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In 'Anatomie eines Augenblicks' schildert Javier Cercas den entscheidenden Augenblick am 23. Februar 1981, als das Schicksal der noch jungen Demokratie Spaniens auf der Kippe stand: Das Parlament war umstellt, die Putschisten in den Startlöchern, aber der damalige Präsident und der junge König blieben unerschütterlich. Wie in einem Thriller entfaltet Cercas diesen Moment und analysiert ihn.
Mit dem Gespür für Spannung und dem Auge des Romanautors schuf Javier Cercas das bewegte Standbild einer dramatischen Episode, die Spaniens Geschichte hätte auf den Kopf stellen können. "Wir werden ...
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Produktbeschreibung
In 'Anatomie eines Augenblicks' schildert Javier Cercas den entscheidenden Augenblick am 23. Februar 1981, als das Schicksal der noch jungen Demokratie Spaniens auf der Kippe stand: Das Parlament war umstellt, die Putschisten in den Startlöchern, aber der damalige Präsident und der junge König blieben unerschütterlich. Wie in einem Thriller entfaltet Cercas diesen Moment und analysiert ihn.

Mit dem Gespür für Spannung und dem Auge des Romanautors schuf Javier Cercas das bewegte Standbild einer dramatischen Episode, die Spaniens Geschichte hätte auf den Kopf stellen können. "Wir werden ... zu Zeugen einer grandiosen Tat des Widerstands gegen die sich ständig wiederholende Infamie der Geschichte", schrieb Alberto Manguel. El País wählte es zu seinem Buch des Jahres, und ganz Spanien machte es zum Bestseller.
Autorenporträt
Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman 'Soldaten von Salamis' wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für 'Der falsche Überlebende' (S. Fischer 2017), erhielt er u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch.

Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2011

Was geschah am 23. Februar 1981?

Als die Schüsse fielen und alle sich auf den Boden warfen, behielten drei Männer die Köpfe oben: Javier Cercas hat eine mitreißende Geschichtserzählung über den Putsch im spanischen Parlament geschrieben.

Von Paul Ingendaay

Hier und da ist zu lesen, der Putsch im spanischen Parlament vom 23. Februar 1981 habe etwas Billiges, Operettenhaftes an sich gehabt, über die schlampige Planung hinaus, die sich am Ende als sein hervorstechendes Merkmal erwies. Vielleicht liegt das vor allem an dem naiven, ungestümen Oberstleutnant Antonio Tejero, dessen kurze Fernsehsekunden vor dreißig Jahren um die Welt gingen und für immer das Bild des Ereignisses geprägt haben, das die wenige Jahre zuvor errungene spanische Demokratie wieder ins Wanken brachte.

Unter lautem Rufen unterbrach der Militär, unterstützt von einer Einheit der Guardia Civil, an jenem Vormittag vor dreißig Jahren die Parlamentssitzung, in der Leopoldo Calvo Sotelo zum neuen Ministerpräsidenten gewählt werden sollte, feuerte mit der Pistole in die Luft und befahl den Parlamentariern: "Auf den Boden! Auf den Boden!" Dann fielen Schüsse aus Maschinenpistolen. Und alle gingen zu Boden und verkrochen sich unter ihren Bänken, so dass das Halbrund der Abgeordnetenränge im Nu wie leergefegt war.

Bis auf drei Männer, die sich nicht hinwarfen. Einer war der amtierende Ministerpräsident Adolfo Suárez, der fünfundzwanzig Tage zuvor seinen Rücktritt erklärt hatte, ein ausgelaugter Politiker des demokratischen Übergangs vor dem Trümmerhaufen seiner Politik; der zweite sein Vizepräsident, Manuel Gutiérrez Mellado, ein General, der sich zum Dienst an der Demokratie überreden ließ und dafür unter seinesgleichen als Verräter galt; und der dritte Santiago Carrillo, der legendäre Führer der Kommunistischen Partei, der er verordnet hatte, sich zu wenden und den Leninismus auf den Müllhaufen zu werfen.

