrückbar an einer Stelle; als schlügen die Wellen über ihm zusammen, ohne daß es noch Fahrt machte, wie über einer Boje an ihrer Kette, die auf und ab schwojt, ohne aus ihrer Verankerung gerissen zu werden. Die Gischt stob über die Reling, der Schädel riß an seinen Fesseln, Schaum vor dem Mund; und ich, ich sah die Augen dieser Kreatur, ihre braunen, vollen Augen, für die alles noch größer erscheinen mußte als für uns Menschen, sah die Augen langsam sich verkehren, sich in ihren Höhlen drehen, bis das blinde Weiß des Augapfels zum Vorschein kam, sie schauten nach innen, in das Schwarz des Schädels; der Kopf des Pferdes zitterte, die Muskeln zitterten und verkrampften sich, das Maul war weit aufgerissen, der Strick schnitt hart in die Lippen ein, die Nüstern bebten, Adern dick geschwollen unter der Haut, die Mähne strähnig vor Wasser.
Hier ist alles genau beobachtet und dann doch die genaue Beobachtung noch unter sich lassend formuliert, zumal in der kühnen Paradoxie, in der gerade die ihren Halt verlierende Kreatur dem Beobachter zum letzten Halt wird. Äußerste Konzentration aufs Reale schlägt um ins Surreale. In der verzweifelten Anstrengung, mit dem Blick von außen ins Innere zu dringen, gewinnt Schrotts Sprache hier und immer wieder geradezu körperliche Gewalt. Was sich in dem Buch durchhält, ist indes nur die Gewissenhaftigkeit, mit der jedes einzelne Wort, noch das geringfügigste, gesetzt ist, keineswegs die Tonlage, die Schrott vielmehr aufs reichste zu nuancieren weiß; wäre Raum dafür, man müsste, um das Spektrum des Ausdrucks zu markieren, etwa die von Ironie funkelnde Schilderung der Auftritte des Kronprätendenten der Inselgruppe, Jonathan Lambert, beim amerikanischen Botschafter in Rio de Janeiro zitieren. Im einen wie im anderen Ton: Raoul Schrott erreicht in seinen besten Augenblicken – es sind nicht wenige – eine Art selbstvergessenen Erzählens, das ganz bei seinem Gegenstand und gar nicht bei den Eitelkeiten, bloßen Absichten und möglichen Botschaften des Autors ist.
Der Engel des Schmocks
Es wäre schön, ließe sich damit schließen. Es lässt sich nicht. Als trüge seine Erzählkunst ihren Sinn nicht in sich, will Schrott ihr schließlich doch eine höhere, das heißt tiefere Bedeutung verleihen. Bereits im Roman rührt sich einige Male des Autors Ehrgeiz, den Leser mit einer Abhandlung zur Metaphysik der Geschichte zu beglücken. Auf der Linie dieser Ambition hat Schrott der Versuchung nicht widerstehen können, auf der letzten Seite des Buches die bis zum Verschleiß deklamierte Stelle aus Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte”, jene vom Engel der Geschichte, abdrucken zu lassen. Derart positioniert wird das Renommierzitat unvermeidlich zur Moral. Über eine solche aber hatte der mehrstimmige Roman sich auf den meisten seiner vielen Seiten erhoben.
ANDREAS DORSCHEL
RAOUL SCHROTT: Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde. Carl Hanser Verlag, München 2003. 720 Seiten mit 3 Karten, 25,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

In Sebastian Handkes Rezension erfährt man mehr über die Geschichte der Insel Tristan da Cunha als über den Roman von Raoul Schrott. Wer sie - per Kanonenkugel - erstmals in Besitz nahm (ein Portugiese) und wo sie liegt (in the middle of nowhere) und manches mehr. Aus den Sätzen über den Roman selbst wird man dagegen nicht so ganz schlau. Dass es jede Menge Anspielungen auf die Tristan-Geschichte gibt, wird klar. Und dass alle Frauen Marah heißen, mehr oder weniger jedenfalls. Eher summarisch auch die Auskunft, es handle sich um ein "literarisches Puzzlespiel mit Schiffbrüchen, Totschlag und unehelichen Kindern". Wenigstens lässt Handke keinen Zweifel daran, dass ihm das Werk gefallen hat: Er nennt es nämlich "ebenso größenwahnsinnig wie großartig".

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"Der Roman "Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde" ist Weltliteratur. (...) Den Leser entlässt er mit der Gewissheit, dass heute auch in deutscher Sprache faszinierendes Erzählen möglich ist in einem großartigen Roman."
Franz Hass, Neue Zürcher Zeitung