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Was wissen wir vom Balkan? Seit der Auflösung Jugoslawiens gilt Südosteuropa fast nur noch als Konfliktherd voller Streit, Gewalt und unversöhnlicher Feindschaft. Aber vielleicht spiegelt diese Vorstellung eher unsere Unkenntnis und unsere Vorurteile wieder als die Wirklichkeit.
Ist der Nachbar nebenan Freund oder Feind? Zu dieser Frage haben sich 22 der bekanntesten Autoren aus Albanien, Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien in Form von biographischer Erinnerung, Erzählungen oder Essays zur Wort gemeldet. Das Buch erscheint gleichzeitig in fünf Ländern und allen Sprachen der Beiträger.

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Produktbeschreibung
Was wissen wir vom Balkan? Seit der Auflösung Jugoslawiens gilt Südosteuropa fast nur noch als Konfliktherd voller Streit, Gewalt und unversöhnlicher Feindschaft. Aber vielleicht spiegelt diese Vorstellung eher unsere Unkenntnis und unsere Vorurteile wieder als die Wirklichkeit.

Ist der Nachbar nebenan Freund oder Feind? Zu dieser Frage haben sich 22 der bekanntesten Autoren aus Albanien, Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien in Form von biographischer Erinnerung, Erzählungen oder Essays zur Wort gemeldet. Das Buch erscheint gleichzeitig in fünf Ländern und allen Sprachen der Beiträger.
Autorenporträt
Swartz, RichardRichard Swartz wurde 1945 in Stockholm geboren, studierte dort und in Prag und war fast 40 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent vom »Svenska Dagbladet« in Wien und Sovinjak (Istrien). Er ist Autor zahlreicher Bücher, 1997 erschien 'Room Service', seine erste belletristische Veröffentlichung, der weitere folgten, 2007 erschien bei S. Fischer seine Anthologie 'Der andere nebenan'. Swartz ist mit der kroatischen Journalistin Slavenka Drakulic verheiratet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2008

