Marktplatzangebote
7 Angebote ab € 4,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Ales haßt seine Familie. Er haßt die Jordans, diese Anhäufung geborener Opportunisten, haßt ihre Schamlosigkeit, aus jedem System einen Nutzen zu ziehen. Ob im Kommunismus oder in der freien Marktwirtschaft, die Jordans sind auf Tuchfühlung zu den gesellschaftlichen Schaltstellen, der Familienclan und seine mafiösen Strukturen florieren. Schwarze Schafe gibt es überall - und sie werden nach alter Sitte selbst gerichtet. Onkel Ludwig, seinerseits pädophiler Familienschreck, baumelt zu Ales' Entsetzen alsbald am Kronleucher, und Tante Hrbácková, so ungehorsam wie sie war, findet keinen Platz in…mehr

Produktbeschreibung
Ales haßt seine Familie. Er haßt die Jordans, diese Anhäufung geborener Opportunisten, haßt ihre Schamlosigkeit, aus jedem System einen Nutzen zu ziehen. Ob im Kommunismus oder in der freien Marktwirtschaft, die Jordans sind auf Tuchfühlung zu den gesellschaftlichen Schaltstellen, der Familienclan und seine mafiösen Strukturen florieren. Schwarze Schafe gibt es überall - und sie werden nach alter Sitte selbst gerichtet. Onkel Ludwig, seinerseits pädophiler Familienschreck, baumelt zu Ales' Entsetzen alsbald am Kronleucher, und Tante Hrbácková, so ungehorsam wie sie war, findet keinen Platz in der Familiengruft. Wäre da nicht Lucie, gleichermaßen geliebte Gattin und Cousine, dann befände sich Ales wohl schon längst unter dem familiären Damoklesschwert. Doch als er das Angebot ausschlägt, in die Rolle des Familienoberhaupts zu schlüpfen, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Was klingt wie ein klassischer Mafiaroman mit surrealen Momenten, entpuppt sich bald als hintersinnige Parabel über den Totalitarismus im 20.Jahrhundert. Mit spielerischer Leichtigkeit und böhmischem Witz erzählt Jirí Kratochvil eine schier unglaubliche Geschichte.
Autorenporträt
Jirí Kratochvil, Schriftsteller, Dramaturg, Kritiker und Publizist, wurde 1940 in Brünn in Tschechien geboren. Er studierte Philosophie, hatte in der sozialistischen Tschechoslowakei lange Publikationsverbot und verdiente sich als Kranführer, Heizer und Bibliothekar den Lebensunterhalt. Seine Werke sind in mehrere Sprachen übersetzt, 1999 erhielt er die höchste Auszeichnung seines Landes, den Jaroslav Seifert-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Tutzi und Dutzi gehören zur Verwandtschaft
Jirí Kratochvil wird zum Waldschrat / Von Peter Demetz

Der Bibliothekar Ales ist wahrhaftig nicht zu beneiden, denn die Familie Jordan ist ihm eher unsympathisch, aber je mehr er sich ihr entfremdet, desto rascher läuft er Gefahr, sich selbst zu verlieren. Er hat Lucy Jordan, seine Jugendliebe, mit der er viele Jahre glücklich zusammenlebte, endlich geheiratet, und schon ist ihr Vater mit Ansprüchen, Geschenken und Erwartungen hinter ihm her, und als die beiden von einer Pariser Hochzeitsreise nach Brünn zurückkehren, finden sie fremde Leute in ihrer kleinen Wohnung, weil ihnen die Familie ein neues Haus besorgt hat. Man verfügt über sie, ohne Fragen zu stellen, wie gewöhnlich, denn die Familie hatte es klug verstanden, sich in vergangenen Jahren im kommunistischen Regime einzunisten, wichtige Positionen zu ergattern und die anderen über Wasser zu halten. Ales selbst hingegen gerät in Schwierigkeiten mit den Kulturbehörden und muß als Nachtwächter und Kranhelfer arbeiten, ehe es ihm der Machtwechsel von 1989 gestattet, in seine kleine Vorort-Bibliothek zurückzukehren. Inzwischen ist sein Schwiegervater, einst Staatsanwalt im volksdemokratischen Diktaturstaat, längst ein erfolgreicher Unternehmer mit Villa und Kunstsammlung, doch dann erleidet Tante "Seelchen", die strenge und geheime Kaiserin der Familie, einen Schlaganfall und erwählt Ales zu ihrem Nachfolger. Dieser jedoch hat nicht die geringste Lust, sich so ausweglos mit den Jordans einzulassen.

