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"Leidenschaftlich, wild und gelehrt", so charakterisierte Thomas Nipperdey das intellektuelle Temperament von Wilhelm Hennis, der im Februar 2008 seinen 85. Geburtstag begeht. Seit ihren Anfängen hat Hennis die Entwicklung der Bundesrepublik kritisch kommentierend begleitet und dabei als praktischer Wissenschaftler nie theoretische Distanz zur politischen Wirklichkeit gehalten. Stephan Schlak hat dem ungewöhnlichen Gelehrten ein erfrischend unorthodoxes Buch gewidmet, das nicht im Gewand der klassischen Biographie daherkommt, sondern Hennis, mit einem Wort von Gottfried Benn, konsequent als…mehr

Produktbeschreibung
"Leidenschaftlich, wild und gelehrt", so charakterisierte Thomas Nipperdey das intellektuelle Temperament von Wilhelm Hennis, der im Februar 2008 seinen 85. Geburtstag begeht. Seit ihren Anfängen hat Hennis die Entwicklung der Bundesrepublik kritisch kommentierend begleitet und dabei als praktischer Wissenschaftler nie theoretische Distanz zur politischen Wirklichkeit gehalten. Stephan Schlak hat dem ungewöhnlichen Gelehrten ein erfrischend unorthodoxes Buch gewidmet, das nicht im Gewand der klassischen Biographie daherkommt, sondern Hennis, mit einem Wort von Gottfried Benn, konsequent als ein "Durchkreuzungsphänomen" der Bundesrepublik liest.
In dichten Beschreibungen erzählt Schlak Schlüsselszenen einer politischen Ideengeschichte der Bundesrepublik – und entwirft so ein Portrait von Hennis, das hineinführt in die großen Kontroversen, von der Nachkriegszeit über die 68er bis zur Ära Kohl. Hennis war zwar immer mittendrin in den Debatten um die politische Ausrichtung der Bundesrepublik, stimmte aber nicht ein in die allgemeine Begeisterung über deren "Erfolgsgeschichte". Im Rückblick scheinen sich die Fronten vielmehr verkehrt zu haben. Während die Linke um seinen Erzgegner Jürgen Habermas sich immer mehr mit der Republik versöhnte und die demokratischen "Errungenschaften" für sich reklamierte, wurde Hennis über den "Zustand" und die "Verfassung" des Landes mit den Jahren immer pessimistischer und zorniger. Vor allem Helmut Kohl bekam seit den achtziger Jahren seine ganze polemische Energie zu spüren. Mit Sorge betrachtete Hennis die "Ankunft" des Landes im Parteienstaat. Der großen Erzählung der "geglückten Demokratie", die zum großen Staatsjubiläum 2009 wieder anschwellen wird, will er sich nicht fügen. Stephan Schlaks glänzend geschriebenes Buch über Wilhelm Hennis ist ein schöner Beweis dafür, daß Politikwissenschaft zum intellektuellen Vergnügen werden kann.

"So geistbesessen und so wenig professoral wie dieser große Unruhige sind nur noch wenige in diesem geistig bescheidenen Land."
Ulrich Raulff

"Sachbücher des Monats März 2008"
Süddeutsche Zeitung/ Norddeutscher Rundfunk/ Buchjournal
Autorenporträt
Stephan Schlak, geb. 1974, lebt als Historiker und Publizist in Berlin. 2008 erschien von ihm »Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2008

Ausgerechnet Hennis!
Erstklassige Referenzen: Die Bundesrepublik auf der Bühne der allerjüngsten Ideengeschichte

Eines der einflussreichsten Bücher der jüngeren Zeitgeschichtsforschung ist die Dissertation von Dirk van Laak, die 1993 im Akademie-Verlag erschienen ist und "Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik" zum Thema hat. Der Titel des Buches war ein unwiderstehliches Versprechen: "Gespräche in der Sicherheit des Schweigens". Ach, wer da mithören konnte!

