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Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet…mehr

Produktbeschreibung
Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme - und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt.
Autorenporträt
Niels Werber, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen. Er studierte Germanistik und Philosophie und lehrte an zahlreichen in- und ausländischen Universitäten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Soziale Insekten, Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft, Literatur und ihre Medien sowie Geopolitik der Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2013

Im Superorganismus wird immer kommuniziert

Wo sie nicht überall herumkrabbeln: Niels Werber zeigt, wie das Ameisennest zum Medium der Beschreibung moderner Gesellschaften wurde.

Die Faszinationsgeschichte der Ameisen reicht weit zurück. Man kann sie mit Aristoteles beginnen oder auch mit den Sprüchen Salomons. Und mit den jüngsten Filmen, Monographien und Romanen, die sich um Ameisen drehen, ist sie auch sicher nicht zu Ende. Dazu ist der Reiz offenbar zu groß, die ameisenhaften Formen der Sozialität mit unseren eigenen abzugleichen, zwischen den "Gesellschaften" der Ameisen und unserer eigenen den Blick hin und her gehen zu lassen. Wobei diese Faszination daran hängt, dass die Ameisen mit einfacheren Mitteln zu so erstaunlichen Leistungen sozialer Koordination gefunden zu haben scheinen, wie sie Menschen erst Hunderte von Millionen Jahren später im Medium kultureller Entwicklung hervorgebracht haben. Es ist eine Faszination, die beides gestattet: Eigenschaften der Ameisengesellschaften als vorbildlich hinzustellen und sie als Schreckbild zu verwenden.

Richtig in Fahrt kamen diese Abgleichungen zwischen den Ameisen- und Menschengesellschaften allerdings erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Bis dahin stachen die Ameisen aus dem politisch-moralischen Bestiarium nicht besonders hervor, konnten zum emblematischen und fabelnden Zweck durchaus im Singular auftreten. Dann aber wurde ihr überwältigender Plural wesentlich, ihre Bestimmung als soziale, Gesellschaften und "Staaten" bildende Tiere, unter die sie schon Aristoteles gereiht hatte. Der Abgleich mit ihnen zielte nicht mehr vorrangig auf eine Natur des Menschen, sondern auf jene der Gesellschaft. Es war, um es gleich mit Niels Werber zu formulieren, der Übergang zu einer entomologisch-soziologischen Wechselwirtschaft: Moderne menschliche Massengesellschaften konnten nun als ameisenhaft beschrieben werden, während umgekehrt die Ameisenforscher soziologische Modelle ebendieser Gesellschaften in ihre Beschreibungen der Ameisennester implementierten.

Es ist diese Wechselwirtschaft, der das Augenmerk des Siegener Literaturwissenschaftlers in seinem neuen Buch gilt. Er ist natürlich nicht der Erste, dem Verfahren ins Auge stechen, das Leben in den Ameisennestern - Jagdzüge, Territorialerweiterungen und Sklavenbeschaffung eingeschlossen - auf vielfältige Weise zum Spiegel gesellschaftlicher oder auch nationalstaatlicher Verhältnisse zu machen. Aber Werber bescheidet sich nicht damit, diese Spiegelungen lediglich als vorschnelle Naturalisierungen vor Augen zu führen (die sie freilich sind). Solche mittlerweile etwas zu leichtgängige Entlarvung rückt er in den Hintergrund, um an einigen hervorstechenden Beispielen die Evidenzen genauer ins Auge zu fassen, die für die moderne Wechselwirtschaft von Myrmekologie und Soziologie in Anspruch genommen werden.

Denn interessant an diesen Evidenzen wie den aus ihnen gezogenen Beschreibungen von Gesellschaft ist ja nicht zuletzt, dass sie so unterschiedlich ausfallen. Das zeigt schon der erste zeitliche Schnitt, mit dem Werber operiert, indem er Texte aus den dreißiger Jahren nebeneinanderstellt: einen eher beiläufig anmutenden Verweis von Carl Schmitt auf den Termitenstaat, wie ihn ein zeitgenössischer Entomologe zu politischen Zwecken ins Spiel gebracht hatte, Ernst Jüngers Typologie des "Arbeiters" als Figur des angekündigten endgültigen Abräumens aller bürgerlichen Bestände, Aldous Huxleys biopolitische Abschreckungsprognose in "Brave New World" und Olaf Stapledons Anverwandlung des bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgebrachten Konzepts des Ameisennests als Superorganismus in "Last And First Man".