Anhand dieser drei Figuren, in drei großen Kapiteln, die mehr als die Hälfte seines Buches ausmachen, entwickelt der spanische Schriftsteller Javier Cercas die turbulente Geschichte der achtzehn Stunden und dreiundzwanzig Minuten, in denen die Zukunft der Nation auf Messers Schneide stand. Man muss kein Spezialist in der von Verschwörungstheorien umrankten Literatur zu diesem Putsch sein, um die Originalität von Cercas' Verfahren zu erkennen. Denn hier wird der historische Augenblick jeweils zusammen mit Vorgeschichte, Lebensgeschichte und politischer Mentalitätsgeschichte beleuchtet, hier stehen Personen in einem Kontext, den sie formen und von dem sie geformt werden.

Das Mindeste, was wir von einem begabten Erzähler erwarten, der sich unter die Historiker begibt, ist, dass auch seine Faktentreue etwas Narratives behält, so dass aus dem Erzählerischen ein Mehrwert entspringt. Worin er bestünde, das vorzuführen wäre die Aufgabe seines Buches. Wunderbarerweise geschieht hier genau das. War Javier Cercas bisher vor allem als Autor des Bestsellerromans "Soldaten von Salamis" (2002) bekannt, der viel Lob, aber auch - etwa bei diesem Rezensenten - manchen Einwand geerntet hat, komponiert er in der "Anatomie eines Augenblicks" aus einem sattsam bekannten Geschichtsthema ein mitreißendes, sich in breitem epischen Format entrollendes Buch. Sein Denken ist komplex, und selbst seine Einsichten kommen als Fragen daher. Für Momente wird vor dem Auge des Lesers die Gestaltbarkeit des ungeheuren Geschehens sichtbar, und dieser Eindruck ist das Verdienst dieser glänzend gebauten Geschichtserzählung, mit der Javier Cercas wohl sein Meisterwerk geschrieben hat. Dazu trägt auch der Übersetzer Peter Kultzen bei, dessen Sprachvermögen der ideale Resonanzapparat für Cercas' melodienreiches Spanisch ist.

Aber was sind diese gut fünfhundert Seiten mit dem Titel "Anatomie eines Augenblicks" überhaupt? Der allein für die deutsche Ausgabe erfundene Untertitel - "Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde" - verschleiert, dass es sich weder um einen Roman noch eine Erzählung handelt. Um ein Sachbuch aber auch nicht. Eher eine an der historischen Wahrheit orientierte Untersuchung, die mit erzählerischen Mitteln das Wesen des Putsches vom 23. Februar und, weit darüber hinaus, die unheilvolle Entzweiung in der spanischen Politik des zwanzigsten Jahrhunderts ergründen will.

Cercas gesteht gleich zu Beginn, zunächst habe er einen Roman über den Putsch geschrieben, ihn dann aber lieber nicht veröffentlicht, weil es bereits Romane darüber gebe und die Fiktion ohnehin nicht an die Dramatik der Wirklichkeit heranreiche. Das erklärt er im Nachwort, das jedoch am Anfang des Buches steht, während das Vorwort erst am Ende kommt. Verkehrte Welt! Offenbar musste der Autor ganz neu zu denken beginnen, um den heiklen, so oft bearbeiteten Stoff noch einmal schultern zu können. Ganz am Ende, nachdem alles erzählt ist, steht eine Erkenntnis, die wohl nicht alle Spanier teilen: dass der abgewendete Putsch das Ende des Spanischen Bürgerkriegs bedeute, eben weil sein Bedeutungskern mit einem schablonenhaften Denken in ideologischen Frontlinien nicht mehr zu erfassen sei.

Cercas' Kronzeuge ist Hans Magnus Enzensberger, der in seinem berühmten Essay "Die Helden des Rückzugs", erschienen in dieser Zeitung im Dezember 1989, so etwas wie die Theorie einer neuen politischen Aufgabe für gewandelte politische Zeiten formuliert hat. Zwei Absätze zu Adolfo Suárez reichen Enzensberger aus, um den von der Rechten als Verräter, von der Linken als Opportunisten geschmähten Ministerpräsidenten des Übergangs zum Wegbereiter eines anderen Spanien zu erklären. "Eines und nur eines ist dem Helden des Rückzugs sicher: der Undank des Vaterlandes." Und das ist das Leitmotiv von Cercas. Aus diesem Gedanken entwickelt er Adolfo Suárez, den Künstler der Zweideutigkeit, des Taktierens und der kalkulierten Verschleierung. "Den Franquisten gegenüber versicherte er, es gelte, auf gewisse Bestandteile des Franquismus zu verzichten, um den Fortbestand des Franquismus zu gewährleisten; der demokratischen Opposition erklärte er, es gelte, auf gewisse Elemente des Bruchs mit dem Franquismus zu verzichten, um den Bruch mit dem Franquismus zu gewährleisten. Zur Überraschung aller gelang es ihm, alle zu überzeugen."