Van Laak ist ein Schüler von Lutz Niethammer, dem deutschen Pionier der oral history. Die Methode der Quellenerzeugung durch Zeitzeugenbefragungen sollte denjenigen eine Stimme geben, die in der Geschichtsschreibung großen Stils auch in der strukturgeschichtlichen Variante nie zu Wort gekommen waren - das OEuvre der Niethammer-Schule ist ein Arbeiterkinderdenkmal. Van Laak übertrug das Verfahren auf die Wissenschaftsgeschichte, also auf die Erforschung derjenigen Berufsmenschen, die sich am besten artikulieren, und vernahm die berühmten Professoren ein, die in ihren Lehrjahren zu Carl Schmitt nach Plettenberg gepilgert waren. Das Packende an den Überlegungen zu entlegenen Gegenständen der Ideengeschichte, die nun an die Öffentlichkeit gelangten, war die Atmosphäre absoluter Vertraulichkeit, aus der sie gerissen wurden.

Van Laak erneuerte ein historiographisches Genre, das die Geschichtswissenschaft seit Ranke für obsolet hielt: die Geheim- oder Gegengeschichte, allerdings ohne die polemische Absicht, die in den höfischen Gesellschaften der Vormoderne hinter der Routine der Enthüllungen stand. Nur in Rückzugsgebieten des reaktionären Konservatismus wie dem Cambridger College Peterhouse hatte sich die Überzeugung erhalten, es komme in der Geschichte entscheidend darauf an, was von einer kleinen Zahl von Männern hinter verschlossenen Türen gesagt wird. Von Plettenberg aus gesehen war die Bundesrepublik ein Ancien Régime, wo die Anstandsregeln einer Gesellschaftsräson das Sagbare begrenzten. Die um Schmitt kreisenden freien Denker ließen sich als Loge betrachten, wie sie Reinhart Koselleck in seiner Dissertation "Kritik und Krise" beschrieben hatte.

Obwohl die großen Werke der Forschungsgruppen und Arbeitskreise der sechziger und siebziger Jahre in den Bibliotheken nicht im Giftschrank stehen, ist die Geheimgeschichte der Geisteswissenschaft der Nachkriegszeit eine Wachstumsbranche. "Netzwerk" und "Strategie" sind die Lieblingsbegriffe einer Hermeneutik des Verdachts, die selten anderes aufdeckt als die wissenssoziologische Normalität des Hineinspielens sachfremder Nebengedanken im Berufungs- und Publikationswesen. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat unter dem Direktorat von Ulrich Raulff nicht nur die Wissenschaft als Sammelgebiet entdeckt, sondern auch die utopische Aufgabe der Erschließung ungeschriebener Werke. Wenn den Methoden, die sich in den esoterischen Kontexten des George-Kreises und der Warburg-Schule bewährt haben, auch die Normalwissenschaft unterworfen wird, kommt Kurioses heraus.

Einen ersten Höhepunkt konsequenter Fleißarbeit markierte eine bei Herfried Münkler an der Berliner Humboldt-Universität angefertigte Dissertation, die nach dem Muster der Schmitt-Pilger die sich mit diesem Kreis teilweise überschneidende Gruppe der Schüler Joachim Ritters untersuchte - Philosophen, die von Anfang an auf öffentliche Wirkung gesetzt und ihr nun in der Stunde einer angeblichen Renaissance des Bürgertums umständlich rekonstruiertes geschichtsphilosophisches Programm in ihren Schriften mit unüberbietbarer Deutlichkeit dargelegt haben.

So wird die jüngste Vergangenheit zum Objekt des historischen Interesses, ohne dass sich eine historische Frage benennen ließe. Es muss mit der neuesten Hochschulreform zu tun haben, dass die alte Ordinarienuniversität und die alte Reformuniversität eine geradezu kindliche Neugier auf sich ziehen, dass sie bei Nachwuchsforschern den Wunsch wecken, wenigstens beim Studium alter Tagungseinladungen und Rezensionen mit großen Gelehrten zu kommunizieren. Die ganze Bundesrepublik ist in der aktuellen Ideengeschichte zu einem Reich der Geheimnisse geworden, einem Ort bedeutsamer Begegnungen und unausgeschöpfter Offenbarungen. Als aparte Valeurs schätzt ein akademisches Dandytum die Grauwerte, die schon der Name der Bundesrepublik evoziert.