So, als gestörte mährische Idylle, könnte man einen Familienroman erzählen, aber nichts liegt Jirí Kratochvil ferner, als seine Leserschaft nach einigen Wirbeln behaglich zu Altbrünner Bier, Knödel und Kraut zu entlassen. Zusammen mit Daniela Hodrova (nachdem sich sein Brünner Kollege Milan Kundera als französischer Autor etabliert hat) zählt der fünfundsechzigjährige Kratochvil zu den kühnsten Autoren der neuen tschechischen Literatur, mißtraut dem üblichen Gewerbe des Epischen und tut alles, um die Abwege und Irrtümer zu entblößen, welche die realistischen Erzähler verdeckten. Er hatte es nicht einfach; kaum hatte er erste Erzählungen publiziert, begann die dunkelste Samisdat-Zeit der siebziger und achtziger Jahre, und er mußte sich, wie Ales, als Nachtwächter und Hilfsarbeiter verdingen. Seine erste bedeutende Romantrilogie erschien nach 1990, Auszeichnungen folgten, und man darf ihn, der allmählich eine internationale Leserschaft findet, zu seinen scharfäugigen deutschen Übersetzerinnen Kathrin Liedtke und Milka Vagadayova nur beglückwünschen.

Kratochvil hat guten Grund, über Familienprobleme zu schreiben. Sein Großvater war ein berühmter neothomistischer Philosoph, und sein Vater, ein Wissenschaftler und liberaler Patriot, mußte nach der kommunistischen Machtübername 1952 in die Bundesrepublik flüchten und ließ seine Frau und vier Kinder in Mähren zurück. Der zukünftige Schriftsteller fand sich als Ältester in der Rolle des stellvertretenden Vaters. Familie als Erlösung, Wunschtraum, Albdruck oder süßes Gefängnis?

Kein Wunder, daß sich die Geschichte von Ales in ein Welt-Panorama von Mensch und Bewußtsein, Göttlichem und Traumhaftem verwandelt. Das besondere Geschick Kratochvils liegt darin, das Post-moderne nicht mit ungreifbaren Abstraktionen zu verwechseln; selbst Tutzi und Dutzi, zwei dämonische Clowns vom Königgrätzer Stadttheater, gehören zur glaubhaften Verwandtschaft, Christoph besitzt ein Beerdigungsinstitut, Felix, der Priester, hat "ontologische Talente", und nachdem Ales sich auf die blasphemischste Art von Tante Seelchen im offenen Sarg verabschiedet hat und Toni Jordan, der Drogenhändler, ihr Nachfolger wird, bleibt wenig Hoffnung. Oder doch?

Ales jedenfalls fährt ins Gebirge, wo er die Krise in einem kleinen Hotel zu überdenken hofft, gerät aber, da man ihm im Zug seine ganze Barschaft gestohlen hat, in eine merkwürdig verwahrloste Gesellschaft, keine Räuberbande, sondern das Angestellten-Kollektiv einer Partisanen-Gedenkstätte. Die angeheiratete Familie ist längst davon überzeugt, daß Ales psychiatrischer Hilfe bedarf, und mobilisiert einen Irrenarzt, ein weiteres Familienmitglied, und während sich die Gedanken des Heimkehrenden im Kreise bewegen, findet er sich in Gesellschaft eines alten Mannes im nebligen Walde, der ihm erklärt, daß menschliche Schicksale nichts anderes sind als Gottesträume. Das Happy-End für Ales ist von romantisch-metaphyischer Art. Die beiden tauschen ihre Rollen, Gott wird Mensch und verschwindet in der Psychiatrie, und Ales sitzt auf dem göttlichen Stuhl vor dem Wohnwagen im Walde und träumt vor sich hin. Zugegeben: dies ist ein selbstironisches Buch der Groteske und des Tiefsinns, und Kratochvils Wirrwarrspiel der Perspektiven und Erzähltricks macht es unmöglich, auf einer einzigen Deutung seiner Geschichte zu beharren. Wenn er Ales einmal den tschechischen Lyriker Vladimir Holan zitieren läßt, der schrieb, "die Dunkelheit ist dergestalt, daß uns Gott mit ausgehöhlten Augen betrachtet", meint er ebenjenen traurigen Gott, der, ganz wie ein störrischer und selbstherrlicher Schriftsteller, die Schicksale der Menschen träumt, auf allen ihren dunklen Wegen.