Schmitt und den Amateur-Entomologen Jünger mag man dabei noch halbwegs auf einen Nenner bringen: die sozialen Insekten als Naturform der absoluten funktionalen Typisierung, in der kein Freiraum für individuelle "bürgerliche" Extravaganzen ausgespart ist. Schmitt sieht in dieser "organischen Preisgabe der Individualität" hübsch paradox eine biologische Lösung der sozialen Grundfrage - so wie sein entomologischer Gewährsmann in der freiwilligen Unterwerfung unters Gemeinwohl den deutschen Führerstaat aufgehen sieht, dagegen die Zwangsmechanik des Termitenstaats dem Bolschewismus vorbehält. Während der demonstrative Antibürger Jünger mit seinem Zeittypus des "Arbeiters" genau diesen Wegfall jeden "Anspruchs auf Eigenart als unbefugte Äußerung der privaten Sphäre" mit Gusto als posthistorisches, also in gewisser Weise wieder naturhaft gewordenes Regime beschwört.

Die Ameisen mögen hier nur in Form rhetorischer Grundierung und Verstärkung verwendet sein - bei Jünger nicht einmal explizit -, aber darin gerade liegt ihr Reiz. Auch bei Huxley sind sie nur indirekt, aber doch nachhaltig präsent, wenn er die Zuchtverfahren zur Etablierung von Kasten identischer und reibungslos in ihren Funktionen wie Vergnügungen aufgehender Individuen beschreibt. Wozu Stapledon fast gleichzeitig mit seiner Evokation der Schwarmintelligenz, deren jüngste Konjunktur noch läuft, eine Gegenevidenz lieferte: nichts bei ihm von funktionsspezifischen Kasten, festgelegten Arbeitsteilungen und zentral durchgesetzten Planungen, dafür nun fast grenzenlose Flexibilität und lokale Kommunikation überall - ein Kontrastmodell medialer Organisation des Sozialen.

Es verwundert dann gar nicht mehr so sehr, dass die Ameisen tatsächlich auch auf das soziologische Feld krabbeln konnten. Max Weber hatte die sozialen Insekten noch als Kontrastphänomen genutzt, von denen die Soziologie gerade nicht handelt, weil sie es mit Individuen als intentionalen Agenten sinnhaft orientierten Handelns zu tun habe. Womit man schon den Verdacht hegen kann, dass die Ameisen bei der soziologischen Durchsetzung einer "rein funktionalistischen Betrachtungsweise" von Gesellschaft, wie sie Weber für die Beschreibung von sozialen Insekten als selbstverständlich konzedierte, eine Rolle gespielt haben könnten.

Werbers Einlösung dieser Vermutung ist ein gutes Beispiel dafür, dass die entomologisch-soziologische Passage in beiden Richtungen funktionierte: William Morton Wheelers entomologische Beschreibung des Nests als Superorganismus nimmt Elemente der Gesellschaftsmodelle von Vilfredo Pareto und Gabriel de Tarde ("Gesetze der Nachahmung") auf und wird dann ihrerseits von Talcott Parsons ins Feld geführt, der wiederum Pate steht für Niklas Luhmanns Systemtheorie. Deren Umstellung der Grundbegriffe von Individuum und Intention auf Funktion, Kommunikation und soziale Medien kommentiert schließlich ein früher Mentor Luhmanns mit dem Hinweis, der Systemtheoretiker blicke hinein in eine Organisation wie in einen Ameisenhaufen und lasse dabei eben nicht einfach gelten, was die Ameisen über sich selbst zu sagen haben.