Jetzt ist als minor classic in einem Genre, das wohl keinen großen Klassiker hervorbringen wird, eine weitere von Herfried Münkler betreute Doktorarbeit zu begrüßen, die pünktlich zum morgigen fünfundachtzigsten Geburtstag ihres Gegenstandes erscheint: die Studie von Stephan Schlak über Wilhelm Hennis. Mit dem Untertitel "Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik" entlastet sich diese Qualifikationsschrift von vornherein vom methodischen Anspruch.

Ideengeschichte in irgendeinem schulmäßigen Sinne wird nicht geboten. Weder interessiert sich Schlak im Sinne der Einflussforschung oder der kontextualistischen Diskursgeschichte dafür, wie beispielsweise die Kenntnisse des englischen Parlamentarismus beschaffen waren, vor deren Hintergrund Hennis seinen Burke las. Noch betrachtet er die Art der Weitergabe von Ideen, auf die für Hennis nach seiner Darstellung alles ankommen müsste. Überzeugend arbeitet Schlak heraus, dass Hennis das eigene Ideal der praktischen Wissenschaft nach Jahrzehnten deutlich wird, als er in Max Weber den Erzieher wiederentdeckt. Aber die Schüler des Freiburger Politikwissenschaftlers kommen nicht vor, die Lehrer sind bloß große Namen.

Was fällt Schlak zu Carlo Schmid ein, als dessen Assistent Hennis in Frankfurt wirkte? Der George-Kreis. Die Passage ist typisch für das "szenische" Verfahren. Schlak macht drei Mitteilungen: Schmid gelang es nicht, Hennis zur Lektüre des Friedrich-Buches von Ernst Kantorowicz zu bewegen; Hennis traf Kantorowicz in Princeton; später äußerte Hennis den Wunsch, dass "etwas mehr von dieser inspirierenden und begeisternden Kraft" des Kreises "in unseren Geistes- und Sozialwissenschaften lebendig geblieben wäre". Der Leser fragt sich: Kam Hennis zu seinem Urteil über das wünschbare Weiterwirken Georges ohne Kantorowicz-Lektüre? Hat das Treffen mit Kantorowicz für dieses Urteil irgendetwas bedeutet? Interessant sind eigentlich nur die Gründe, die Hennis für sein Urteil hatte. Von denen sagt Schlak nichts.

Persönliche Begegnungen haben hier einen Wert an sich, zumal wenn der chronologische Zufall hinzutritt. Dreimal wird erwähnt, dass Henry Kissinger Hennis nach Harvard einlud. Dreimal wird Kissinger als Jahrgangsgenosse von Hennis vorgestellt. Der Geburt im Jahr 1923 verdanken Loriot, Rolf Bossi und Horst Tappert ihre Kurzauftritte auf Schlaks Bühne. Dass Autoren, die zur gleichen Zeit zu verwandten Themen publizieren, auch ähnliche Begriffe verwenden, mehr oder weniger gleich alt sind und sich gelegentlich über den Weg laufen, ist für Schlak eine Quelle des nie versiegenden Staunens. Die Memoiren von Ralf Dahrendorf heißen "Über Grenzen". Auch Hennis reiste, um Kissingers Einladung zu folgen, "über Grenzen"! 1952 dampfte er "zeitgleich mit Wehler und René König nach New York". Was fasziniert den 1974 geborenen Schlak an der Bundesrepublik? Die Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Ein ständiges Wiederkommen und Nochmalgehen desselben Personals herrscht auf diesem Theater. Die Geschichte der Bundesrepublik ist die Stunde, da wir alles voneinander wussten.