Natürlich vergisst Cercas neben seinen drei Hauptfiguren im Parlamentssaal die anderen Mitspieler nicht, König Juan Carlos etwa, dessen nächtliche Fernsehansprache zur Verteidigung der demokratischen Legalität das endgültige Scheitern des Putsches bedeutete (und von dem rechte Kreise bis heute sagen, er habe den Umsturz gewollt, um den Einfluss der Krone zu sichern); oder den Geheimdienst Cesid, dessen genaue Rolle bei dem Komplott wohl für immer im Dunkeln bleiben wird; oder die putschfreudigen Militärs in Madrid und Valencia, die ihre Männer ausrücken und die Motoren der Panzer warmlaufen ließen, um im Land endlich wieder das herzustellen, was sie unter Ordnung verstanden.

Doch immer wieder kehrt der Autor zu der mutigen, trotzigen, nahezu selbstmörderischen, vielleicht auch als Wiedergutmachung zu verstehenden Geste der drei Männer zurück, die sich im Parlament, während Pistolenkugeln sie umschwirren, nicht hinwerfen und den Putschisten die Stirn bieten. Cercas idealisiert diese Instinktentscheidung nicht, sondern zerlegt sie in ihre persönlichen, politischen, schauspielerischen, ja zirzensischen Elemente. So eindeutig er in der Beurteilung moralischer Schwächen ist, so klug unterscheidet er zwischen sofortigem und verzögertem Effekt, zwischen persönlichem Motiv (welches eines) und historischer Wirkung (die etwas ganz anderes sein kann). Dabei orientiert er sich auch an den visuellen Quellen. Ja man kann sagen, seine erzählerische Phantasie entzünde sich erst an der halbstündigen Sequenz, die die Kameras uns hinterlassen haben. Cercas' Werk ist deshalb auch eine Bildbetrachtung, eine Meditation über den Fernsehzuschauer als historisch denkendes Subjekt, der Versuch, dem grobkörnigen Material aus den beiden Parlamentskameras eine Wahrheit abzulesen, die auch der Urteilsspruch des Militärtribunals im Jahr darauf, nach dem größten Prozess der spanischen Geschichte, nicht enthalten konnte.

Zum Beispiel diese: dass den drei Männern auf der einen Seite des Staates drei Männer auf der Gegenseite entsprachen und sich so etwas wie ein faszinierendes geometrisches Muster ergibt, Stoff für Leser von John le Carré. Dass die Persönlichkeit der Akteure - schlecht kontrolliertes Temperament, Eitelkeit oder Angeberei - über Sieg oder Niederlage von Ideologien entscheiden kann. Und die tiefste Wahrheit von allen: dass die spanische Demokratie im kritischen Augenblick ausgerechnet von drei Männern verteidigt wurde, von denen keiner sich sieben Jahre zuvor als Demokrat bezeichnet hätte, ja die sich früher einmal aktiv gegen demokratisch gewählte Regierungen erhoben hatten (wie Carrillo und Gutiérrez Mellado in den dreißiger Jahren) oder die, wie Suárez, nach einer langen, von Lächeln und Opportunismus bestimmten Karriere im franquistischen Machtapparat ganz nach oben gekrabbelt waren, möglicherweise sogar, ohne zu ahnen, welche historische Aufgabe sie einmal als ihre begreifen würden. Eine Aufgabe, die sie am Ende zerstört hat, was sonst? Und niemanden mehr als Adolfo Suárez, den Mann, der sich heute wegen seiner Alzheimer-Krankheit nicht einmal mehr daran erinnert, je Ministerpräsident dieses Landes gewesen zu sein.

