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Christa Wolf kehrt zurück aus der antiken Mythologie in unsere gegenwärtige Geschichte und beschreibt die lebensbedrohliche Krankheit einer Frau. Leibhaftig ist die namenlose Heldin ihrer neuen Erzählung einer existentiellen Krise ausgesetzt: die Krankheit bringt sie an den Rand des Todes, macht ihren Körper zum Seismographen eines allgemeinen Zusammenbruchs und damit auch zum Schauplatz für Wolfs ureigenes Thema: den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft.
Wie ausweglos muss die Krise einer Gesellschaft sein, daß sich ihr Niedergang so in das Individuum einschreibt. Gleichnishaft
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Produktbeschreibung
Christa Wolf kehrt zurück aus der antiken Mythologie in unsere gegenwärtige Geschichte und beschreibt die lebensbedrohliche Krankheit einer Frau. Leibhaftig ist die namenlose Heldin ihrer neuen Erzählung einer existentiellen Krise ausgesetzt: die Krankheit bringt sie an den Rand des Todes, macht ihren Körper zum Seismographen eines allgemeinen Zusammenbruchs und damit auch zum Schauplatz für Wolfs ureigenes Thema: den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft.

Wie ausweglos muss die Krise einer Gesellschaft sein, daß sich ihr Niedergang so in das Individuum einschreibt. Gleichnishaft scheint der Körper sich gegen eine Vergiftung wehren zu müssen, deren Ursprung von den Ärzten lange Zeit vergeblich gesucht wird. Die schwachen Abwehrkräfte der Patientin unterlaufen alle ihre Maßnahmen. Mit der Psyche verbündet, streikt das Immunsystem, und die Ursachen dafür liegen nicht allein im Körper, der nach allen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt wird. Die Patientin entgleitet den Ärzten, wird bedrängt von Szenen aus ihrem früheren Leben, spürt den Wegen nach, die ihre Gefährten von damals gegangen sind. Immer wieder schieben sich Fieberphantasien dazwischen. Abgründe öffnen sich, unterirdische labyrinthische Gänge, in denen die Geschichte rumort, die sie leibhaftig erfahren hat. Wilde phantastische Träume treiben sie durch diese unerledigte Vergangenheit und durch ihre gequälte halbe Stadt Berlin. Und immer wieder taucht ein Weggefährte auf, der später zum Gegner wurde und dessen Leben tragisch endet. Vieles trägt dazu bei, daß die Kranke in all ihrer Schwäche schließlich den Entschluß fassen kann zu leben - nicht zuletzt die unverbrüchliche Anwesenheit des vertrauten Du.
"Wohin es sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht." Diese Erfahrung bringt Christa Wolf zu bezwingend dichter, bedrängender Sprache, Bericht einer Hadesfahrt in das Innere eines todkranken Körpers ...

Autorenporträt
Christa Wolf, 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, lebt mit ihrem Mann Gerhard Wolf in Berlin. Sie zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart; ihr umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR (1963), dem Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1977), dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (1980), dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur (1985), dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München (1987), dem Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur (1987), der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Brüssel (1990), dem Orden Officier des Arts et des Lettres (1990), dem Elisabeth-Langgässer-Preis (1999) und dem Nelly Sachs-Preis (1999). 2009 wurde Christa Wolf zur Ehrenpräsidentin des P.E.N. ernannt. 2010 erhielt sie den Thomas-Mann-Preis für ihr Lebenswerk.
Im Dezember 2011 verstarb Christa Wolf in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Schön schon der Titel, schwärmt Rolf Michaelis und doziert ein bisschen über das darin enthaltene Partizipialadjektiv. Soll er. Auch das Thema der Krankengeschichte "als Heilsgeschichte" kann er durchs Wolfsche Gesamtwerk verfolgen. Uns interessiert vor allem, was ihm an der Novelle gefallen hat. Da wären einmal die "freundliche Ironie" und die "genaue Beobachtung", mittels deren die Autorin ihren Kranhausbericht, das Protokoll des Krankwerdens und der Heilung, verfasst. Zum andern aber ist es der innere Monolog, der diesem Bericht über Äußerlichkeiten unterlegt ist. Hier, so Michaelis, mischten sich Gegenwart und Vergangenheit, die Geschichte der Erzählerin und die ihres Landes im letzten Vorwendejahr, eine Ruinenlandschaft deutscher Geschichte tue sich auf, mit deren Zeichnung die Autorin zu ihrer Abrechnung mit Faschismus und Sozialismus finde. Dass Wolf dabei "manchmal heftig das Pedal für mythologische und symbolische Untertöne" bedient (an Bezügen zu Dantes Höllenfahrt fehlt es auch nicht), erscheint Michaelis halb so schlimm: "Der dichte, gut gearbeitete Text hält das aus."

