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Gillian ist eine erfolgreiche Fernsehmoderatorin, sie ist eine schöne Frau, sie führt eine abgesicherte Beziehung mit Matthias, sie hat ihr Leben unter Kontrolle. Eines Nachts hat das Paar nach einem Streit einen Unfall, ihr Wagen rammt auf nasser Straße ein Reh. Matthias stirbt, sie erwacht im Krankenhaus. Mit einem zerstörten Gesicht. Erst langsam setzt sich ihr Leben wieder zusammen und eine Geschichte aus der Vergangenheit wird zu einer möglichen Zukunft. Eindringlich, mit leisen Worten und unausweichlichen Bildern erzählt Peter Stamms neuer großer Roman von einer Frau, die ihr Leben…mehr

Produktbeschreibung
Gillian ist eine erfolgreiche Fernsehmoderatorin, sie ist eine schöne Frau, sie führt eine abgesicherte Beziehung mit Matthias, sie hat ihr Leben unter Kontrolle. Eines Nachts hat das Paar nach einem Streit einen Unfall, ihr Wagen rammt auf nasser Straße ein Reh. Matthias stirbt, sie erwacht im Krankenhaus. Mit einem zerstörten Gesicht. Erst langsam setzt sich ihr Leben wieder zusammen und eine Geschichte aus der Vergangenheit wird zu einer möglichen Zukunft. Eindringlich, mit leisen Worten und unausweichlichen Bildern erzählt Peter Stamms neuer großer Roman von einer Frau, die ihr Leben verliert, aber am Leben bleiben muss - eine Tragödie, die zu einem Neuanfang wird.
Autorenporträt
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.Literaturpreise:Rheingau Literatur Preis 2000Bodensee-Literaturpreis 2012Friedrich-Hölderlin-Preis 2014Cotta Literaturpreis 2017ZKB-Schillerpreis 2017Solothurner Literaturpreis 2018Schweizer Buchpreis 2018
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ganz so einfach hätte es sich der Autor laut Roman Bucheli nicht machen sollen. Von Frischs "Stiller" her gesehen kommt ihm Peter Stamms Roman wie die Schwundstufe der Literatur vor. Dies, weil nämlich Stamm für Bucheli allzu esoterisch von Selbstverlust und Selbstfindung schreibt (hier: einer ehedem erfolgreichen Schauspielerin, die nach Autounfall zu sich selbst, d.h. die Freiheit findet). Das Motiv wird vom Autor ohne größeren Erkenntnisgewinn oder Ironie derart durchexerziert, dass Bucheli bald die Nase voll hat. Mehr als Kitsch bleibt am Ende nicht übrig, erklärt er einigermaßen verärgert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.08.2013