"Anatomie eines Augenblicks" ist ein freies Buch, das keiner Theorie folgt, nichts behaupten oder beweisen will. Gerade in der Ruhe und Absichtslosigkeit der Reflexionen kommt es viel weiter, als es starre Geschichtslektionen könnten. Cercas nimmt auch die Spanier seiner Generation in den Blick, das, was sie von der Geschichte erfahren, gelernt oder nicht gelernt haben und nach dem zweiten Glas Wein vielleicht historische Erkenntnis nennen würden. Der unkritischen Selbstfeier der "transición" setzt er die Einsicht entgegen, dass unsere Erinnerung die Ereignisse irgendwann mit Make-up bedeckt und wir uns lieber nicht auf die Genauigkeit unseres Gedächtnisses verlassen sollten. Jeder Spanier, so erzählt er uns, glaube zu wissen, wo er an jenem 23. Februar 1981 die Live-Berichterstattung aus dem Plenarsaal des Parlaments gesehen habe. Merkwürdig daran sei nur, dass die Live-Berichterstattung nicht im Fernsehen, sondern im Radio lief, denn die Kamerabilder wurden erst am Tag darauf veröffentlicht.

Kaum weniger kritisch geht er mit der selbstzufriedenen Haltung ins Gericht, das Volk habe kühlen Kopf bewahrt, die Politik habe souverän reagiert und die spanische Demokratie ihre Bewährungsprobe bestanden. "Bis auf eine Handvoll entschlossener Menschen, die ihre Bereitschaft zu erkennen gaben, für die Verteidigung der Demokratie ihre Haut zu riskieren, zog sich das gesamte Land zwischen die eigenen vier Wände zurück, um abzuwarten, ob der Putsch scheiterte. Oder Erfolg hatte." Man könnte auch sagen: Es warf sich auf den Boden hinter die Bänke und gehorchte den Anweisungen von Uniformierten, die gekommen waren, um eine drei Jahre zuvor verabschiedete Verfassung außer Kraft zu setzen. "Wer die eigenen Positionen räumt", schrieb Enzensberger in seinem Essay, "gibt nicht nur objektiv Terrain preis, sondern auch einen Teil seiner selbst." Javier Cercas hat die zugleich tragische und versöhnliche Geschichte dieses Verlusts geschrieben, der für ein ganzes Land zum Gewinn wurde.

Javier Cercas: "Anatomie eines Augenblicks". Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde.

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 569 S., geb., 24,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.02.2011