© Perlentaucher Medien GmbH
Abschied und Ankunft
Schon einige Zeit quälen sie schreckliche Schmerzen, doch erst, als sie nicht mehr auszuhalten sind, wagt man es, gegen ihren Protest eine Ärztin einzuschalten. "Das ist der Blinddarm", ruft die Ärztin, sofort wird die Kranke ins Krankenhaus gebracht. Doch es ist nicht der Blinddarm, in ihrem Bauch befindet sich ein Abszess, hervorgerufen durch einen besonders hartnäckigen Erreger. Dazu kommt eine rätselhaft schwache Immunabwehr. Die Kranke verliert das Bewusstsein, taumelt von einem Fieberschub in den nächsten, im Fieber, das sie beinahe zu Grunde richtet, geht sie der Wahrheit auf den Grund. Drei Tomografien folgen, dreimal wird sie operiert, bis sie über dem Berg ist. Ende gut, alles gut? In Leibhaftig erzählt Christa Wolf die Krankengeschichte einer etwa 60jährigen Frau, die Ende der 80er Jahre in der DDR in einem Krankenhaus behandelt und schließlich, wie durch ein Wunder, gerettet wird. Plaste-Handschuhe reißen am laufenden Band, an allen Ecken und Enden fehlt etwas - es ist eine scheinbar triviale, teilweise sogar tragikomische Geschichte, die ihre Leser mit ihrer besonderen Erzählperspektive, ihrer gedanklichen Tiefe und sprachlichen Präzision fesselt.
Der Spur der Schmerzen nachgehen
Die Geschichte beginnt, als die Erzählerin ins Krankenhaus eingeliefert wird. Während sie die Ärzte immer wieder nach dem Namen eines Medikaments fragen, erinnert sie sich an einen Anfall vor 25 Jahren. Er traf sie damals völlig unvorbereitet, gerade an dem Tag, als ein Film, an dem sie mitgearbeitet hatte, genehmigt werden sollte. Noch während des Verfahrens - der Film konnte die Zensur passieren - wird sie gerettet. Urban war der erste, der ihr gratulierte und sich nach ihr erkundigte. Urban - immer wieder taucht diese Figur auf, und mit jedem neuen Fieberschub, der neue, tiefgründige Reflexionen auslöst, entwickelt sich diese Figur zu einer Parallelfigur. Die Erzählung Leibhaftig ist die Geschichte eines Gedankenflusses, der als ein "innerer Dialog" zu lesen ist. Wer ist dieser Urban - diese Frage stellt sich nicht nur der Leser. Auch die Erzählerin fragt sich immer wieder, wie es kommen konnte, dass Hannes Urban, ihr Studienfreund und Kollege in mehreren Kommissionen, eine so steile Parteikarriere absolvieren konnte. Doch seit einer Woche ist Urban verschwunden! Immer wieder fragt sie ihren Lebensgefährten, ob Urban gefunden wurde. So ist parallel zum "inneren Dialog", der ihre Fieberträume beherrscht, auch das Geschehen in der Gegenwart als Dialog dargestellt; hier sind es die Gespräche mit ihrem Lebenspartner, den Ärzten und dem Krankenhaus-Personal, die den "inneren Dialog" unterbrechen und die Erzählung gliedern. Die Erzählerin wird gerettet, doch Urban ist tot. Er hat sich aufgehängt. Urban, der ihr früher so gut gefallen hat, später immer weniger. Er hatte in einer Rede zur Umkehr gemahnt. Vergeblich, die Partei folgte ihm nicht, forderte ihn stattdessen zum Widerruf auf. Er aber weigerte sich und wurde von seiner Funktion abgelöst. Der Rest ist bekannt.
Ende gut, alles gut? Die Patientin lebt, dank eines Medikaments, das in letzter Minute aus der BRD besorgt werden konnte. Urban ist tot, weil er nicht den Mut hatte, weiter zu leben. Am Schluss des Buches nimmt Christa Wolf Bezug auf das Wende-Ereignis in der DDR-Geschichte, das schließlich ihr Ende einläutete. "Ihr wollt uns mit Lachsbrötchen kaufen", hatte die standhafte Erzählerin Urban auf einem Kongress geantwortet - worauf Christa Wolf hier anspielt, ist der Schriftstellerkongress 1979, als in Folge der Biermann-Ausbürgerung 1976 anderen missliebigen Autoren eine Rüge erteilt werden sollte.
Leibhaftig ist eine stark autobiografisch gefärbte Erzählung, in deren Zeitrahmen die entscheidenden Ereignisse der DDR-Kulturpolitik liegen. Vom ersten Anfall bis zum Zusammenbruch umfasst sie die kurze Tauwetter-Phase unter Honecker, die Biermann-Ausbürgerung und ihre Folgen bis zum Ende der DDR, für das die tragische Figur des Hannes Urban steht. "Stellt euch vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg." Noch während der Wendezeit hatte die bekennende Sozialistin Christa für den Fortbestand einer anderen, offenen DDR gekämpft, ebenfalls vergeblich. Jetzt ist die große Literatur-Repräsentantin der DDR als Autorin eines gemeinsamen Deutschlands anerkannt. Die Erzählerin lebt, am Ende der Erzählung macht sie die ersten Schritte, sieht erstmals aus dem Fenster. Die Sonne scheint über der Stadt, den Gärten, den See bis zum Horizont. "Ich sage, ja, es ist schön." Eine schöne, neue Welt mit neuen Perspektiven! (Birgit Kuhn)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2002