So kann dann verwunderlich erscheinen, dass Hennis seine Entscheidungen als Herausgeber der Buchreihe "Politica" noch nicht im Wissen um seine späteren Konflikte mit Jürgen Habermas traf: "Im Rückblick überrascht, dass ausgerechnet Hennis, der gegen die scientistischen und theoretischen Irrwege des Faches immer Einspruch einlegte, den theoretischen Überlegungen seines intellektuellen Erzgegners den Weg in seine eigene Reihe bahnte." Ausgerechnet Hennis - das ist historische Ironie nach Sportreporterart: Ausgerechnet Hamann trifft gegen England. "Es gehört zu den Pointen einer späteren Zeit, dass eine nachwachsende Generation ausgerechnet gegen jene intellektuellen Reformer öffentlich zu Felde zog, die wie Hennis erst einmal den Boden für eine kritische Öffentlichkeit bereitet hatten." Wer das für eine Pointe hält, wird beim Studium der Französischen Revolution aus dem Lachen nicht mehr herauskommen.

Auch Schlak spricht als intellektueller Reformer: "Max Webers schlichten Aufruf zur akademischen Praxis - haben wir ihn nach Jahrzehnten sich überschlagender theoretischer Experimente nicht heute nötiger denn je?" Schlaks akademische Praxis lässt sich auf die Sachen, die Hennis zu Gegenständen der Forschung machte, nicht ein. Es gibt eine Ausnahme: Schlak korrigiert den Machiavelli-Deuter Hennis - unter Verweis auf Thesen seines Lehrers Münkler. Hennis irrt nicht allein. Schlak zitiert das von Hennis aus den fünfziger Jahren überlieferte Wort von Leo Strauss, er lese die "Discorsi" jetzt zum zweiten Mal und glaube, er fange an, sie zu verstehen. Schlak: "Aber hat er sie verstanden?"

Hennis hat Walter Bagehot laut Schlak "immer wieder seine Referenz" erwiesen. Die Referenz ersetzt die Reverenz, das Zitat den Gedanken: Mit diesem Ausgang der Ideengeschichte der Bundesrepublik hat Wilhelm Hennis nichts zu tun.

PATRICK BAHNERS

Stephan Schlak: "Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik". Verlag C. H. Beck, München 2008. 280 Seiten, 19,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2008