Was für die Durchsetzungskraft der Ameisenfaszination ja gerade deshalb spricht, weil Ameisen im Unterschied zu uns gar nichts über sich sagen. Aber diese Differenz stört auch einen späteren und entschiedenen entomologischen Nutznießer dieser Übertragungen nicht, nämlich Edward O. Wilson. Dessen Weg von den Ameisen zur soziobiologisch geprägten Weltanschauung und Politikberatung, zuletzt in seinem Buch über "Die soziale Eroberung der Erde" ausgebreitet (F.A.Z. vom 11. Februar), folgt einer recht einfachen Logik: Wir sind keine Ameisen, aber eben doch wie sie, weshalb wir an ihnen von außen - statt in der fatalen, die Geistesund Sozialwissenschaften verderbenden Innenperspektive - beobachten können, wie die Kräfte natürlicher Selektion fortgeschrittene soziale Ordnungen, nämlich unsere eigene formen.

Auch im Fall Edward O. Wilson bleibt Werber bei seiner Grundhaltung, nicht zu schnell beim Verdikt zu landen. Stattdessen verknüpft er die Interpretation der soziobiologischen Programmatik mit jener des "Ameisenromans", in dem Wilson seine Sicht der Probleme und Chancen der amerikanischen Gesellschaft im Spiegel der Ameisen verhandelt. Womit er nicht nur die Naivität von Wilsons Auffassung der Biologie als fundamentale Einheitswissenschaft vor Augen führt, sondern gleich auch noch zeigt, wie der Doyen der Ameisenforschung bei seiner Ausmalung des Nests als Vorbild für die (amerikanische) Gesellschaft plötzlich mit Empfehlungen hantiert - die Notwendigkeit einer Elite, an der sich die Masse willig orientiert -, die absolut nicht aus der Beschreibung des Superorganismus des Ameisennests stammen.

Das biologische Aufklärungsprogramm des aufrechten Pfadfinders Wilson bekommt so die richtige Beleuchtung. Die vermeintliche Vorbildfunktion oder gar Autorität der Natur ist eben immer eine entliehene. In Niels Werbers Buch und an den Ameisen kann man einiges darüber lernen, warum diese eigentlich elementare Einsicht immer wieder gern überspielt wird.

HELMUT MAYER.

Niels Werber: "Ameisengesellschaften". Eine Faszinationsgeschichte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 475 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Markus Wild spürt es Krabbeln in diesem Buch des Literaturwissenschaftlers Niels Werber. In der Tat, die Ameisen sind überall. Nicht zuletzt deshalb, meint Wild, weil der Autor sie überall sehen will. Um die anvisierten Übertragungen zwischen Ameisenkunde, Literatur und Soziologie und die Analogien bzw. Identitäten zwischen Ameise und Mensch und die ihnen zugrundeliegenden Imaginationen sichtbar zu machen, projiziert der Autor laut Wild schon mal die Schwarm-Forschung der 1980er Jahre zurück auf einen Sci-Fi-Roman von 1930. Bezüglich des großen Krabbelns bleibt für Wild die Frage nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften offen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2013