Das Glück, das uns hier hält
Die Anthologie „Der Andere nebenan” erkundet den Balkan
Ein Treffen mit alten Freunden, Schulfreunden, wenn auch unter besonderen Umständen, „in der Ruine unserer Grundschule”. Man trinkt und erzählt, bis plötzlich Ante den ihm gegenübersitzenden Marko fragt, ob er wirklich sein bester Freund sei. Selbstverständlich, antwortet Marko, schließlich sei man aufgewachsen wie ein Brüderpaar. „Warum hast du dann meine Eltern abgeschlachtet?”, fragt Ante und binnen weniger Sekunden schlägt die Szene um, man stürzt sich auf Marko, der beharrlich jede Schuld leugnet, tritt auf ihn ein; es beginnt nach Blut zu riechen; schließlich reißt Ante seinem ehemals besten Freund in einem gewaltigen Kraftakt den Unterkiefer heraus.
Ein wenig zu gut ausgedacht ist das, so denkt man sich während der Lektüre von Slavenka Drakulics Text, einer von „Drei Monologen über die Anderen”, ein wenig zu konstruiert in dem Vorsatz, das Verschwimmen von Gut und Böse aufscheinen zu lassen, den Augenblick zu zeigen, in dem das Atavistische sich Bahn bricht und in Gewalt umschlägt. Und dann die Frage: Ist es überhaupt ausgedacht? „Jede Ähnlichkeit mit realen Ereignissen ist beabsichtigt” hat Drakulic in Klammern über ihren als dokumentarisch ausgegebenen Beitrag zu der von Richard Swartz herausgegebenen Anthologie geschrieben; es ist anzunehmen, dass das seine Gründe hat.
Mehr als 30 Jahre lang war der Schwede Richard Swartz Osteuropakorrespondent für das Svenska Dagbladet; in „Der Andere nebenan” liefern 21 Autoren aus der Region Beiträge, die zur Lösung des Rätsels Balkan beitragen sollen; einer Region, die von jeher als „Pulverfass Europas” (Swartz) galt, einem Gebiet, in dem mitten in die Aufbruchsstimmung einer vermeintlich freien Welt nach 1989 ein in seiner Brutalität beispielloser Krieg ausbrach. „Der Zweck dieser Anthologie ist rein literarisch”, so schreibt der Herausgeber in seinem Nachwort, „hier liegt ein Buch mit Gegenwartsprosa aus Südosteuropa vor, nicht mehr und nicht weniger.” Das ist grundfalsch, und Swartz müsste es angesichts der Auswahl der Autoren besser wissen; stellt er doch selbst fest, dass ein Großteil der Schriftsteller, die Beiträge geliefert haben, noch immer im Exil leben und arbeiten – der Focus verschiebt sich so zwangsläufig.
Eine Definition von Heimat
Der andere, diesem Begriff widmen sich nicht wenige der Texte in unterschiedlicher Form. Miljenko Jergovic, in Sarajevo geboren, exerziert das ethnische Durcheinander, das im ehemaligen Jugoslawien herrschte, anhand seiner eigenen Familiengeschichte durch: Sein Großvater Karlo, ein Deutscher, sprach mit seinen Kindern ausschließlich deutsch, später jedoch mit den Ehemännern seiner Töchter kroatisch, obwohl sie des Deutschen mächtig waren; mit den Enkelkindern hingegen in beiden Sprachen, aber nur, wenn er zuvor auf Kroatisch angesprochen wurde. Karlos Definition von Heimat war ganz einfach – Heimat war dort, wo die anderen nicht sind. Und Jergovic selbst stellt später fest: „Das ist also die entscheidende Nuance in unserer Identität, aufgrund derer wir dort leben, wo wir hier leben, obwohl wir nicht der Mehrheit angehören: Es ist das Glück, das uns hier hält, und dieses Glück hat uns immer wieder das Leben gekostet.”
Nicht alle Beiträge sind, versteht sich, von so herausragender Qualität wie dieser, doch es flackert eine geradezu spürbare Unruhe durch die Texte, eine Getriebenheit, mit der sich die Schriftsteller auf Erklärungssuche machen. Der Albaner Ismail Kadaré unternimmt einen historischen Streifzug und kommt zu dem Schluss: „Der andere, also der Urheber jeglichen Streits und Kriegs, wohnt überall: in der Haut, der Sprache, der Religion, der Sinnesart, den Doktrinen, der Zivilisation. Der Virus der Zwietracht wagt sich sogar in gänzlich ungeahnte Bereiche vor: den familiären oder politischen Clan.” Damit trifft Kadaré das psychologische Kernphänomen, das die Anthologie immer wieder verhandelt – den Umschlag vom individuellen „Du” hin zum politisch motivierten „Ihr”, der es ermöglichte, dass Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in friedlicher und unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gewohnt haben, sich urplötzlich gegenseitig ermordeten.
Ein streitbarer Stamm
Ein ungefestigtes, ein zerrüttetes Selbstverständnis liegt alldem zugrunde; der Gedanke, auf ewig auf der falschen Seite der Geschichte geboren worden zu sein. „Die Serben sind ein großer streitbarer Stamm”, so zitiert der in den USA lebende Lyriker Charles Simic seinen Großvater, „und sie sind niemals glücklicher, als wenn sie einander an die Kehle gehen können.” Der in Serbien als Angehöriger der ungarischen Minderheit geborene László Végel erklärt den postsozialistischen Gewaltausbruch mit der Identitätssuche , die das System Tito systematisch unterdrückt habe, so wie das Anderssein auch. Und der in Chicago lebende Bosnier Alexander Hemon führt in seinem Beitrag „Anders-Fragen” aus, wie die Übertragung von der Identifikation mit der „Raja”, der Jugendclique, hin zur Identifikation mit dem abstrakten Gebilde einer Nation verläuft.
Was bleibt übrig vom zerfallenen Vielvölkerstaat und seinen Nachbarrepubliken? Ein allgemeines Gefühl der „Wurzellosigkeit” (Vladimir Arsenijevic). Die Erkenntnis, dass nicht der Krieg etwas mit den Menschen macht, sondern die Menschen selbst den Krieg zu verantworten haben. Und eine Leerstelle: Denn wie sehr diese lesenswerte und hin und wieder in der Darstellung von Brutalität erschreckende Anthologie auch erhellende Schlaglichter auf den Balkan wirft, so fremd muss er dem Leser – als einem Teil der anderen – dennoch bleiben. „Warum?” heißt David Albaharis Text, der den Band eröffnet. Die Antwort bleibt offen.CHRISTOPH SCHRÖDER
RICHARD SWARTZ (HG.): Der Andere nebenan. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 342 Seiten, 28 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2007