Bloß nicht das Gesicht verlieren
In Peter Stamms neuem Roman „Nacht ist der Tag“ haben es Kulturredakteure nicht leicht –
und die ausgelaugte Kunst strandet in den Bergen von Graubünden
VON HANS-PETER KUNISCH
In einem Gespräch mit der Zeitschrift Psychologie heute erzählte Peter Stamm in diesem Frühjahr, er könne sich beim Schreiben die Gesichter seiner Figuren nie vorstellen. Jetzt, drei Monate später, kommt sein neuer Roman, der davon handelt, dass eine Frau ihr Gesicht verliert.
  Ganz real. Bei einem Autounfall, den Matthias, ihr Mann, nicht überlebt, wird Gillians Gesicht zerschnitten. Der Körper ist bis auf ein paar Schrammen derselbe, aber an der Stelle, wo die Nase war, ist ein Loch. Nach ein paar Operationen, sagt der Arzt, werde einer, der sie nicht kenne, nichts merken. Das klingt nicht wirklich beruhigend. Gillian ist eine bekannte Fernseh-Kulturfrau: Sie lebt von ihrem Gesicht, und der Unfall verändert ihr Leben. Auch, weil sie sich am Tod von Matthias mitschuldig fühlt. Sie hatte versprochen, bei der Silvesterparty nichts zu trinken, das Versprechen aber, weil sich die beiden stritten, nicht gehalten, worauf Matthias fuhr und mit 1,4 Promille einem Reh nicht mehr ausweichen konnte.
  Tatsächlich, Stamms Figuren haben keine Gesichter. Mehr als rote Lippen sieht man kaum. Auch die Orte, an denen das Buch spielt, tauchen nur schemenhaft auf. Am Anfang dürfte es die Gegend um Zürich sein, doch bis auf Seite 153 von der Militärausrüstung im Schrank die Rede ist, ahnt man nur, dass es die Schweiz sein soll. Außen ist Mittelklasse, überall, aber die Reise des Autors und abgebrochenen Psychologie-Studenten Peter Stamm geht auch diesmal nach innen. Wieder ist es ein Bewusstseinsroman geworden, obwohl der Anlass des Streits, der den Unfall mitverursacht hat, in eine andere Richtung zu zielen scheint: Matthias hat in Gillians Schreibtisch einen Film gefunden und zum Entwickeln gegeben. Es sind Nacktaufnahmen seiner Frau, die er ihr auf den Tisch knallt, aber sie will ihm nicht sagen, woher sie sind.
  Noch deutlicher als in Stamms vorangegangenem Roman „Sieben Jahre“, ist es ein Szenario am Rande des Kitschs: heimliche Fotos, Ehekrise, Unfall. Und Fotograf Hubert, der nicht nur das Fernsehgesicht nackt gesehen hat, ist ein angesagter Künstler,der x-beliebige Frauen auf der Straße anspricht, unbekleidet fotografiert und dann malt, alte wie junge, dicke wie dünne. Voll im Trend. Gillian macht einen TV-Beitrag über ihn, er fasziniert sie durch seine kühle Art. Unter dem falschen Namen „Fräulein Julie“ nimmt sie per E-Mail Kontakt auf. Es kommt zu den Aufnahmen, aber, trotz Avancen von Gillian, zu keiner Affäre. Hubert, so heißt der Künstler, erklärt plötzlich, seine Frau erwarte in einem Monat ein Kind von ihm.
  Wieder nimmt sich Stamm modernisiertes, schick gewordenes Kleinbürgertum vor – Matthias ist Kulturredakteur einer Illustrierten, in der es kaum Kulturseiten gibt –, aber er denunziert seine Figuren nicht, sondern nimmt sie mit melancholischer Sorgfalt wahr. Mit nie erlahmendem Ernst bohrt er in ihren Wunden, verfolgt, was sich tut, wenn er seine Menschen mittlerer Größe der einen oder anderen existenziellen Krise aussetzt. Was passiert, nachdem der nicht mehr geliebte Matthias tot ist und Gillian nicht mehr schön? Verändert sich dennoch oder deswegen ihr Verhältnis zu Hubert?
