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Produktdetails
  • Verlag: Europäische Verlagsanstalt
  • Seitenzahl: 285
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 490g
  • ISBN-13: 9783434505037
  • ISBN-10: 3434505032
  • Artikelnr.: 09834925
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2002

Spiegel der geteilten Welt
Selbstprüfung: György Dalos folgt Anton Tschechow nach Sachalin

Als Anton Tschechow im Jahre 1890 kurz nach Ostern zu seiner Reise nach Sachalin aufbrach, fragte sich die literarische Welt Rußlands, was den mittlerweile berühmten Schriftsteller wohl dorthin treibe. Zu jener Zeit war eine Reise per Eisenbahn, Schiff und Kutsche auf die über zehntausend Kilometer von Moskau entfernt liegende Insel, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf kaltem Wege dem russischen Reich einverleibt und schon bald zu einem berüchtigten Ort für Verbannung und Strafarbeit geworden war, eine überaus strapaziöse Angelegenheit. Und einige der Tschechow wohlgesinnten Kommentatoren hatten durchaus recht, als sie meinten, die Reise habe bei ihm den Ausbruch der Tuberkulose beschleunigt.

Tschechow selbst fühlte sich bemüßigt, die guten Gründe seiner Reise zu verteidigen. "Skizzen, Feuilletons, Dummheiten, Vaudevilles, langweilige Geschichten, eine Unmasse von Fehlern und Ungereimtheiten, pfundweise beschriebenes Papier, der Preis der Akademie (...) - und bei alledem keine einzige Zeile, die in meinen Augen ernsthafte literarische Bedeutung besäße. Ich möchte mich leidenschaftlich gern irgendwo für fünf Jahre verkriechen und mich mit mühevoller, ernsthafter Arbeit befassen." Und an anderer Stelle klagt er über den "Stillstand in meinem persönlichen Leben", er wolle nach Sachalin "nicht nur wegen der Sträflinge allein, sondern auch so, im allgemeinen. (...) Ich habe einen unüberwindlichen Drang zur Flucht. (...) Ich will leben, und irgendeine Kraft zieht mich irgendwohin." Das klingt nach Selbstbewährung und Flucht. Herausgekommen ist dabei Tschechows "Reise nach Sachalin", eine einzigartige, Torso gebliebene Mischung aus Naturbeschreibung, literarischer Reportage und ethnographischer Studie.

György Dalos, der in Berlin lebende ungarische Schriftsteller, hat im August des Jahrs 2000 Sachalin besucht. Tschechows Text ist ihm auch hundertzehn Jahre später "fast der einzige zuverlässige Kompaß zur Neuentdeckung der Insel Sachalin". Wie Tschechow seinerzeit hat sich auch Dalos gründlich vorbereitet. Was weiß man denn schon von Sachalin, jener rund tausend Kilometer langgestreckten und an manchen Stellen kaum dreißig Kilometer breiten Insel, die von etwa sechshunderttausend Menschen bewohnt ist, flächenmäßig so groß wie Portugal, zwischen Kamtschatka und Japan, zwischen Ochotskischem und Japanischem Meer gelegen?

Sachalin gerät in unser Blickfeld allenfalls im Zusammenhang des russisch-japanischen Streits um die südlichen Kurilen oder wenn es, wie im Jahre 1995, zu einem verheerenden Erdbeben kommt, dem damals die Erdölstadt Neftegorsk zum Opfer fiel. Dalos nimmt die Leser mit auf seine Reise ans Ende der Welt: "In diesem Buch versuche ich, auf den Spuren von Anton Tschechow, aber ohne seinen Anspruch auf Vollständigkeit gewisse Zusammenhänge der Vergangenheit und Gegenwart Sachalins nachzuzeichnen. Dabei glaube ich, daß eine solche Beschreibung mehr als nur Lokalgeschichte ist. Sachalin ist nicht nur ein Teil von Rußland, sondern bildet nahezu alle in Rußland gegebenen Bedingungen im kleinen ab. Meist sind Inseln natürliche Metaphern für das Festland, und diese ist es ganz gewiß."