Das war, als Papa ein Monster wurde

Mein erster Serbe: Eine Anthologie versammelt Autoren vom Balkan und bringt damit unsere Begriffe auf schockierende Weise und hohem Niveau durcheinander.

Es ist eine tolle Sache, wenn Papa im Fernsehen ist - außer natürlich, wenn das Fernsehen ihn dabei zeigt, wie er gefesselte Männer erschießt und den Leichen noch einen Tritt versetzt. Das ist dann ein Familiendrama, und davon erzählt die kroatische Autorin Slavenka Drakulic in ihrer Geschichte "Drei Monologe über die anderen". Sie verfährt dabei so wie in "Keiner war dabei", ihrem 2004 erschienenen Buch über die Haager Kriegsverbrecherprozesse.

Am Anfang ihrer Geschichte steht ein sogenanntes wahres Ereignis. Die Bilder der von serbischen Freischärlern erschossenen jungen Männer - es waren bosnische Muslime - gibt es wirklich. Die Täter haben die Aufnahmen selbst gemacht, zur Erinnerung. Auf Umwegen gelangten sie ein Jahrzehnt später, im Jahr 2005, an den verdienstvollen serbischen Sender B92, der sie ausstrahlte und damit in Serbien eine Debatte über Schuld und Sühne in Gang setzte, wie das Land sie bis dahin nicht erlebt hatte. Slavenka Drakulic erzählt die Geschichte weiter, aus der Perspektive der Frau des Mörders, deren Tochter Schwierigkeiten in der Schule hat und mit niemandem mehr spricht, seit sie weiß, dass ihr Vater ein Monster ist.

Die Frau wirkt sympathisch. Sie liebt ihre Tochter, und außerdem ist auch sie ein Opfer, geflohen nach der kroatischen Rückeroberung der serbisch besetzten Krajina 1995. Aber bevor wir sie mögen können, zeigt Slavenka Drakulic uns das andere Gesicht der Frau. Sie ist nämlich auch eine ihrem Mann dümmlich ergebene Eheschranze, blind für das Leid, das dieser anderen zugefügt hat. Ihr Problem ist nicht, dass der Vater ihrer Tochter ein Menschenschlächter ist (es war halt Krieg), sondern, dass er sich beim Menschenschlachten erwischen ließ.

Diese Geschichte findet sich in dem Buch "Der andere nebenan", in dem einundzwanzig Autoren - zwei aus Slowenien, die anderen vom Balkan - vom Fremden schreiben. Die balkanische Verbindung einiger Schriftsteller ist freilich sehr vage, es sind Emigranten dabei, die schon keine Emigranten mehr sind. Charles Simic etwa lebt seit 1953 in den Vereinigten Staaten und schreibt über das Land mit der hellsichtigen Distanz eines kenntnisreichen Fremden, der sich über den Heimatstolz seiner Landsleute in Belgrad nicht genug wundern kann: "Da es so viele Orte auf der Welt gibt, die man ,Zuhause' nennen kann, verstand ich nie, warum sie so ein großes Theater darum machten, ganz haargenau an dem einen Ort geboren worden zu sein. Was mich betrifft: Ich kam 1938 in Belgrad zur Welt und verbrachte dort fünfzehn erlebnisreiche Jahre, bevor ich die Stadt auf immer verließ. Ich habe sie nie vermisst."