  Zuerst verändert sich die verletzte Gillian. Sie duscht nur noch selten, isst Junkfood. „Sie nahm zu und bekam Pickel am Rücken und am Kinn. Zum ersten Mal seit Jahren nahm sie ihren Körpergeruch wahr.“ Gillian passt sich ihrem kaputten Gesicht an und während sie in ihrer Wohnung zu verwahrlosen beginnt, schafft es Stamm, Gillians Faszination für den Unsympathen Hubert nachvollziehbar zu machen. Stamm konzentriert sich auf ihren gebannten Blick und legt ihm steile Sätze in den Mund: Professionelle Nackt-Models interessieren nicht, „sie haben Übung darin, sich auf ihren Körper zu reduzieren und ihre Nacktheit wie ein Kleid zu tragen“. Worum geht es in der Kunst: „Es geht nicht um den Künstler, es geht um das Kunstwerk. Und das hat weder mit dem Künstler noch mit dem Modell etwas zu tun.“
  Doch nach dem Unfall meldet sich Hubert nicht mehr. Gillian weiß nicht einmal, ob er erfahren hat, was mit ihr geschehen ist. Irgendwann denkt sie nicht mehr an ihn. Sie wollte doch mit Matthias in die Berge, ins Ferienchalet ihrer Eltern. Auch die – Vater Autowerkstattbesitzer, Mutter Stewardess – können schlecht mit der Veränderten umgehen. Gillian wird alleine hinfahren. Richtige Freunde hat sie ohnehin keine, und was als Kurzurlaub getarnt ist, erweist sich als Rückzug auf Dauer.
  Sehr gut gelungen ist Stamm ein überraschender Perspektivenwechsel im zweiten Teil. Plötzlich nistet sich der Erzähler in der Innenwelt von Hubert ein, sechs Jahre später, und was man nur ahnte, erscheint nun unabweisbar. Er ist ein Wurm. Dank seiner kurzfristigen zwielichtigen Berühmtheit, hat man ihm eine Professur hinterhergeworfen, und, ob diese Berufung nur Auslöser oder Ursache war: Hubert fällt nichts mehr ein, nachdem er den ersten Flash hinter sich hat und seine nackten Hausfrauen leid geworden ist. Gerade ist seine Frau dabei, sich von ihm zu trennen. Astrid schwärmt jetzt für Energiearbeit und den Laufbahncoach Rolf. Das ist der zweite Schritt der Stammschen Desillusionierungsmaschinerie: Nicht bloß die sekundären Figuren des Kulturbetriebs, die Vermittler, sind nur in ihrer Banalität interessant. Auch der coole Künstler ist nicht mehr als ein träger Zauderer mit den üblichen Problemen.
  Doch damit nicht genug. Geschickt lässt Stamm seine maroden Protagonisten noch einmal aufeinandertreffen. Gillian ist nicht wieder von ihrem Berg heruntergekommen, aber sie holt Hubert, was weder er noch der Leser weiß, zu sich hoch. Als Hubert aus Graubünden eine Einladung erhält, seine jüngsten Werke in einem Clubhotel- und Kulturzentrum zu präsentieren, in dem er einst eine Skandalausstellung hatte, nimmt er trotz fehlender Ideen an. Und sieht auf einem Bildchen im Club gleich, dass Jill, wie sie sich jetzt nennt, dort Entertainment-Chefin geworden ist. Das Chalet der Eltern, in dem Jill noch immer wohnt, ist nur ein paar Kilometer entfernt.
  Die Edelprovinz als Abstellplatz aus der Bahn geworfener Halbprominenz. Gillian hätte beim Fernsehen noch hinter den Redaktionstisch gekonnt, aber was sie wollte, war die Kamera. Jetzt tritt sie, ordentlich verheilt, bei Bauernschwänken auf, die im Club produziert werden. Und es gefällt ihr. Am Anfang habe sie, die einstige Schauspielschülerin, ironische Distanz gepflegt, erklärt sie Hubert, aber jetzt fühle sie sich in der großen Familie des Clubs wohl.
  So geduldig wie gnadenlos bleibt Stamms zärtlich misanthropischer Blick bei seinen vom Leben gebeutelten Protagonisten. Er ist ein sanfterer früher Houellebecq. Man spürt Huberts Entsetzen, als er Gillian in ihrer neuen Rolle sieht, und verfolgt, wie er, als Zeichenlehrer, nach einiger Zeit selber im Club mit dabei ist, aber auch das ist noch nicht das Ende.
Matthias ist Kulturredakteur
einer Illustrierten, in der es
kaum Kulturseiten gibt
Models, sagt in Peter Stamms neuem Roman der Unsympath Hubert, ein Künstler ohne Ideen, tragen ihre Nacktheit wie ein Kleid. Puppen wie diese in einem Pistencafé im Engadin tragen lieber Schmuck.
FOTO: K. HOFFMANN/LAIF
      