Operation Tunnelblick
Krankheitsmuster: Christa Wolf überlebt die DDR im Hades

Wie bedroht muß ein Leben sein, welche Hoffnung muß sich an die Krankenhausmedizin knüpfen, daß sich für die Patientin die Pflegerin zur mythologischen Gestalt verklärt? In Christa Wolfs neuer Erzählung "Leibhaftig" spielt eine Anästhesistin die entscheidende Rolle: "Die stille, namenlose Nachtschwester hat Hilfe bekommen, eine dunkle junge Frau geht ihr zur Hand." Sie heiße Kora Bachmann, sagt sie, was die Patientin sofort kommentiert: "Beziehungsreicher Name" - ein deutliches Signal an den Leser, und das in mehrfacher Hinsicht: Im Werk der Ingeborg-Bachmann-Verehrerin Christa Wolf ist der Nachname der Anästhesistin kaum zufällig gewählt, und der Vornamen legt, zumal in der manierierten Schreibweise mit "K", ein Deutungsmuster fest, das den Text bis zum Ende hin prägen wird. Die Ärztin, deren ungewöhnliche Schönheit "in ihren leichten, fast scheuen Bewegungen" liegt, ist "mädchenhaft, lebhaft, gewissenhaft" und, kaum verhüllt, eine Persephone- oder Kore-Gestalt: in der griechischen Mythologie die Gattin des Totengottes Hades, die einen Teil ihrer Zeit unter den Lebenden, den anderen unter den Toten verbringt. Kora Bachmann obliegt es, die Patientin auf ihren Wegen zwischen Tod und Leben zu begleiten, sie in den Hades zu führen - und vor allem wieder zurück.

Christa Wolfs Erzählung handelt vom langen Krankenhausaufenthalt einer aufs äußerste bedrohten Frau. Der Text ist unverhohlen autobiographisch fundiert: Die Schriftstellerin verbrachte 1988 - das Jahr, in dem die Erzählung spielt - einige Monate im Schweriner Krankenhaus, als sie nach einem Blinddarmdurchbruch insgesamt fünfmal operiert werden mußte. Als Ausgangssituation für eine Erzählung ist dies im Werk Christa Wolfs nichts Neues: Erinnerungen aus dem Krankenbett an das Leben draußen gaben schon die Struktur für "Der geteilte Himmel" und zahlreiche andere Texte Wolfs vor. Doch in "Leibhaftig" steht nicht die Außenwelt, sondern die Krankheit im Vordergrund, die im "Geteilten Himmel" kaum mehr als Staffage war.

Hier aber, das ist auf jeder Seite zu spüren, wird es ernst, hier geht es um Leben und Tod. Im Zentrum steht der Körper der Patientin, der nicht mehr laufen oder auch nur schlucken kann, der im Bewußtsein der Erzählerin nicht selten als so fremd wahrgenommen wird, daß sie sich gedanklich von der Leidenden abspaltet und distanziert über sie berichtet wie über eine Fremde. Der Preis für diese Erholungspausen von der Identifikation mit der Sterbenskranken ist freilich hoch: Sie werden erkauft mit einem schleichenden Verlust an Realitätswahrnehmung, als dessen Folge Phantasien und andrängenden Bilderfluten im Bewußtsein der Patientin breiter Raum eröffnet wird, bis hin zu der Gefahr, daß sich die Kranke in ihren wiederkehrenden Todesvisionen verliert.