Er zog sich zu Beginn der neunziger Jahre den Zorn serbischer Extremisten zu, weil er vor dem anschwellenden Nationalismus und dessen Folgen warnte. Mancher Belgrader Scharfmacher sah ihn fortan als Vaterlandsverräter im Dienst der CIA: "Die Serben stellen sich immer gleich komplizierte Verschwörungen vor. Für sie sind alle Ereignisse bloße Kulissen, hinter denen irgendwelche geheimen Absichten stecken. Dass meine Meinung, das Ergebnis schlafloser Nächte und zahlloser Gewissenqualen, von mir selber stammte, war undenkbar für sie. Es gab Andeutungen bezüglich meiner Familie, Hinweise, dass wir ihnen schon seit Jahren verdächtig waren, dass wir Fremde seien, denen es über Jahrhunderte hinweg gelungen sei, als Serben durchzugehen."

David Albahari, ebenfalls ein Emigrant, schreibt von den geheimnisvollen Zeichen auf der Rückseite der Klingelknöpfe in einer (bosnischen) Kleinstadt. Sie sollen später über Leben und Tod entscheiden. Die Atmosphäre von Albaharis Geschichte erinnert auf frappierende Weise an die Berichte Überlebender von den letzten Wochen vor dem Ausbruch des Krieges in Bosnien, so, wie man sie heute oft in den Provinzstädten an der Drina zu hören bekommt: Die Welt schien noch dieselbe, Häuser und Straßen waren wie immer, bald würde es Frühling werden, nur aus Vukovar drang schon Schlachtenlärm herüber, und außerdem geschahen so seltsame Dinge. Die meisten Leute konnten sie nicht erklären, und die wenigen, die es gekonnt hätten, lebten schweigend und unentdeckt unter ihren Nachbarn, den Opfern von morgen. Erst als es zu spät war, sollten die Leute verstehen: Die unerklärlichen Vorgänge - das waren die Vorboten des Krieges. Bei Albahari sind es die Zeichen an den Sprechanlagen, die Unbekannte auf die Rückseite der Metallplatten ritzten, als Hinweise für die ortsfremden Mordtruppen - damit die Kämpfer wissen, wer Serbe ist, und nicht versehentlich die Falschen töten. Man kann die Leute sonst leicht verwechseln, und schon ist ein Unglück geschehen. Der Krieg in Bosnien, das war auch eine Zeit des Serbe-, Kroate- oder Muslim-sein-Müssens, etwas anderes war nicht länger erlaubt, und die ethnisch neutrale Ausrede, man sei "Jugoslawe", auf die sich nicht nur Muslime zurückgezogen hatten, wurde von den Kriegern aller Seiten nicht akzeptiert. Jenes naive Vertrauen, das die kommenden Opfer noch Anfang 1992 hatten, als es in Kroatien schon brannte ("Bei uns kann das nicht passieren, die jugoslawische Volksarmee wird uns beschützen"), erweckt Albahari auf raffinierte Weise auch in seinem Leser. Der Ich-Erzähler seiner Geschichte ist nämlich ein scheinbar sympathischer Außenseiter, ein harmloser Kleinstadtflaneur, der auf seinen nächtlichen Gängen die Klingelschilder abschraubt, um nachzusehen, woran die Unbekannten, die er tagsüber beobachtet hatte, sich zu schaffen gemacht haben.