Dalos und seine Begleiterin, die ungarische Journalistin Andrea Dunai, die die Bilder und Recherchen zu dem Band beigesteuert hat, haben sich gründlich vorbereitet und viel Material zusammengetragen: aus literarischen Reiseberichten, Baedekern, Lokalgeschichten, Interviews, Zeitungen und Websites. Im ersten Teil geht es um die Geschichte Sachalins seit Tschechows Reise vor über hundert Jahren. Im zweiten Teil geht es um das, was die Besucher während ihrer dreizehntägigen Visite selbst zu sehen bekommen haben. Der dritte Teil behandelt Entwicklungen nach ihrer Abreise: das Warten der Insel auf einen Besuch von Präsident Putin, den Verlauf von Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen und das Überstehen eines schweren Winters.

Es scheint, als wolle Dalos Tschechow in keiner Weise an Gründlichkeit und Informiertheit nachstehen. Er kennt die ganze Tschechow-Literatur, hat Spezialisten in Budapest und Ceylon konsultiert. Wir erfahren etwas über Flora und Fauna, die jährliche Durchschnittstemperatur und Niederschlagsmenge, über das Vorkommen von Kabeljau und Buckellachs. Aber entscheidend ist etwas anderes: Sachalin als Mikrokosmos Rußlands im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.

Das sind die Jahrzehnte der Katoga, also von Verbannung und Zwangsarbeit, der Verdrängung, ja des Aussterbens der Ureinwohner Sachalins, also der Niwchen, Nanajen, Oroken, Ainus und Ewenken. Das ist die Gewaltgeschichte der sowjetischen Modernisierung - selbst das so fern von Moskau gelegene Sachalin hat im Jahre des Großen Terrors 1937 seinen schrecklichen Tribut entrichtet -, die Geschichte der Teilung der Insel und fortgesetzter Umsiedlungen und Vertreibungen; und schließlich ist es nach dem Ende der Sowjetunion die Geschichte eines Verfalls, von dem noch nicht klar ist, ob er sich in einen neuen Aufschwung verwandeln wird.

Es stellt sich heraus, daß das "Ende der Welt" mit tausend Fäden an die Entwicklung in Europa selbst gebunden ist: Jede Revolution spült neue Verbannte auf die Insel. Ihnen verdankt die Insel in vielem ihre Kultur. Der Verbannte Bronislaw Pilsudski etwa, Bruder des polnischen Ministerpräsidenten Jozef Pilsudski, sammelte Märchen, zeichnete mit dem Phonographen Lieder der Eingeborenen auf und wurde so zum Pionier der sachalinensischen Ethnologie. Die auf der Insel ansässigen Weißrussen und Ukrainer sind die Nachkommen von Deportierten oder der vor der Kollektivierung geflohenen Bauern. Es ist eine ununterbrochene Geschichte der Entwurzelung und Dezimierung. "Wenn jemand nach tieferen Gründen für den Zusammenbruch des sowjetischen Systems sucht, kann er nicht umhin, die verheerenden Auswirkungen der aufeinanderfolgenden Wellen von Repressalien in Betracht zu ziehen", heißt es in einer der wenigen generalisierenden Passagen bei Dalos. Es fehlte "dem Riesenreich bis zu seinem Ende zwischen der dünnen Schicht der Führenden und den Abermillionen von Geführten eine freie, selbstbewußte, kritisch denkende und agierende Gesellschaft". Aber Sachalin war nicht nur ein "Rußland en miniature", sondern auch ein Spiegel der geteilten Welt.