Für den Leser bedeutet diese Disposition allerdings einen erheblichen Zugewinn: Das Dahindämmern im Krankenhaus, die immer wieder auftretenden Fieberschübe, die langwierige Prozedur im Computertomographen, wo selbst das gleichmäßige Atmen verordnet werden muß, all dies wird in einem aufregenden Wechsel aus sachlicher Schilderung und phantasievoll verfremdeter Innenschau beschrieben, und die besten Passagen von Wolfs Erzählung finden sich in den faszinierenden Tunnelvisionen der Kranken, die sich durch endlose Kellergänge und düstere Verschläge in ein Totenreich der unverarbeiteten Erinnerungen träumt.

Der Abstieg in die Unterwelt gilt zunächst der Krankheit; er ist dem Versuch geschuldet, herauszufinden, was das Leiden verursacht. Der Ertrag ist zunächst gering (und überdies aus anderen Texten Wolfs vertraut): "Nicht einmal staunen kann ich, daß ich hierher geraten mußte, auf den Boden dieses Schachtes, damit mir Sorgen und Mühen vergehen. Eine Ahnung will mir aufdämmern, als sei diese ganze aufwendige Veranstaltung aus keinem anderen Grund inszeniert."

Die Krankheit als Chance, als Atempause vor der Außenwelt - tatsächlich wird immer wieder auf die äußerst sensible Haltung hingewiesen, mit der die Patientin allen Katastrophen und Unfällen, die anderen widerfahren, begegnet. So ist sie lange Zeit außerstande, Radio zu hören, weil die Berichte von Flugzeugabstürzen oder Mordanschlägen sofort eine Bilderflut in ihr auslösen, die sich mit den wiederkehrenden Tunnelvisionen zu irritierenden Albträumen vermischt. Da wird im Fiebertraum etwa aus der Nachricht einer Kindstötung ein Homunculus, der die Patientin durch den Tunnel begleitet und zur Erinnerung an eine verstorbene Tante überleitet, die während des Krieges die Geliebte eines jüdischen Arztes war. Dinge überlagern sich, wachsen zusammen, treten pointiert ans Tageslicht und werden später von der Patientin mit ihrem namenlosen langjährigen Begleiter zu diskutieren versucht. "Es ist uns ja eingetrichtert worden, daß alles und jedes dadurch, daß es sich als Geschichte erzählen läßt, sinnhaft wird, seine Sinnhaftigkeit beweist", heißt es einmal. Dieses Verfahren aber muß an den auf die Kranke eindrängenden Visionen scheitern, da sich eine nacherzählbare Struktur nur selten einstellt.

Leider beläßt es das Buch nicht dabei und vertraut nicht auf die Suggestivkraft dieser Geschichte zwischen Tod und Leben. Offenbar um den Beweis der Sinnhaftigkeit des Erzählten anzutreten, wird die Krankengeschichte immer wieder zur Agonie der absterbenden DDR in Beziehung gesetzt. Diese Passagen gehören zu den schwächeren des Bandes; sie wirken wie nachträglich, aus dem Abstand von zwölf Jahren, konstruiert. Dabei ergeben sich zwar auf allen Ebenen Parallelen zwischen der Person und der Gesellschaft, die anfangs überraschen, später aber in ihrer Funktion so vorhersehbar geworden sind, daß sie wie hartnäckig eingefügte Hinweise und damit wie Fremdkörper erscheinen. So ist immer wieder von der Mangelwirtschaft in der DDR die Rede (und gleich darauf von dem ausgebildeten Improvisationstalent ostdeutscher Ärzte und Pfleger), die ihre Entsprechung im Körper der Patientin findet. Als sie den Arzt fragt, warum es ihr so schlecht gehe, erhält sie die Antwort: "Weil Ihnen wichtigste Stoffe fehlen." Das lebensrettende Medikament muß dann im Westen eingekauft und eilig ins Krankenhaus geschafft werden.