Der politische Erzieher
Wilhelm Hennis wird heute 85 – Stephan Schlak hat eine intellektuelle Parallelbiographie über ihn und die alte Bundesrepublik geschrieben
Während die Berliner Republik volljährig wird, arbeiten Philosophie, Politikwissenschaft und Zeitgeschichte daran, das geistige Profil der alten Bundesrepublik freizulegen. Schon früh wurde für die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik die Frankfurter Schule in Anspruch genommen, der vor zwei Jahren mit Jens Hackes ideengeschichtlicher Arbeit über die „Philosophie der Bürgerlichkeit” in der Schule des Münsteraner Philosophen Joachim Ritter eine liberal-konservative Konkurrenz erwuchs. Nun ist die Reihe an Wilhelm Hennis.
Pünktlich zum 85. Geburtstag des lange Zeit in Freiburg lehrenden politischen Erziehers der Bundesrepublik erscheint ein Buch aus der Feder des Berliner Politikwissenschaftlers und Publizisten Stephan Schlak. Es entwirft die intellektuelle Parallelbiographie eines Politikwissenschaftlers und seines Landes. Hennis’ „Positionen und Polemiken” werden als ständiger Begleitkommentar der Bonner Republik gelesen. Wohlgemerkt: als Kommentar. Der Anspruch wird im Vergleich zum philosophischen Fundierungsgewerbe bescheidener, kein Gründungsakt ist zu feiern, keine Begründung der Bundesrepublik nachzuschieben. „Szenen einer Ideengeschichte” müssen genügen. Das hat den unvergleichlichen Vorzug, dass es ein Anspruch ist, der sich erfüllen lässt.
Gegen die theoretische Illusion der modernen Sozialwissenschaften versteht Hennis die Politik in ihrem überlieferten Sinne als praktische Wissenschaft. Ihre Argumentationsweise ist die der aristotelischen Topik. Was zählt, ist eine umsichtige Urteilskraft, die Argumente des common sense und der Fachleute abwägt, nicht aber die schlagende Beweiskraft zwingender Gründe. Das topische Verfahren wird gegen den utopischen Geist und wissenschaftlichen Rationalismus der Moderne ins Feld geführt.
Schlak empfiehlt, Hennis’ unsystematischen Zug programmatisch zu lesen. Ihn verbinde mehr mit den schnellen essayistischen Federn der angelsächsischen Welt als mit den Architekten großer Theorien. Der Gefahr, dabei auch manchen politischen Schnellschuss abzugeben, sei der streitbare Geist jedoch nicht immer entgangen. Den abstrakten Vorwurf aus dem Methodologielehrbuch, Hennis habe die Probleme des Tages nicht ausreichend theoretisch auf Distanz rücken können, entkräftet Schlak allerdings selbst. Denn er erinnert daran, dass Hennis, ehe er sich nach 1968 zum Antireformer wandelte, in den sechziger Jahren nicht nur „vom praktischen Geist der Reform getragen” war, sondern auch „entschieden kritisch” dachte. In der Zeit der Großen Koalition gehörte Hennis zu den akademischen, letztlich erfolglosen Wortführern einer umfassenden Wahlrechtsreform.
Politische Wissenschaft hat für Hennis nach dem Verhältnis der politischen Ordnung zum Menschen zu fragen: Welche Chance bietet der Charakter der politischen Ordnung welchem Typus Mensch, zum herrschenden zu werden, zum ethisch vorbildlichen und maßgeblichen? Es ist die Frage, die Aristoteles, Platon und Sokrates schon gestellt haben. Ist Hennis also ein Sokratiker? Ja und nein. „Eine politische Wissenschaft, in der nicht immer ein Funken philosophischer Reflexion steckt, d. h. das Risiko des Widerspruchs zu den Ordnungen, wie sie sind, ist meines Erachtens keinen Pfifferling wert.”
So lässt sich einer vernehmen, der noch immer danach strebt, den Vertretern des Faches etwas ins Stammbuch zu diktieren. Sein innerer Genius hatte indes etwas Schalkhaftes, glich eher einem Versucher. Und für einen Sokratiker ist Hennis wohl doch zu impulsiv. Das brachte ihn schon als Soldaten, trotz aller erlesenen Lebensweisheit, die der junge Mann aus Graciáns Handorakel oder Schopenhauers Aphorismen schöpfte, in Konflikt mit der nationalsozialistischen Tyrannis. Die Anklage lautete auf Wehrkraftzersetzung. Aber das Ende des Krieges kam schneller als das Verfahren vor dem Marineoberkommando in Oslo. Hennis’ anzüglicher, lakonischer Rückblick charakterisiert seinen Stil besser als metaphernreiche Beschreibungen: „Es war Herrn Ministerpräsidenten Filbinger und mir eine wirkliche Freude, daß wir uns erst im Herbst 1967 – er hatte mich zu einem Antrittsbesuch nach Stuttgart eingeladen – persönlich kennenlernen konnten.”