Im wimmelnden Spiegel
Der Literaturprofessor Niels Werber hat ein äußerst erhellendes Buch über Ameisen
geschrieben. In dem es zugleich um menschliche Gesellschaft und Geschichte geht
VON BURKHARD MÜLLER
Bill Gates, Chef von Microsoft, und Michael Eisner, Chef von Disney, fliegen zusammen mit dem Jetpack hoch über der Erde dahin. „Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben“, merkt Eisner an. Gates korrigiert ihn: „Nein, Michael, es s i n d Ameisen.“
  Mit dieser kleinen Episode aus der Comic-Serie „Family Guy“ beginnt Niels Werber, Professor für Neuere Deutsche Literatur in Siegen, sein Buch „Ameisengesellschaften – Eine Faszinationsgeschichte“. Sie dient natürlich zunächst einmal dazu, die Blasiertheit der beiden Milliardäre dem befreienden Lachen auszuliefern. Aber darüber hinaus macht sie deutlich, wie sehr es beim distanzierenden Blick auf die Menschheit heute die Ameisen sind, die sich aufdrängen – und dass es sich bei ihnen keineswegs bloß um eine Metapher handelt, um einen vorgegebenen Tatbestand nach Belieben zu illustrieren. Ihr Bild, einmal eingelassen, reißt das Denken mit an Orte, über die es keine Kontrolle mehr hat.
  Es entsteht etwas, das Werber (mit einem vielleicht etwas zu harmlosen Wort) eine „Passage“ nennt: eine nahezu unwillkürliche Kurzschlussverbindung zweier an sich weit getrennter Wissensgebiete und Denkformen, in diesem Fall der Entomologie (der Lehre von den Insekten) und den Disziplinen, die vom Menschen als sozialem, politischem und ökonomischem Wesen handeln. Werber legt seine „Faszinationsgeschichte“ darum zweigleisig an; immer hat er die Naturwissenschaftler einerseits, die Philosophen, Soziologen, Belletristen und Filmemacher andererseits zugleich im Blick. Darum sieht er, um es zugespitzt auszudrücken, sehr viel genauer, was diese Ameisen insgesamt treiben, als diese es je für sich selbst könnten.
  Werber erkennt das Neue, das der altbekannten Ameise in der Moderne zugewachsen ist. Von jeher ist die Menschheit, die sich nach Parallelen für ihre eigenen Strukturen umsieht, notwendig bei den sozialen Insekten herausgekommen, weil alle anderen Tiere eben nur sehr viel schlichtere Organisationsformen haben. Doch frühere Zeitalter hielten sich ans gemächlichere Muster der Honigbiene, die man symbolisch oder allegorisch interpretierte, um ihren Fleiß, ihren Gehorsam und ähnliche Tugenden dem Menschen als vorbildlich hinzustellen. Mit der Ameise, deren soziale Dimension bis weit ins 19. Jahrhundert erstaunlicherweise so gut wie gar nicht in den Blick kam, kommt ein weit intensiveres Paradigma in den Mittelpunkt des Interesses. Was man lange gar nicht sah, besitzt auf einmal die Unwiderleglichkeit der Evidenz. Zu den Stärken von Werbers Buch gehört die Darstellung, wie im wimmelnden Augenschein gestaltensehend die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Modelle wahrgenommen wurden. Faschisten, Sozialisten, Imperialisten, Altruisten, Anarchisten, alle kommen sie bei den Ameisen auf ihre Rechnung.
  Sie s e h e n es doch – warum da noch viel herumdeuten? Dabei bleibt das an sich augenfälligste Merkmal der Ameisenstaaten, nämlich dass sie die erforderliche Einhelligkeit ohne die Vermittlung von Zeichen und Kommandos erzielen (und ohne die für Menschengemeinschaften typischen Reibungsverluste), lange ohne Folgen für die kollektive Imagination. Das ändert sich erst, als die Menschheit meint, ein genaues Äquivalent gefunden zu haben, und zwar mit dem Internet: Auf einmal rühmt man den kleinen Tieren eine „Schwarmintelligenz“ nach, die man auch gern hätte. Dann dürfte man, trotz der Erfahrung der eigenen Beschränktheit, dennoch die Sicherheit genießen, beim einzig Richtigen jedenfalls mitzumischen.