Auf das Ende der DDR deutet der Freitod Urbans voraus, des früheren Weggefährten der Patientin aus Studientagen, der aber eine Funktionärskarriere macht und im Staat aufgeht, bis er mit dem veränderten gesellschaftlichen Klima der Vorwendezeit nicht mehr zurechtkommt und sich das Leben nimmt, was die Kranke in ihren Fieberträumen schon ahnt. Und auch die Vergiftung ihres Körpers nach dem Blinddarmdurchbruch findet ihre Entsprechung in der schleichenden Vergiftung des von der Patientin und ihren Freunden einst so hoffnungsvoll begleiteten sozialistischen Projektes. Doch während sie den Ursachen der eigenen Krankheit gerade noch rechtzeitig nachspürt, ist es für die DDR schon zu spät.

All dies liegt allzu nahe, um die Geduld des Lesers nicht nach einiger Zeit zu strapazieren, zumal im Verlauf der Erzählung zu der Kranken und ihrem Staat auch noch die Natur tritt, um mit einem ausgeprägt regnerischen Sommer, der von der Angst um die Ernte begleitet wird, ein weiteres Mal die Unordnung der Welt zu symbolisieren. Natürlich ist auch diese Entwicklung parallel zum Verlauf der Krankheit angelegt - als sich mit dem Ende der Regenfälle doch noch die Hoffnung auf eine ergiebige Getreideernte einstellt, ist die Erzählerin auf dem Weg der Besserung schon so weit fortgeschritten, daß sie zum erstenmal wieder am Essen interessiert ist und sogar Angst vor dem Verhungern hegt. Doch die Parallele reicht weiter: Beide Heilungsprozesse, die sich an der Natur und an der Patientin vollziehen, sind in der rätselhaften Ärztin verkörpert, die sich als Kore traditionell um das Getreide und als Anästhesistin um den Heilschlaf der Patientin kümmert.

Das alles nimmt man in Kauf, um der suggestiven Hadesvisionen willen. Doch daß die Rekonvaleszente, nachdem sie ihre eigenen Projektionen schließlich durchschaut hat, diese anschließend der Anästhesistin wortreich erklärt, ist entschieden zuviel des Guten.

Christa Wolf: "Leibhaftig". Erzählung. Luchterhand Verlag, München 2002. 192 S., geb., 18,- .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2002