Hier, so Dalos, verlief mit der Demarkationslinie zwischen sowjetischem Norden und japanischem Süden am fünfzigsten Breitengrad auch die "erste künstlich geschaffene Grenze der neueren Geschichte, die zwei ideologisch geprägte grundverschiedene Systeme voneinander trennt und damit die Vor- und Nachteile besonders plastisch sichtbar werden ließ". Die Nähe zu Japan und seiner Wohlstandswelt läßt den Zusammenbruch in diesem fernsten Osten der früheren Sowjetunion besonders drastisch erscheinen.

Man gewinnt den Eindruck, daß es auch Dalos um eine Art Test und Selbstprüfung dessen ging, was ein Schriftsteller angesichts der beispiellosen Agonie einer Gesellschaft und der darin produzierten Bilder vermag. Sachalin ist wie der ganze postsowjetische Raum ein Ort zwischen den Zeiten: alte Ladenschilder aus der erst zu Ende gegangenen sowjetischen Epoche hängen neben den Casino-Leuchtreklamen und dem "Lady Business Club". Zwischen Plattenbauten findet man Reste von japanischen Teehäusern. Auf dem "Kommunistischen Prospekt" haben koreanische Händler einen Blumenkiosk eröffnet.

Hier zeigt sich, was ein Autor, der im Lande sich zu Hause fühlt - Dalos hatte in Moskau studiert -, wahrnehmen und in Bildern fixieren kann. "Also - Tschir Unwd, das Musterdorf der sowjetischen Ära, ist leer, arm, zerstört und gottverlassen. Im Zentrum ragt das Betongerüst eines nie erbauten Kulturpalastes empor - zu welchem Jahrestag der Oktoberrevolution hatte es eingeweiht werden sollen? Durch seine blinden Fensteröffnungen weht ein zeitloser Wind. Aus dem geöffneten Fenster eines Hauses von Typ ,Breschnewka' beugt sich ein junger, blonder Russe, er raucht. Aus seinem Fenster wird die ganze Straße mit Technomusik beschallt." Ein Gespräch will nicht zustande kommen, das einzig Interessante ist ein verfallener Friedhof.

Die wichtigsten Nachrichten in Zeitung, Fernsehen, Internet handeln von Stromausfällen, von Temperaturen um den Gefrierpunkt in Wohnungen, von Bränden, die von manipulierten Stromleitungen ausgelöst werden, von Schulunterricht, der ausfallen muß, und von der unendlichen Sehnsucht nach einem halbwegs normalen Leben. Inmitten dieser trostlosen Landschaft aber finden sich auch Bilder wie dieses aus der Siedlung Bjeloe: "Hier wohnt ein altes Ehepaar mit seiner vierzehnjährigen Enkelin - die Eltern verdienen ihr Brot in Juschno-Sachlinsk. Das Mädchen mit dem schönen, klaren Blick geht jeden Tag fünf Kilometer weit zur Schule und zurück, zeichnet, malt, liest, manchmal bei Kerzenlicht."

KARL SCHLÖGEL

György Dalos: "Die Reise nach Sachalin". Auf den Spuren von Anton Tschechow. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001. 285 S., Abb., geb., 19,50 .

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

1890 verfasste Anton Tschechow eine Monografie über die russische Insel Sachalin. Der ungarische Schriftsteller György Dalos begibt sich in seinem Buch "Die Reise nach Sachalin" auf die Spuren Tschechows und setzt so dessen Arbeit fort, erklärt Eberhard Falcke. Für den Rezensenten enthält das Buch viel Wissenswertes: Dalos rekapituliere die Inselgeschichte bis in die Gegenwart hinein und gebe dem Leser einen Eindruck vom wirtschaftlichen und sozialen Verfall. Wieso man sich für einen solch "unsichtbaren Winkel der Erde" interessieren soll? Der Autor gibt selbst die Antwort: "Sachalin ist nicht nur ein Teil von Russland, sondern bildet nahezu alle in Russland gegebenen Bedingungen im Kleinen ab."

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