  
  
  
  
  
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2013. 256 Seiten. 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2013

Es ist alles noch da, nur ich bin weg

Der Schweizer Peter Stamm hat sich mit seinen Büchern über Menschen in Lebenskrisen ein riesiges Publikum erschrieben. Sein neuer Roman "Nacht ist der Tag" erzählt von einer Frau, die ihr Gesicht verlieren muss, um sich wiederfinden zu können.

Wenn es um die Romane und Erzählungen Peter Stamms geht, ist gern die Rede von dem "Sog", den seine Werke auf den Leser ausüben. Gemeint ist, dass Stamm es versteht, mit seinen Schilderungen gewöhnlicher Menschen in der ganzen und jedem vertrauten Unerfülltheit ihres Seins eine Spannung zu erzeugen, der man sich kaum entziehen kann. Obwohl die Begebenheiten und Charaktere nicht spektakulär sind, lassen einem seine Bücher keine Ruhe, bis man sie ausgelesen hat.

Das ist auch bei Stamms neuem Roman "Nacht ist der Tag" der Fall, der in der kommenden Woche erscheint. Diesmal steht die Wende am Anfang. Gillian, eine Frau Ende dreißig, erwacht im Krankenhaus. Ihr Mann ist bei dem Autounfall nach einer Silvesterparty, vor der sie sich gestritten hatten, gestorben. Sie selbst ist zwar mit dem Leben davongekommen, aber in ihrem hübschen Gesicht klafft da, wo früher die Nase war, ein Loch. Die Ärzte beruhigen sie mit Hinweisen auf die Fortschritte der plastischen Chirurgie, doch was Gillian empfindet, ist ohnehin keine Panik, sondern eher in Watte und Sedative gepackte Erleichterung, fast so, als sei ein Bluff endlich aufgeflogen. "Gillian hatte immer gewusst, dass sie in Gefahr war, dass sie irgendwann bezahlen musste für alles. Jetzt hatte sie bezahlt. Ihr Job, ihre Eltern, Matthias gehörten zu einem anderen Leben. Es ist alles noch da, sagte sie, nur ich bin weg."

Aus diesem Eindruck des Wegseins, dem sogar etwas Entlastendes, Tröstliches innewohnt, speist sich der Roman, der nach der Eingangsszene zunächst in Rückblenden von Gillians Leben vor dem Unfall erzählt. Mit ihrem Mann Matthias, "Kulturredakteur einer Illustrierten, in der kaum über Kultur berichtet wurde", hat sie ein perfektes Leben geführt, mit schicken Klamotten, teuren Restaurants, wohlsituiertem Freundeskreis und Kurzaufenthalten in Wellness-Hotels. Mit dem beruflichen Erfolg mehren sich aber auch die Kompromisse. Die glatte Oberfläche bekommt Risse. Nachdem Gillian als Fernsehmoderatorin bekannt wird, verschieben sich die Gewichte der Beziehung, und sie merkt, dass ihr Mann zwar jeden kennt, "aber niemand ihn wirklich ernst nahm". Doch wie auch andere Unterschiede in Temperament und Temperatur zwischen dem Paar wird seine Eifersucht nie angesprochen.

Immer wieder denkt Gillian in den Wochen und Monaten ihrer Genesung, dass ihr Leben vor dem Unfall "eine einzige Inszenierung" gewesen ist: "Es musste falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war, durch eine Unachtsamkeit, eine falsche Bewegung." Dass wohl jedes Leben auf ähnlich leise und lakonische Art aus dem Lot zu bringen wäre, macht sie sich nicht klar.

Gillian ist - nachdem Stamms Protagonisten zuletzt meist männlich waren - trotz des Unfalls und ihres Wegs in ein Leben, das ihr mehr entspricht als das vorherige, keine Frau, die man als Kämpferin bezeichnen würde. Sie ist introvertiert bis zur Egozentrik und hat, wie der Unfall tragisch offenbart, im Grunde keine engen Freunde. Selbst ihre Eltern tun sich schwer, der Tochter Geborgenheit und Fürsorge zu geben; die Mutter traut sich gar nicht ins Krankenhaus, die Besuche des Vaters lehnt sie mitunter sogar ab. Der Unfall hat einen Bruch, der sich seit langem ankündigte, als Riss offenbart.

Denn vielleicht weil sie durch ihren Fernsehjob so oft angeschaut wird, hat Gillian den Eindruck, zu verblassen, buchstäblich unsichtbar geworden zu sein hinter der gekonnt geschminkten Maske von Erfolg, Glück und Attraktivität. Darum sucht sie Kontakt zu Hubert Amrhein, einem Künstler, den sie einmal für ihre Sendung interviewt hat und für den sie eine Art Obsession entwickelt. Er spricht Frauen auf der Straße an, und wenn sie einwilligen, fotografiert er sie nackt bei alltäglichen Verrichtungen. Er malt sie dann oft erst nach Monaten, wenn er ihre Namen bereits wieder vergessen hat.