Jirí Kratochvil: "Der traurige Gott". Roman. Aus dem Tschechischen übersetzt von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayova. Ammann Verlag, Zürich 2005. 187 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2006

Der Zauberstab, die Plattitüde
Alles haltlos, so auch der Roman: Jirí Kratochvils „Der traurige Gott”
Als Gott allmählich den Platz räumte, von dem aus er Gut und Böse getrennt hatte, trat Don Quijote aus seinem Haus und konnte die Welt nicht mehr wiedererkennen. Denn ohne den göttlichen Richter war die Welt schrecklich vieldeutig. Die einzige Wahrheit zerfiel in Hunderte relative Wahrheiten, der Mensch musste sich auf seinen Verstand besinnen. Doch als Gott den Menschen denken sah, begann er zu lachen. Nicht lieblos, nicht hämisch, eher mitfühlend war dieses Lachen, weil dem Menschen auf seiner Suche nach Eindeutigkeit das Wesen der Dinge erst recht entging. Milan Kundera skizziert diese kleine Geschichte in seinem Essay „Die Kunst des Romans”. Und er zieht daraus eine Konsequenz für das Erzählen: Der Roman habe sich der Vielschichtigkeit der Welt zu widmen, den zahllosen Begriffen und Sichtweisen, Gegensätzen und Paradoxien, denen nichts fremder sei als die Vorstellung einer einzigen Wahrheit: „Mir gefällt der Gedanke, daß der Roman als Echo auf Gottes Lachen zur Welt kam”.
Als Kundera 1975 die Tschechoslowakei verließ, hatte sein Kollege Jirí Kratochvil gerade mit den Folgen eines Publikationsverbotes zu kämpfen. Kundera emigrierte nach Paris, Kratochvil blieb in Brünn. Bis heute hält er der gemeinsamen Geburtsstadt die Treue, auch wenn er inzwischen ein wenig außerhalb wohnt. In dem alten Industriezentrum, das stets vom offenen Geist seiner Universitäten und Theater lebte, wollte der Kommunismus nie recht heimisch werden. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings folgte in Brünn eine Zeit, die wesentlich härter war als in der Hauptstadt. So ist es fast ein kleines Wunder, dass Kratochvil nach 1989 seine großen Romane schreiben konnte, wuchernde, groteske Gebilde, die sich alle an einem Porträt der tschechischen Geschichte versuchen. Inzwischen zählt er zu den wichtigsten Autoren seines Landes.
Wir sind allein
Auch wenn die Hauptfigur seines jüngsten Buches in Brünn wohnt, die gesellschaftliche Struktur, unter der sie leidet, könnte man ebenso gut in jeder anderen tschechischen Stadt finden. Dieser Ales, ein Bibliothekar von 40 Jahren, ist das große „Aber” der Familie Jordan. Nicht gerade mit einem starken Selbstbewusstsein ausgestattet, zeigt er doch Mut, wenn es sich für eine gerechte Sache einzusetzen gilt. Das genaue Gegenteil der Jordans also, die an jeder strategischen Stelle ihre Verwandten haben, wie die Maden im Speck hausen. Ein bisschen Kollaboration hier, ein bisschen Kriminalität dort - Hauptsache, die Familiendynastie hält ihre Macht aufrecht. Daran kann auch der Fall des Kommunismus nichts ändern: „Die Familie paßte sich nur munter den veränderten Bedingungen und Umständen an, sie war ein fossiles Ungeheuer, das jederzeit in der Lage war, erneut zu erwachen.”