Gleich einem Schatten lässt Schlak „seinen Helden” vom „intellektuellen Erzkontrahenten” Jürgen Habermas durch die Geschichte der Bundesrepublik begleiten. Als Assistent Carlo Schmids am Frankfurter Institut für Politische Wissenschaft rief Hennis schon früh zur Aufklärung der Dialektik auf. Seit den fünfziger Jahren verstanden sich Hennis wie Habermas gemeinsam auf das politiktheoretische Leitmotiv der Öffentlichkeit, das Schlak als akademisches Thema der Stunde ausmacht, das aber auch ein Dauerbrenner für beide Denker geblieben ist. Doch die „Entfremdung” wuchs rasch. In der Legitimitätsdebatte der siebziger Jahre schlug die Stunde der großen Kontroverse auf dem Duisburger Politologentag: High Noon zwischen Habermas und Hennis, der seine scharfe Erwiderung über Nacht im Hotelzimmer konzipierte. Hennis verteidigte Legitimität als bürgerliche Kategorie und stemmte sich gegen alle Versuche, durch das leichtfertige Aufwerfen der Legitimitätsfrage gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse zu befördern und sozialpolitische Verteilungskämpfe zu führen. Habermas warf Hennis im Gegenzug vor, sein Verständnis von Legitimität sei mittelalterlich, und er behandle das Problem unter dem wissenschaftlichen Niveau einer reflexiven politischen Theorie der Moderne.
Hennis, der hoffnungslos Altmodische? Schlak versteht ihn lieber mit dem Historiker Reinhart Koselleck als den großen Unzeitgemäßen. Unzeitgemäß seien die Begriffe, zu deren „Hüter” Hennis werde. Er redet von Amt und Verantwortung, von Gemeinwohl und Tyrannis, von politischer Klugheit als Tugend und den „Umständen”, die jede kluge Entscheidung zu berücksichtigen habe. Er spricht vom „Regieren”, wo andere das „politische System” erforschen und mit dem nächsten „turn” das Thema „Governance” groß rausbringen. Das informelle, halb private Regieren war es, das er am „System Kohl” unablässig kritisiert hat, weil es im politischen Sinne unverantwortlich ist.
Unzeitgemäß auch seine Vorstellung von Politik als praktischer Wissenschaft in aristotelischer Tradition im Gegensatz zum modernen Methodenkult. Der Gefahr zu veralten und aus der Mode zu kommen, sind jedoch eher die jeweils neuen und neuesten „Ansätze”, „approaches” genannt, ausgesetzt. Hennis ist kein altmodischer Geisteswissenschaftler, in dessen Zettelkästen die Tradition vergilbter Konzepte aufbewahrt und bei Gelegenheit hervorgekramt wird. Der Unzeitgemäße kann sogar in der durchaus modernen Rolle des öffentlichen Intellektuellen brillieren.
Schlak beweist ein gutes Gespür für Positionswechsel und vertauschte Fronten. Den passionierten studentischen Revolutionären verordnete Hennis 1968 ein Sedativum politischer Nüchternheit. Dreißig Jahre später hat sich die Konstellation gewandelt. Angesichts der „ernüchterten Achtundsechziger an der Staatsspitze” vermisste er nun die seelische Leidenschaft in der Berliner Republik. Und wer, wie Hennis, auf eine ausgewogene Trennung von Privatem und Öffentlichem bedacht ist, muss einmal zugunsten der Öffentlichkeit das Wort ergreifen, ein andermal wird er zum Verteidiger der „vorpolitischen Räume der Familie und Erziehung”. Es hängt, wie das meiste in Hennis’ Politikverständnis, von den „Umständen” und der „politischen Lage” ab. Hennis reihte sich fast immer auf der Seite der Verteidiger ein – man könnte auch sagen: der Verlierer.
Zwei Themen, in die sich der öffentliche Kritiker Wilhelm Hennis wie ein Terrier verbeißen konnte, behandelt Schlak eher im Vorübergehen: den schleichenden Verfassungswandel durch den unpolitischen Regierungsstil von Helmut Kohl – Männerfreundschaft statt Ämterordnung – und die Entwicklung der Bundesrepublik zum Parteienstaat. Vielleicht sollte die Darstellung der letzten zwanzig Jahre einfach nur fokussiert werden auf Hennis’ leidenschaftliches wissenschaftliches Interesse an einer neuen Lektüre Max Webers und seiner charakterologischen Fragestellung. Es galt für Hennis, eine Vaterschaftserschleichung zu annullieren. Gegen jene, die Weber als Begründer der Sozialwissenschaft für sich reklamierten, um den Prozess der okzidentalen Rationalisierung zu erklären, legte Hennis durch eine skrupulöse Lektüre Webers Wissenschaft vom Menschen frei. Der Begriff der Lebensführung sollte fortan als Achse des Werkes gelten.