Aber er findet nur die geheimnisvollen Punkte, Kreise und Kreuzchen neben den Namen. "In den folgenden Nächten sah ich mir die übrigen Hochhäuser an. Überall dasselbe: auf der Rückseite der Tafeln neben den Namen die gleichen Zeichen." Als dann der Krieg kommt, wird auch der naive Erzähler nicht verschont. Erst erbricht er sich, nachdem er eine blutige Leiche gesehen hat; wenig später foltert der sympathische Außenseiter ein Mädchen mit falschem Zeichen neben dem Klingelknopf, und Albahari lässt die Geschichte in lapidarem Grauen enden: "Ich musste tiefer hineinschneiden, das war mir inzwischen klar, und also drückte ich das Messer fester in ihren rechten Schenkel. Sie biss auf die Zähne, presste die Lippen zusammen und gab keinen Ton von sich, aber als ich endlich einen Streifen Haut abzog, schrie sie so laut auf, dass ich erstarrte. Während sie am ganzen Leib zitterte und das Blut an beiden Schenkeln herabfloss, blieb ich reglos zwischen ihnen stehen, bis ihre Stimme erklang. ,Warum tust du mir das an?' Und ich sagte: ,Ich weiß nicht'. Ich wusste es wirklich nicht."

Natürlich sind nicht alle Texte gelungen. Der Beitrag von Ismail Kadaré wäre in dessen Interesse besser ungedruckt geblieben. Hier und da geht es arg bunt zu - ein wenig bemüht in der Rolle des bulgarischen Bauerndichters: Dimitré Dinev -, und der hochgelobte Nachwuchsautor Sasa Stanisic platzt fast vor Stilwillen: Kaum ein Satz ohne Stuck und Schnörkel, Stanisic weiß nichts zu erzählen, und so schreibt er denn von einem unterirdischen See, "über dessen Süße und dessen Grün die Tiere und die Bäume so manches zu erzählen wussten", und von einem Gelb, "das die Sonne selbst neidisch machte". Das verstimmt, doch andere Autoren lassen derlei schnell vergessen. Bei dem Albaner Fatos Kongoli etwa, der über seinen ersten Serben schreibt, dem er 1998 begegnete, und sich bei dem Gedanken ertappt, man könne ihn für einen Kosmopoliten halten, was unter Enver Hodscha das abscheulichste aller Verbrechen war, ungefähr so wie Pädophilie heute. Aleksandar Hemon und Miljenko Jergovic, beide gebürtig aus Sarajevo, erweisen sich wie viele Schriftsteller aus dieser Stadt als meisterhaft in der Dekonstruktion von Identitäten. Jergovic, der heute überwiegend in Zagreb lebt, hat dazu Sätze geschrieben, die man all jenen unter die Nase halten sollte, die vor allem den (muslimischen) Bosniaken immer noch vorschreiben wollen, sie sollten sich gefälligst entscheiden, wer sie seien: "Meine eigene Situation ist - das weiß ich heute - etwas komplizierter, weil meine eigene Identität größtenteils aus dem zusammengesetzt ist, was ich nicht bin. Indem wir mit dem, was wir sind, unseren Frieden gemacht haben und indem wir auch den Sinn dessen in uns tragen, was wir nicht sind, stellen wir Identitäten dar, die man nicht mit einem Wort definieren kann, nicht mit einem Reisepass, einem Personalausweis, einem Passierschein. Der Pöbel definiert sich über Wappen, Flagge und Namen (Letzterer wird auch gern skandiert) - und uns bleiben nur lange und diffuse Erklärungen."

Kann dieses Buch also helfen, den Balkan zu verstehen? Natürlich nicht. Aber Herausgeber Richard Swartz, dessen Nachwort einer der besten Beiträge dieser Anthologie ist, hat wichtige Arbeit geleistet. Auf höherem Niveau als in diesen Texten kann man sich nämlich kaum verwirren lassen vom Balkan.

MICHAEL MARTENS.