Selbstjustiz, Bestechung, Klüngelei - sie stehen in Jirí Kratochvils Roman über die gesellschaftliche Gegenwart im Mittelpunkt. Zugleich erzählt er von den Untiefen des Widerstands. Ales’ Ausbruch droht immer wieder zu scheitern. Irgendwann merkt er, dass er der Familie nicht entkommen kann, sondern durch und durch ein Jordan ist, „berauscht von dem Bewusstsein, daß gerade er selbst alles am besten weiß”. Ein hübscher Einfall ist es, diese Szene an Polanskis „Rosemarys Baby” anzulehnen, wie überhaupt der Film seine Spuren in dem Roman hinterlassen hat. Manch selbstverliebter Einschub des Erzählers mag dabei nicht recht ins Bild passen, aber es gelingt Kratochvil dennoch, die Widersprüche einer Nach-Wende-Gesellschaft zu zeigen.
Doch leider reicht die erzählerische Kondition des Autors nicht aus. Dass er all die Verwerfungen meist nur erwähnt und nicht szenisch entfaltet, mag der Leser noch Kratochvils offener Poetik gutschreiben. Weitaus schwieriger mutet die Konstruktion des Romans an. Denn was als Geschichte mit grotesken Einsprengseln und mancher rätselhaften Traumsequenz beginnt, verliert bald schon den Boden unter den Füßen. Plötzlich wechselt der Erzähler auf die Seite der Reflexion und holt den philosophischen Zauberstab aus dem Gepäck, doziert über die Identität oder das Wesen der Gesellschaft, belehrt den Leser und gefällt sich in Plattitüden: „Gewiß, schon von Kindheit an werden wir dazu angehalten, uns bewußt zu machen, daß wir auf dieser Welt nicht allein sind.” Erbarmungslos wird jedes Geheimnis aus der ersten Hälfte des Romans gelüftet. So ebnet Kratochvil all die Schichten wieder ein, die er vorher fein säuberlich herauspräpariert hat.
Zu guter Letzt durchschlägt er auch noch den gordischen Knoten seines Buches. Er erklärt, warum der Erzähler mal in der ersten, mal in der dritten Person spricht. Um immerhin so viel zu verraten: Es hat etwas mit Gott zu tun, der ja schon im Titel des Romans sein Unwesen treibt. Man mag dies als späte Antwort auf Milan Kunderas Thesen deuten. Und ganz ohne Reiz ist die Vorstellung nicht, Gott denke sich die Geschichten der Menschen nur aus, um an ihrer Sterblichkeit teilzuhaben. Doch was für ein harmloser Geselle ist Kratochvils Gott! Kein mitfühlender, lachender Souverän, sondern ein schrecklich langweiliger „Spinner”, der am Ende lediglich zufrieden lächelt. NICO BLEUTGE
JIRÍ KRATOCHVIL: Der traurige Gott. Roman. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová. Ammann Verlag, Zürich 2005. 187 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Nicole Henneberg preist den jüngsten Roman von Jiri Kratochvil als "eindringliche Parabel" und entdeckt in der knappen Erzählung die "Quintessenz" seines bisherigen Romanwerks. Der tschechische Autor nimmt darin die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts in den Blick und fragt nach den Konsequenzen für die Gegenwart, erklärt die Rezensentin. Hauptfigur ist der Dissident Ales, der dem Machtbereich seiner mafiös agierenden und sich mit dem Regime arrangierenden Familie zu entkommen sucht und sich als Hilfsarbeiter durchschlägt; er muss feststellen, dass sich die "Machtverhältnisse" nach der Wende keineswegs geändert haben und flieht schließlich mit Hilfe des "traurigen Gottes", der im tschechischen Hochland in einem schäbigen Bauwagen lebt, in das Vergessen, fasst die Rezensentin zusammen. Eine überaus "raffinierte Parabel", schwärmt Henneberg, die eine besondere Freude an der Darstellung des "traurigen Gottes" hat, der Ales Leben am Ende an seiner Stelle weiter lebt. So handle die Geschichte schließlich auch von den "anarchischen Kräften des Erzählens".

© Perlentaucher Medien GmbH