  Myrmekologen oder Ameisenforscher gibt es nach Werbers Schätzung nur rund 500 auf der Welt, in markantem Gegensatz zu den etwa zehn Billiarden Ameisen (oder 1,5 Millionen Exemplaren pro Kopf der menschlichen Erdbevölkerung). Trotzdem vermochten sie es, die zeitgenössischen Debatten der Biologie – und der Gesellschaft überhaupt – in bemerkenswertem Maß zu prägen. Wer „Ameise“ sagt, weiß, dass der klassisch darwinistische Satz, die Evolution setze am Einzelnen an, erheblich zu modifizieren ist. Doch ob dabei kin selection , also die Begünstigung von genetischen Verwandten, oder group selection , die Auswahl des gemeinsam agierenden Zweckverbands, zum Zuge kommt, das stellt die gegenwärtig am heißesten umstrittene Frage der Evolutionstheorie dar. (Davon hängt es zum Beispiel ab, ob man eine Nation als Abstammungs- oder als Interessengemeinschaft bestimmen will.)
  E. O. Wilson, Nestor der Myrmekologie und nebst seinem Todfeind Richard Dawkins gegenwärtig berühmtester Biologe der Welt, hat neuerdings für die group selection optiert und damit für große Aufregung gesorgt. Der Arroganz und Blindheit, mit der Wilson fordert, die Gesellschaft und die Menschheit insgesamt müsse sich seine an den Ameisen gewonnenen Überzeugungen auf direktem Weg zu eigen machen, hat Werber ein besonders erhellendes Kapitel gewidmet.
  Dieses Buch mit seinem nur scheinbar entlegenen Gegenstand ist wahrhaft auf der Höhe der Zeit. Außer der Ameise haben wir keinen Spiegel, in dem wir uns als Wesen der Masse und des Kollektivs betrachten können; und selbst die kosmischen Aliens in den Science-Fiction-Filmen vermögen, wie Werber sehr schön zeigt, der Phantasie kein höheres Maß an fremder Nähe zu liefern, als wir es bereits an unseren winzigen Nachbarn besitzen. Wie alle Spiegel hat auch dieser die starke Tendenz, gerade in seiner Objektivität hauptsächlich demjenigen zu gleichen, der hineinguckt – ein Paradox, das den positivistischen Forschern zu entgehen pflegt. Werbers so origineller wie fruchtbarer Doppelzugriff hat die Kraft, dieses Paradox durchschaubar zu machen. Auf die Anmaßung der Naturwissenschaften, die sich als normative Instanz aller Lebensbereiche empfehlen wollen, antwortet es mit einer Reflexion, die die Voraussetzungen des scheinbar Voraussetzungslosen ans Licht hebt. Dass es dabei auch sehr spannend, unterhaltsam und mit großer stilistischer Souveränität zugeht, sodass man Werbers Buch, für ein wissenschaftliches Werk gewiss nicht selbstverständlich, auch als Laie bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen mag, sei nur am Rand erwähnt.
  Nur eines hat der Rezensent vermisst: Zu der nie allzuweit vom Gruseln entfernten Faszination, die ein Ameisenhaufen auslöst, gehört es auch, dass sein Anblick das Individuum nicht nur in Richtung nach außen und oben, zur Gesellschaft hin, fragwürdig macht, sondern auf eine noch weit intimere Weise – an diesem stummen und niemals missglückenden Zusammenspiel der vielen kleinen Einheiten zum Ganzen eines Superorganismus haben wir ein beunruhigendes Gleichnis von dem, was auch in unserem eigenen, aus Milliarden von Zellen zusammengesetzten Körper vor sich geht. Auch ein Mensch ist in diesem Sinn ein Schwarm, sinnreich verbunden zweifellos, doch möglicherweise viel lockerer, als es sich mit seinem naiven Selbstgefühl vereinbaren lässt. Spätestens wenn man merkt, wie einem die ersten Ameisen im Hosenbein hochkrabbeln, tritt man gewöhnlich mit allen Zeichen der Panik vom Haufen zurück.
Niels Werber: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte. S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 2013. 475 S., 24,99 Euro .
Nun rühmt man den Ameisen
eine „Schwarmintelligenz“
nach, die man auch gern hätte
Auch ein Mensch ist irgendwie ein
Schwarm, lockerer als mit
seinem Selbstwertgefühl vereinbar
Zum Studium des Kollektivs ins Ameisenreich – Szene aus „A Bug’s Life“, 1998, aus dem Pixar-Studio.
FOTO: PIXAR
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'Ameisengesellschaften' von Niels Werber liest sich trotz seines komplexen Gegenstandes leicht und spannend. Matthias Eckoldt Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20140120