Richard Swartz (Hrsg.): "Der andere nebenan". Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 342 S., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Karl-Markus Gauß hat in dieser Anthologie, in der der schwedische Herausgeber Richard Swartz Prosatexte von im Exil lebenden südosteuropäischen Schriftstellern versammelt hat, vor allem Spuren des Krieges, "Melancholie und Trauer" gefunden. Gauß haben die Texte insgesamt überzeugt und beeindruckt, und er stellt fest, dass der Krieg und seine Folgen in den meisten eine tragende Rolle spielt. Erschreckend und beeindruckend fand er die Erzählung vom heute in Kanada lebenden serbischen Autor David Albahari, der die Wandlung eines Jugendlichen vom erschütterten Zuschauer furchtbarer Grausamkeiten über völlige Abgestumpftheit bis zu selbst verübten Gräueltaten beschreibt. Ein bisschen Erholung davon fand der von den Prosatexten berührte Rezensent dafür in Dimitre Dinevs witziger Erzählung über einen christlich-muslimischen Friedhof in Bulgarien, die allerdings, wie Gauß feststellen muss, ebenfalls nicht in einen "ermutigenden Ausblick" von geglücktem Nebeneinander mündet.

© Perlentaucher Medien GmbH
Das Glück, das uns hier hält

Die Anthologie „Der Andere nebenan” erkundet den Balkan

Ein Treffen mit alten Freunden, Schulfreunden, wenn auch unter besonderen Umständen, „in der Ruine unserer Grundschule”. Man trinkt und erzählt, bis plötzlich Ante den ihm gegenübersitzenden Marko fragt, ob er wirklich sein bester Freund sei. Selbstverständlich, antwortet Marko, schließlich sei man aufgewachsen wie ein Brüderpaar. „Warum hast du dann meine Eltern abgeschlachtet?”, fragt Ante und binnen weniger Sekunden schlägt die Szene um, man stürzt sich auf Marko, der beharrlich jede Schuld leugnet, tritt auf ihn ein; es beginnt nach Blut zu riechen; schließlich reißt Ante seinem ehemals besten Freund in einem gewaltigen Kraftakt den Unterkiefer heraus.

Ein wenig zu gut ausgedacht ist das, so denkt man sich während der Lektüre von Slavenka Drakulics Text, einer von „Drei Monologen über die Anderen”, ein wenig zu konstruiert in dem Vorsatz, das Verschwimmen von Gut und Böse aufscheinen zu lassen, den Augenblick zu zeigen, in dem das Atavistische sich Bahn bricht und in Gewalt umschlägt. Und dann die Frage: Ist es überhaupt ausgedacht? „Jede Ähnlichkeit mit realen Ereignissen ist beabsichtigt” hat Drakulic in Klammern über ihren als dokumentarisch ausgegebenen Beitrag zu der von Richard Swartz herausgegebenen Anthologie geschrieben; es ist anzunehmen, dass das seine Gründe hat.

Mehr als 30 Jahre lang war der Schwede Richard Swartz Osteuropakorrespondent für das Svenska Dagbladet; in „Der Andere nebenan” liefern 21 Autoren aus der Region Beiträge, die zur Lösung des Rätsels Balkan beitragen sollen; einer Region, die von jeher als „Pulverfass Europas” (Swartz) galt, einem Gebiet, in dem mitten in die Aufbruchsstimmung einer vermeintlich freien Welt nach 1989 ein in seiner Brutalität beispielloser Krieg ausbrach. „Der Zweck dieser Anthologie ist rein literarisch”, so schreibt der Herausgeber in seinem Nachwort, „hier liegt ein Buch mit Gegenwartsprosa aus Südosteuropa vor, nicht mehr und nicht weniger.” Das ist grundfalsch, und Swartz müsste es angesichts der Auswahl der Autoren besser wissen; stellt er doch selbst fest, dass ein Großteil der Schriftsteller, die Beiträge geliefert haben, noch immer im Exil leben und arbeiten – der Focus verschiebt sich so zwangsläufig.