Aus Gründen, über die sie lieber nicht nachdenkt, mailt Gillian Hubert unter einem falschen Namen an, in der Hoffnung, dass er sie bittet, ihm ebenfalls Modell zu stehen. Aber er zögert, und als er sie schließlich doch fotografiert, weiß Gillian, dass sie sich ihm aufgedrängt hat, ist verkrampft und künstlich. Die Begegnung endet mit einem verunglückten Annäherungsversuch Gillians - bis Gillians Mann den Film in der Schublade ihres Schreibtischs entdeckt, ihn entwickeln lässt, sie mit den Aufnahmen konfrontiert, keine Antwort bekommt und sich an Silvester betrinkt, bevor er sich ans Steuer setzt und ein Reh ihren Weg kreuzt. Und doch ist es nicht in erster Linie das Schuldgefühl, das Gillian davon abhält, ganz mit ihrem früheren Leben abzuschließen, sondern eher die diffuse Überzeugung einer schicksalhaft beglaubigten Verbindung.

Eine Liebesgeschichte ist es nicht, die "Nacht ist der Tag" erzählt, eher die Geschichte einer Rettungsphantasie oder Projektion, wie sie so oft mit Liebe verwechselt wird. Denn Gillian ist fasziniert von Hubert - oder jedenfalls von der Hoffnung, dass hier endlich jemand sein könnte, der sie nicht bloß anschaut, sondern tatsächlich sieht. Wie sich herausstellt, ist dieser Wunsch nach dem Unfall nicht weniger dringend als davor, denn als nach einigen Jahren aus Gillian Jill geworden ist und aus der Moderatorin die Chef-Entertainerin eines Wellness-Hotels in den Bergen, sorgt sie dafür, dass sich ihre und Huberts Wege abermals kreuzen. Auch der hat einiges wegzustecken gehabt. Seitdem er an der Kunsthochschule lehrt und die Trennung von seiner Frau hinnehmen musste, hat er seine eigenen Arbeiten vernachlässigt, und so nimmt er die Einladung zu einer Ausstellung in den Bergen an in der Hoffnung, dass mit dem Produktionszwang ein Kreativitätsschub kommt.

Es gehe ihm um das Kunstwerk, sagt Hubert einmal zu Gillian. "Und das hat weder mit dem Modell noch mit dem Künstler zu tun." Dieser Satz lässt sich durchaus auch als Selbstauskunft Stamms verstehen, der immer wieder betont, dass er zwar ein starkes psychologisches Interesse an seinen Figuren hat, aber gar nicht erst versucht, diese zu analysieren, weil es ihm vor allem um die Darstellung und die Form geht. Diese ist bei Stamm stets schlank und puristisch; er lässt weder seine Charaktere noch Ereignisse ausschweifen, sondern erzeugt Intensität gerade über die völlige Konzentration auf seine Protagonisten und deren Perspektive. In diesem Fall ist das zunächst jene von Gillian, im zweiten Teil die von Hubert. Beide teilen die Grundstimmung aller Stammschen Protagonisten, nämlich den Eindruck, im eigenen Leben herumzuirren, auf der Suche nach etwas, dem man eher aus Hilflosigkeit denn Überzeugung die Namen anderer gibt. Dass einem die Figuren auch in diesem Roman nah kommen, ohne sonderlich sympathisch zu sein, hat mit jenen Fragen zu tun, die sich jeder irgendwann einmal stellt und die den eigentlichen Antrieb von Stamms Literatur bilden. Diesmal ist es die, wie viel Neuanfang überhaupt möglich ist. Und es schwingt auch jene mit, die bereits in "Sieben Jahre" (2009) zentral war, nämlich welche Macht derjenige über uns hat, der uns liebt oder zumindest begehrt.

Nicht erst seit seiner Nominierung für den Man Booker International im Frühjahr gehört Peter Stamm zu den auch im Ausland erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Dass gerade ein so leiser, unaufgeregter Schriftsteller global verstanden wird, hat nicht nur mit der Qualität und Intensität seiner kammerspielhaften Prosa zu tun, sondern ebenso mit dem, was über die Literatur hinausreicht. In unserer durchleuchteten Zeit drohen die Wünsche, Träume und Ziele zu banalen Datensätzen zu werden. Indem er die Gewöhnlichkeit unserer inneren Ausnahmezustände nicht leugnet, sondern genau und ohne Überheblichkeit beschreibt, gibt Peter Stamm seinen Figuren und mit ihnen seinen Lesern ihr Geheimnis zurück.

FELICITAS VON LOVENBERG

Peter Stamm: "Nacht ist der Tag". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 252 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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