Drei blieben stehen
Der Schriftsteller Javier Cercas erzählt von dem Putsch, der vor dreißig Jahren Spaniens junge Demokratie bedrohte
In dieser Woche ist es dreißig Jahre her: Am 23. Februar 1981 stürmten zwei franquistische Offiziere und ein Trupp der Guardia Civil das spanische Parlament. Das war der Putsch, den viele hatten kommen sehen, auf den viele dringlich gewartet hatten. Die Aufrührer schossen wild um sich und brüllten: „Alle auf den Boden!“ Automatische Fernsehkameras haben das Geschehen damals aufgezeichnet. Fassungslos sahen die Redakteure im Sender auf ihren Monitoren mit an, wie die Repräsentanten des Volkes und mit ihnen die junge Demokratie vor den Putschisten kuschten.
Alle warfen sich auf den Boden. Alle? Nein. Drei Männer blieben aufrecht: General Manuel Gutiérrez Mellado duckte sich nicht. Im Bürgerkrieg hatte er als ein Anführer der 5. Kolonne im republikanischen Madrid für den Faschismus gekämpft. Nach Francos Tod 1975 bekannte er sich zur Demokratie und wurde Vizepräsident in der Regierung von Adolfo Suárez. Der Ministerpräsident Suárez war der zweite, der sich nicht rührte, er blieb in seinem Sessel einfach sitzen. Suárez hatte sich im Apparat des Franco-Regimes hochgearbeitet und war 1976 vom König betraut worden, politische Reformen durchzusetzen; seine Partei hatte die Wahlen von 1977 gewonnen.
Und auch der Abgeordnete Santiago Carrillo blieb auf seinem Sessel sitzen: Der Führer der Kommunistischen Partei war nach Jahrzehnten des Exils 1976 nach Spanien zurückgekehrt. Als Berufsrevolutionär rechnete Carrillo damit, dass er bei Gelingen des Putsches umgehend exekutiert werden würde. Ihm war egal, ob er nun im Kugelhagel starb oder später. Außerdem hatte er Kampferfahrung aus den Zeiten des Bürgerkriegs und dürfte schnell erfasst haben, dass die Schüsse gegen die Saaldecke gerichtet waren, dass sie der Einschüchterung dienten. Er blieb also sitzen und zündete sich eine Zigarette an.
Der Putsch scheiterte an Juan Carlos. Es war einer der großen Momente der Geschichte. In der Nacht des 23. Februar zog der König seine militärische Uniform an und hielt eine Fernsehansprache: Er sei gegen einen Umsturz, er werde auf die Krone nicht verzichten und das Land auch nicht verlassen: „Wer immer sich erhebt, ist entschlossen – und verantwortlich dafür –, einen neuerlichen Bürgerkrieg auszulösen.“ Ein Umsturz ohne das Plazet des Königs? Das wollten die meisten Franquisten nicht.
Javier Cercas schreibt im Vorwort, dass sein neues Sachbuch „Anatomie eines Augenblicks“ auch als Roman gelesen werden solle. Als Schriftsteller hat er sich weltweit einen guten Ruf erworben. An den will er anknüpfen. Vom Standpunkt der Literatur ist ein Sachbuch verächtlich. Es macht Cercas alle Ehre, dass er nach Sicht der Fakten entschieden hat, keinen Roman zu schreiben, sondern alle bekannten Tatsachen neu zu erzählen. Die Geschichte des Putsches, schreibt er, sei in sich schon so romanesk, dass er ihr nichts hinzuzufügen habe.
Seine Darstellung ist ausgezeichnet. Heute ist die Demokratie in den westlichen EU-Ländern selbstverständlich. Aber noch vor vierzig Jahren herrschten in Griechenland, Portugal und Spanien diktatorische Regimes. Wie am 23. Februar 1981 die Demokratie in Spanien in Gefahr geriet und gerettet wurde: das ist ein ganz wichtiger Baustein für das europäische Selbstverständnis. Javier Cercas schildert minuziös die Geschichte des Putsches: wie es dazu kam, wer dabei eine Rolle spielte oder gespielt haben könnte, was sich wo zutrug. Er ist so ins Detail verliebt, wie nur ein trockner Schleicher es sein kann oder ein Schriftsteller, der sich in seiner Autorenkarriere mit Daten und Fakten in Fülle noch nie abgegeben hat.
Für den König interessiert Cercas sich wenig. Ihm geht es um die drei Parlamentarier, die den Drohungen der Putschisten im Plenarsaal trotzten. Er nimmt die Bilder der Fernsehkameras als Ausgangspunkt und dazu ein Wort von Jorge Luis Borges: „Jedes Schicksal (. . .) besteht in Wirklichkeit in einem einzigen Augenblick, in dem der Mensch für immer weiß, wer er ist.“
Damit hat der Romancier Cercas, der dem Sachbuchautor Cercas oft genug die Demarche vorgibt, freilich einen schlechten Ansatz gewählt. Wenn es am 23. Februar 1981 einen Mann gab, auf den Borges’ Wort zutrifft, dann ist es Juan Carlos. Er war damals erst 43 Jahre alt. Er war im Geist des Franquismus erzogen worden, Franco hatte ihn zu seinem politischen Erben bestimmt. In jener Februarnacht bewies der im Amt noch wenig erfahrene König mit seiner Fernsehansprache, dass er im Angesicht der Weltgeschichte Majestät hatte: Er setzte den Nimbus der Monarchie dafür ein, die spanische Demokratie zu retten.