Eine Definition von Heimat

Der andere, diesem Begriff widmen sich nicht wenige der Texte in unterschiedlicher Form. Miljenko Jergovic, in Sarajevo geboren, exerziert das ethnische Durcheinander, das im ehemaligen Jugoslawien herrschte, anhand seiner eigenen Familiengeschichte durch: Sein Großvater Karlo, ein Deutscher, sprach mit seinen Kindern ausschließlich deutsch, später jedoch mit den Ehemännern seiner Töchter kroatisch, obwohl sie des Deutschen mächtig waren; mit den Enkelkindern hingegen in beiden Sprachen, aber nur, wenn er zuvor auf Kroatisch angesprochen wurde. Karlos Definition von Heimat war ganz einfach – Heimat war dort, wo die anderen nicht sind. Und Jergovic selbst stellt später fest: „Das ist also die entscheidende Nuance in unserer Identität, aufgrund derer wir dort leben, wo wir hier leben, obwohl wir nicht der Mehrheit angehören: Es ist das Glück, das uns hier hält, und dieses Glück hat uns immer wieder das Leben gekostet.”

Nicht alle Beiträge sind, versteht sich, von so herausragender Qualität wie dieser, doch es flackert eine geradezu spürbare Unruhe durch die Texte, eine Getriebenheit, mit der sich die Schriftsteller auf Erklärungssuche machen. Der Albaner Ismail Kadaré unternimmt einen historischen Streifzug und kommt zu dem Schluss: „Der andere, also der Urheber jeglichen Streits und Kriegs, wohnt überall: in der Haut, der Sprache, der Religion, der Sinnesart, den Doktrinen, der Zivilisation. Der Virus der Zwietracht wagt sich sogar in gänzlich ungeahnte Bereiche vor: den familiären oder politischen Clan.” Damit trifft Kadaré das psychologische Kernphänomen, das die Anthologie immer wieder verhandelt – den Umschlag vom individuellen „Du” hin zum politisch motivierten „Ihr”, der es ermöglichte, dass Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in friedlicher und unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gewohnt haben, sich urplötzlich gegenseitig ermordeten.

Ein streitbarer Stamm

Ein ungefestigtes, ein zerrüttetes Selbstverständnis liegt alldem zugrunde; der Gedanke, auf ewig auf der falschen Seite der Geschichte geboren worden zu sein. „Die Serben sind ein großer streitbarer Stamm”, so zitiert der in den USA lebende Lyriker Charles Simic seinen Großvater, „und sie sind niemals glücklicher, als wenn sie einander an die Kehle gehen können.” Der in Serbien als Angehöriger der ungarischen Minderheit geborene László Végel erklärt den postsozialistischen Gewaltausbruch mit der Identitätssuche , die das System Tito systematisch unterdrückt habe, so wie das Anderssein auch. Und der in Chicago lebende Bosnier Alexander Hemon führt in seinem Beitrag „Anders-Fragen” aus, wie die Übertragung von der Identifikation mit der „Raja”, der Jugendclique, hin zur Identifikation mit dem abstrakten Gebilde einer Nation verläuft.

Was bleibt übrig vom zerfallenen Vielvölkerstaat und seinen Nachbarrepubliken? Ein allgemeines Gefühl der „Wurzellosigkeit” (Vladimir Arsenijevic). Die Erkenntnis, dass nicht der Krieg etwas mit den Menschen macht, sondern die Menschen selbst den Krieg zu verantworten haben. Und eine Leerstelle: Denn wie sehr diese lesenswerte und hin und wieder in der Darstellung von Brutalität erschreckende Anthologie auch erhellende Schlaglichter auf den Balkan wirft, so fremd muss er dem Leser – als einem Teil der anderen – dennoch bleiben. „Warum?” heißt David Albaharis Text, der den Band eröffnet. Die Antwort bleibt offen.CHRISTOPH SCHRÖDER

RICHARD SWARTZ (HG.): Der Andere nebenan. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 342 Seiten, 28 Euro.

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