Mit Weber ist Hennis der Auffassung, dass nichts für den Menschen etwas wert sei, das er nicht mit Leidenschaft tun kann. Er hat einmal bedauert, dass der Titel „Einsicht und Leidenschaft” schon früher durch den Platoniker Gerhard Krüger geprägt wurde, der damit das Wesen des platonischen Denkens bezeichnen wollte. Wie gern hätte Hennis diesen Ausdruck selbst gefunden. Stephan Schlaks distanziert-ironischer, jung-abgeklärter Ton wirkt dagegen wie ein Kontrapunkt und steht zu dem teils launigen, teils bärbeißigen rhetorischen Stil seines Sujets im Kontrast. Der Heißsporn wird historisch auf Eis gelegt. Bei aller Weisheit aber wurde Hennis zum Glück niemals von Altersmilde heimgesucht.
Und die „alte”, die Bonner Bundesrepublik? Sie erscheint bei Schlak vielleicht doch etwas zu klein, als dass sie des großen existentiellen Ernstes wert wäre, mit dem Hennis ihre Geschicke wachsam beobachtet und kommentiert hat. Dennoch: Gekonnt und kenntnisreich in bilderreicher Sprache in Szene gesetzt, lässt sich mit Stephan Schlak die politische Ideengeschichte eines Landes der repräsentativen Bescheidenheit verfolgen und der intellektuelle Werdegang eines temperamentvollen Geistes, dem Politikwissenschaft zum Beruf wurde. DIRK LÜDDECKE
STEPHAN SCHLAK: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik. Verlag C. H. Beck, München 2008. 280 Seiten, 19,90 Euro.
Wie ein Schatten begleitet Jürgen Habermas den Helden durch die Geschichte der Bundesrepublik
Wilhelm Hennis
Nach fünf Jahren in Venezuela kehrt der 1923 in Hildesheim geborene Wilhelm Hennis 1938 mit seiner Familie nach Deutschland zurück. Er legt 1942 in Dresden die Abiturprüfung ab und dient bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Marineoffizier. In Göttingen wird er 1951 von Rudolf Smend mit einer Arbeit über „Das Problem der Souveränität” in Jura promoviert. Auf eine kurze Tätigkeit bei Adolf Arndt, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, folgt 1953 die erste Stelle an der Universität. Hennis wird Assistent des Politologen und SPD-Politikers Carlo Schmid in Frankfurt am Main. Seine nur gut 100 Seiten lange Habilitationschrift „Politik und praktische Philosophie” (1959) macht ihn bekannt. Nach Professuren in Hannover und Hamburg lehrt er von 1967 an bis zu seiner Emeritierung 1988 in Freiburg Politische Theorie. Unser Foto zeigt den Jubilar 1999 in seiner Freiburger Wohnung. Foto: Telemach Wiesinger
Hennis ist der Hüter unzeitgemäßer Begriffe: Amt, Verantwortung, Gemeinwohl, Tyrannis, Tugend . . .
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Viel Lob zollt der rezensierende Politikwissenschaftler Andreas Anter diesem "eindrucksvollen und lesenswerten" Buch, das seiner Ansicht nach den längst fälligen Auftakt zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dem bedeutenden Politikwissenschaftler darstellt. Denn zum ersten Mal zeige der 1974 geborene Berliner Politikwissenschaftler Stephan Schlak Hennis' Denkweg in all seinen Brüchen und Kontinuitäten auf, weshalb Schlak dem Rezensenten zufolge mit seinem Hennis-Buch gleichzeitig ein Stück Ideengeschichte der alten Bundesrepublik geschrieben hat. Doch hier liegt dann aus Sicht des Rezensenten auch eine Schwäche der Publikation, die sich für den Geschmack des Rezensenten nicht immer klar genug für ihren Gegenstand entscheiden kann. Biografie oder Ideengeschichte - so recht werde das im Verlauf der nichtsdestotrotz als spannend und faszinierend etikettierten Lektüre nicht deutlich. Und obwohl sich das Buch auf reiches Quellenmaterial stütze, erfahre man über die Biografie dieses prägenden Wissenschaftlers nicht genug.

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