Cercas bezieht das Wort des großen Borges jedoch nicht auf den König, sondern auf jene drei Männer, die sich mutig dem Befehl „auf den Boden!“ widersetzten. Als literarisches Kalkül ist das hübsch, plausibel ist es nicht: General Gutiérrez Mellado und der Kommunistenführer Santiago Carrillo hatten im Bürgerkrieg 1936 bis 1939 ihren Mann gestanden. Beide hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, jeder für seine Sache, der eine für den Faschismus, der andere für den Kommunismus. Den einen machte Franco zum General. Der andere wurde ein stalinistischer Apparatschik. 1981 waren sie alt. Beide wussten seit langem, wer sie waren. Ihr Bekenntnis zur Demokratie war eine aufrichtige Vernunftentscheidung. Am 23. Februar waren sie altersgemäß desillusioniert und benahmen sich schon deshalb tapfer, weil sie in der Welt nicht mehr viel für sich erhofften. Ganz gewiss hat keiner der beiden mehr als sechzig Lebensjahre warten müssen, um zu erkennen, „wer er ist“.
Bleibt Adolfo Suárez. Er war 1981 wie der König erst 43 Jahre alt – aber verbraucht. Cercas schildert ihn als Karrieristen, der sich aufgerieben hatte im Verfolg der Ordre des Königs von 1976, er solle das Land politisch reformieren. 1981 waren alle gegen Suárez: Die Linken, weil er in ihren Augen nicht genug zur Demokratisierung getan hatte; die Rechten, weil er zu viel getan hatte. Cercas beschreibt, wie Suárez schon vor dem Putsch psychisch am Ende war. Den Putsch hat der demoralisierte Ministerpräsident auf Abruf buchstäblich ausgesessen.
„Anatomie eines Augenblicks“ ist die erste bis ins letzte Detail hinein genaue Darstellung des Putsches, die auf Deutsch zu lesen ist. Vielleicht ist es auch sprachlich die beste Darstellung, die man auf Deutsch je lesen wird. Das wäre dann nicht zuletzt Peter Kultzen zu danken, der Cercas’ Mammutsätze – viele sind rund einhundert Wörter lang – in rhythmisch austariertes Deutsch gebracht hat.
Die Schilderung des Putsches wird den meisten deutschen Lesern neu sein. Zum Beispiel: Die USA wären mit einer Militärdiktatur in Spanien einverstanden gewesen, sofern die neuen Machthaber sich nur loyal zu den amerikanischen Interessen verhielten. Der Putsch wurde von drei Militärs geplant; einer davon war der Schulmeister des Kronprinzen Juan Carlos: General Alfonso Armada. Er und sein Mitstreiter General Jaime Milans del Bosch wollten eine Militärdiktatur nur insoweit erstreben, als sie für eine „Einheitsregierung“ plädierten, in der sogar die Kommunisten Mitsprache haben sollten.
Dagegen wandte sich am Abend des 23. Februar der Dritte im Bund der Putschisten: Oberstleutnant Tejero. Nur er wollte ernstlich die franquistische Diktatur wiederbeleben. Tejero konnte sich nicht durchsetzen. Javier Cercas erklärt, warum. Am Ende hat es in den Cortes dann doch einen Verletzten gegeben: Unter den Schüssen gegen die Decke löste sich die Stukkatur. Ein Brocken ist einem Abgeordneten auf den Kopf gefallen. FRANZISKA AUGSTEIN
JAVIER CERCAS: Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. 569 S., 24, 95 Euro.
König Juan Carlos setzte
den Nimbus der Monarchie
gegen die Umstürzler ein
Der Romanautor entschied sich
nach Sichtung der Fakten,
lieber ein Sachbuch zu schreiben
23. Februar 1981: Offiziere stürmen das spanische Parlament. Doch nicht alle folgen dem Befehl, sich zu ducken. Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Den Spaniern seiner Generation erweist der Autor mit diesem Buch einen beachtlichen Dienst, meint Jeannette Villachica. Vor allem die in Javier Cercas dokumentarischen Essay über den Putschversuch im spanischen Parlament am 23. Februar 1981 eingegangenen Zweifel und die Verwirrung des Autors über die damaligen Geschehnisse in seinem Land, über die Elterngeneration und über Franco, hält die Rezensentin für berührend und durchaus erkenntnisfördernd. Dafür gräbt sie sich durch einen ausufernden, stellenweise trockenen monologischen Text, der auf Basis von Recherchen und eigenen Mutmaßungen des Autors die Vorgeschichte und den Verlauf des Putschversuches erzählt. Die Forschung zum Gegenstand voranzutreiben, schreibt sie, sei dem Autor offenbar kein Anliegen gewesen. Die Bedeutung des Bandes sieht Villachica im persönlichen Ansatz, in der individuellen Aufarbeitung eines historischen Moments.

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Jugend, Freundschaft und ein Spanien, dass selbst nach seinem Weg sucht, bilden die faszinierende Kulisse dieses Romans! Christian Döring 20140415