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Der Arzt und Medizinhistoriker David Gollaher legt hier eine erste umfassende kulturübergreifende und objektive Darstellung des Phänomens Beschneidung von der Frühzeit der Ägypter bis heute vor und geht damit einem umstrittenen Ritual auf den Grund. Der Autor macht dabei auch seine Position deutlich: Beschneidung ist nicht tolerierbar, wenn Leben bedroht ist oder die Menschenwürde verletzt wird.

Produktbeschreibung
Der Arzt und Medizinhistoriker David Gollaher legt hier eine erste umfassende kulturübergreifende und objektive Darstellung des Phänomens Beschneidung von der Frühzeit der Ägypter bis heute vor und geht damit einem umstrittenen Ritual auf den Grund. Der Autor macht dabei auch seine Position deutlich: Beschneidung ist nicht tolerierbar, wenn Leben bedroht ist oder die Menschenwürde verletzt wird.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2002

Beschnitten sieht er schöner aus
Der neue Mensch entsteht, indem man dem alten etwas abschneidet: David Gollaher erzählt die Geschichte der Circumcision
Wenn ich in meinen Kursen über Fragen der medizinischen Diagnostik spreche, lege ich den Teilnehmern gelegentlich einen hypothetischen Fall vor. Was würden Sie tun, so frage ich, wenn zu Ihnen ein Patient käme und sagte: „Ich kann meine linke Hand nicht leiden! Ich konnte sie noch nie leiden! Sie macht mich wirklich unglücklich! Bitte nehmen Sie sie mir ab!” Die Hand wirkt äußerlich normal, sie ist vollkommen funktionstüchtig, aber der Patient will sie sich unbedingt amputieren lassen. Was also würden Sie in diesem Fall tun? Meistens bekomme ich darauf die Antwort, es sei wohl das beste, den Patienten zur Untersuchung an einen Psychiater zu überweisen.
Nun ein anderer Fall, der mir einfiel, während ich das neue Buch von David Gollaher las: Zu Ihnen kommt eine Mutter mit ihrem Neugeborenen und erklärt, alle ihre Freundinnen ließen bei ihren Kindern nach der Geburt ein kleines Teil amputieren, das sei jetzt Mode und, soweit sie gehört habe, sei es auch gut für das Kind. Sie zeigt auf die linke Hand des Kindes und sagt: Würden Sie die vielleicht abschneiden? Und falls nicht, würden Sie dann wenigstens seine Vorhaut wegschneiden? – Und siehe da: Diese Alternative eröffnet uns plötzlich einen Handlungsspielraum! Das Wegschneiden der Vorhaut erscheint uns als eine reguläre, akzeptable medizinische Maßnahme. Wenn es sich allerdings bei dem Kind um ein Mädchen handeln sollte, wäre die Sache nicht mehr so einfach. Die Aversion, die wir in der westlichen Welt heute gegenüber der „weiblichen Beschneidung” oder, besser gesagt, gegenüber der „Verstümmelung der weiblichen Genitalien” empfinden, ist sehr stark ausgeprägt.
Religiöse Gründe
Die Geschichte der „männlichen Beschneidung” besteht in Wirklichkeit aus drei ineinander verschlungenen Geschichten: 1. aus der Geschichte der religiös motivierten Beschneidung (und des Widerstands gegen sie) bei Juden, Christen und Muslimen; 2. aus der Geschichte des Beschneidungsrituals bei den Angehörigen nicht-abrahamitischer Religionen und des starken Interesses westlicher Anthropologen an diesen Ritualen; und 3. aus der Geschichte einer die Beschneidung aus medizinischen Gründen befürwortenden Ideologie, die im 19. Jahrhundert aufkam und im späten 20. Jahrhundert auf Widerstände stößt. Diese drei Erzählungen stehen im Zentrum von Gollahers Buch.
Die drei Stränge – der religiöse, der anthropologische und der medizinische – lassen sich durchaus voneinander abgrenzen, problematisch ist aber, dass Gollaher sie in seiner Darstellung getrennt hält. Dabei waren sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts untrennbar ineinander verknäult. Bei den medizinisch interessierten Anthropologen des 19. Jahrhunderts begegnet uns die Ansicht, die Beschneidung sei ein barbarisches Ritual, das überwunden werden müsse. Reformierte jüdische Theologen dagegen, aus deren Sicht die jüdische Überlieferung zugleich auch die frühesten Anleitungen zu einem vernunftge mäßen praktischen Handeln bietet, befürworteten die Beschneidung aus medizinischen Gründen und sahen in Moses den ersten Hygieniker. Die Chirurgen ihrerseits meinten, ihre innovativen Praktiken von den Ritualen „primitiver” Religionen abgrenzen zu müssen. So begegnen die drei Tendenzen einander immer wieder auf widersprüchliche, verwirrende Weise.
Als amerikanischer Arzt praktiziert Gollaher in jenem Land, das in der Anwendung der Beschneidung als weltweit führend gelten darf. Die Amerikaner beschneiden männliche Kinder heute sehr viel häufiger, als dies in jeder anderen westlichen Gesellschaft geschieht, und zwar aus rein medizinischen Gründen. Das medizinische Argument besagt: beschnittene Männer leiden seltener an Krankheiten wie Syphilis oder Peniskrebs; bei ihren Partnerinnen kommen Fälle von Gebärmutterkrebs seltener vor; und ein beschnittener Penis sieht schöner aus. (Diese letzte Behauptung hat, wie Gollaher anmerkt, ein erstaunliches westliches Pendant zur Verstümmelung der weiblichen Genitalien hervorgebracht: mit den Mitteln der kosmetischen Chirurgie werden die Schamlippen unter ästhetischen Gesichtspunkten verändert, um ihr Aussehen zu verbessern.)
Alle medizinischen Thesen über die Vorteile der Beschneidung sind insofern problematisch, als sie nicht auf umfassenden, detaillierten Studien beruhen, die auch andere, ebenfalls in Frage kommende Variablen berücksichtigen. So haben zum Beispiel Untersuchungen an katholischen Nonnen gezeigt, dass bei Frauen, die als Erwachsene sexuell enthaltsam leben, Gebärmutterkrebs deutlich seltener vorkommt als bei anderen. Daran könnte man die Frage knüpfen: Lässt sich das geringere Vorkommen von Gebärmutterkrebs bei den Partnerinnen beschnittener Männer vielleicht auf die Häufigkeit der Sexualkontakte, statt auf die Tatsache der Beschneidung als solcher zurückführen? (Wie sieht der kulturelle Kontext aus, vor dem wir die mit der Beschneidung verbunden Bedeutungen verstehen?)
Medizinische Phantasmen
Wie kommt es, dass die Beschneidung aus medizinischen Gründen in medizinisch einander so „ähnlichen” Ländern wie den Vereinigten Staaten, Deutschland, Großbritannien und Frankreich in so eklatant unterschiedlichem Umfang praktiziert wird? Die einfache Antwort verweist natürlich auf die negative Assoziation der Beschneidung mit den religiösen Praktiken von Juden und Muslimen. Die Befürchtung, der beschnittene Körper des eigenen Kindes könnte als der eines Juden identifiziert werden, wird in der neueren Literatur über den Holocaust hier und da deutlich – zuletzt in Oscar Hijuelos kürzlich erschienenem Roman „A Simple Habana Melody”, der im Havana der Vorkriegszeit spielt. Hier wird der Held, ein guter kubanischer Katholik, von seinem Vater, der von Beruf Arzt ist, aus „medizinischen” Gründen beschnitten, was schließlich dazu führt, dass ihn die Gestapo in Paris verhaftet und nach Buchenwald schickt – bloß wegen einer fehlenden Vorhaut. Aber die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer.
Die Gedankenverbindung von Beschneidung, Gesundheit und Sauberkeit, aus der die Popularität dieses Eingriffs gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika erwachsen ist, hatte mit der Angst vor Krankheiten, die durch sexuelle Praktiken wie Masturbation hervorgerufen werden, mehr zu tun als mit der Furcht vor Krankheiten wie Syphilis, die durch Sexualkontakte übertragen werden. Sie war, Gollaher zufolge, der Grundgedanke, der die erste Welle medizinisch motivierter Beschneidungen in den Jahren nach 1880 auslöste.
Während des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898 wurden vor allem im pazifischen Raum mehr Soldaten durch Geschlechtskrankheiten außer Gefecht gesetzt als durch Verwundungen, die sie im Kampf davongetragen hatten. Durch den doppelten Schutz, den die Beschneidung versprach, empfahl sie sich als innovatives Mittel, um eine neue Generation robusterer Soldaten hervorzubringen. In Deutschland, Großbritannien und Frankreich sind solche Ideen offenbar nie aufgekommen. Dort lag die ärztliche Behandlung der Kolonialtruppen und der Siedler bereits in den Händen von Tropenmedizinern, die auf Infektionskrankheiten spezialisiert waren, und nicht bei den Chirurgen. So kam es, dass dieser Eingriff, der obendrein auch noch mit einem Stigma verbunden war, bei Neugeborenen in den genannten Ländern die Ausnahme blieb und nicht zur Regel wurde.
In der westlichen Welt erfüllt uns schon der bloße Gedanke an die weibliche Beschneidung heute mit Abscheu – aber die Argumente für und gegen eine Beschneidung männlicher Kinder, die in den ideologischen Auseinandersetzungen des späten 19. Jahrhunderts geschmiedet wurden, beschäftigen uns nach wie vor. Was wir heute brauchen – als Gegner der Beschneidung erkennt Gollaher diese Notwendigkeit jedoch nicht an –, ist eine breit angelegte Langzeitstudie zur Gesundheit beschnittener Männer – ähnlich der Farmington-Studie über Herz- und Gefäßerkrankungen, die jetzt in der dritten Generation fortgeführt wird. Zur Zeit wissen wir nur, was wir nicht wissen. Und einer der häufigsten chirurgischen Eingriffe ist nach wie vor im Reich der Ungewissheiten zwischen Religion und Wissenschaft angesiedelt. SANDER L. GILMAN
DAVID GOLLAHER: Das verletzte Geschlecht. Die Geschichte der Beschneidung. Deutsch von F. Florian Marzin. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 314 Seiten, 22,50 Euro.
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser.
Sander L. Gilman ist Distinguished Professor of the Liberal Arts and of Medicine an der University of Illinois, Chicago.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Sabine Fröhlich ist dieser Geschichte der Beschneidung gelungen, was ihr amerikanischer Autor sich vorgenommen hat, nämlich das "Vertraute fremd erscheinen zu lassen". Der Mediziner und Historiker könne zeigen, dass insbesondere die männliche Beschneidung in der modernen amerikanischen Medizin mit gesundheitlichen oder hygienischen Gründen nicht zu rechtfertigen sei, sondern vielmehr von "kulturellen und (sexual)moralischen Vorstellungen" beeinflusst werde, fasst die Rezensentin zusammen. Sie charakterisiert Gollaher als "skeptischen Diskursbeobachter", der die Gründe sowohl der Beschneidungsgegner als auch ihrer Befürworter darstellt. Und auch wenn er aus seiner Sympathie für die Gegner der Zirkumzision keinen Hehl macht, spart er sich jegliches "moralisches Pathos", lobt Fröhlich.

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