Das Kichern
Ein Fall von Genesung: Christa Wolf lässt Kassandra hinter sich
Als vorgestern Abend Christa Wolf in der Alten Dorfkirche in Berlin-Pankow zum ersten Mal öffentlich aus ihrem neuen Buch las, war der Andrang überwältigend. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, auch Volker Braun saßen unter den gut 800 Zuhörern. Es war aber beileibe kein Treffen der älteren Generation. Viele waren gekommen, die 1989, als häufig in Kirchen gelesen wurde, noch zu den Jugendlichen gehört hatten. Schon bevor Anfang dieser Woche die Erzählung „Leibhaftig” erschienen war, hatte sich die Kunde verbreitet, dies sei der endgültige Abschied Christa Wolfs von der DDR, hier finde der vor über zehn Jahren untergegangene sozialistische deutsche Staat seine gültige literarische Bestattung. Mancher in der Pankower Kirche wird daher überrascht gewesen sein, dass die DDR in dem, was Christa Wolf vorlas, nur ganz am Rande vorkam. Es ging um eine schwere Krankheit, um Betäubtwerden und Aufwachen, um Spritzen und um Rekonvaleszenz. Und doch entbehrte das Gerücht nicht der Grundlage.
Als Christa Wolf am 4. November 1989 auf der Kundgebung am Alexanderplatz sprach, wurde sie von Herzrhythmusstörungen befallen. Das Publikum bemerkte davon nichts. Kaum hatte die Rednerin den Satz „Wir sind das Volk” über die Lippen gebracht, musste sie das Podium verlassen und sich hinter der Bühne in die Obhut der Sanitäter vom Roten Kreuz begeben. Die brachten sie ins Krankenhaus. Christa Wolf war es am Höhepunkt der Staatskrise wie einer ihrer Figuren ergangen. Die Dichterin war zur Symptomträgerin der maroden Ordnung geworden, an ihrem Körper zeichnete sich die Wende ab, sie hatte ein literarisches Modell gelebt, das sie über Jahrzehnte ins Zentrum ihres Schaffens gestellt hatte: Krankheit als Metapher.
Im Rückblick auf die DDR stehen sich zwei repräsentative Frauenfiguren gegenüber, himmelweit unterschieden, und doch zusammengehörig: die medaillenbehängten Athletinnen und die kranken Schriftstellerinnen von Inge Müller, die von ihren Depressionen in den Selbstmord getrieben wurde, bis zu Irmtraud Morgner, die 1990 ihrem Krebsleiden erlag. In den Sportlerinnen demonstrierte der Staatskörper seine Gesundheit und sein Weltniveau. In den kranken Autorinnen und ihren Figuren gewann der Gesellschaftskörper Gestalt. Er streikte oder bäumte sich vital auf, er stellte sich taub gegen Parolen, er kündigte die Gesundheitsnorm auf wie die Bauarbeiter 1953 das Übersoll, lange ehe sich in den achtziger Jahren die politische Opposition zu formieren begann.
Krankheit als Metapher
Christa Wolf war die große Schaltstelle dieser symbolischen Körperpolitik, die Hüterin des kranken weiblichen Körpers. Sie hatte mit der Leukämie der Heldin in „Nachdenken über Christa T.” (1968) das Grundmotiv angeschlagen und die Einfühlung in die „kranke” romantische Tradition, in Kleist und die Günderode gesucht, während die offizielle Kulturpolitik die „gesunde” Weimarer Klassik an die Seite der erfolgreichen Athletinnen rückte. Sie machte Brigitte Reimann, die 1973, und Maxie Wander, die 1977 an Krebs starb, zu Verwandten ihrer Christa T., in Vorträgen wie „Krankheit und Liebesentzug” (1986) oder „Krebs und Gesellschaft”(1991) lässt sich die Theorie dazu finden.
Diese Theorie, die in den siebziger Jahren ihren weltweiten Siegeszug antrat, sah in den Krankheiten den Negativabdruck des falschen Lebens. Der junge Schweizer, der schon tot war, als er 1977 unter dem Pseudonym Fritz Zorn Furore machte, begann sein Buch „Mars” so: „Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein. Ich stamme aus einer der allerbesten Familien des rechten Zürichseeufers, das man auch die Goldküste nennt. Ich bin bürgerlich erzogen worden und mein ganzes Leben lang brav gewesen. Natürlich habe ich auch Krebs, wie es aus dem vorher Gesagten eigentlich selbstverständlich hervorgeht.” Zu Christa Wolfs gesamtdeutschem, aber auch internationalem Erfolg gehörte, dass sie für ihre Welt, die DDR, mustergültig diese Deutung der Krankheit als Schlüssel zur Wahrheit der Individuen, Gesellschaften, Staaten repräsentierte.
Sechs Jahre hat sich Christa Wolf nach ihrer „Medea” (1996) Zeit gelassen, über ein Jahrzehnt liegen die Ereignisse zurück, denen sie sich in der Erzählung „Leibhaftig” zuwendet. Der Stoff ist autobiografisch. Eine schwere Erkrankung, ein Blinddarmdurchbruch hatte die Autorin 1988, ein Jahr vor der Wende, in eine Intensivstation, in die Nähe des Todes geführt. Davon erstattet sie hier Bericht. Von der Notfall-Einlieferung in die Klinik, von den Operationen, die wiederholt werden müssen, von den Träumen und Erinnerungen zwischen Narkose und Halbwachsein, und schließlich von der Überwindung der Krise, vom Rückweg in die Genesung.
Es gibt in dieser Krankengeschichte eine diagnostische Lücke, die der Chefarzt „in sachlichem, leicht strafenden Ton” der Patientin vorhält: „der Krankheitsverlauf begründe nicht ausreichend den Zusammenbruch meiner Immunabwehr”. Christa Wolf wäre nicht Christa Wolf, gäbe sie nicht zuweilen der Versuchung nach, diese Lücke durch symbolische Überhöhung zu füllen. Der weibliche Körper und die erschöpfte, verwundete Seele, die darin streikt, zeugen ein letztes Mal von der inneren Agonie der DDR. Das Überraschende und literarisch Interessante an dieser Erzählung aber, die solch plakative Texte wie „Störfall” (1986) weit hinter sich lässt, ist gerade nicht der gewohnte Parallelismus zwischen Staatskörper und krankem Frauenkörper. Sondern die Energie, mit der sich Christa Wolf endlich vom repräsentativen Leiden zu lösen beginnt.
Leibhaftiges Ereignis
Hier kämpft nicht nur eine Kranke gegen die Bakterien, die ihr den Garaus machen wollen. Hier kämpft zugleich eine Schriftstellerin darum, die physisch-faktische Krankheit endlich nicht mehr in der symbolischen verschwinden lassen zu müssen, sich nicht noch den Sinn der letzten Spritze vom Staat diktieren zu lassen. Das Buch ist ein Ereignis, weil Christa Wolf diesen literarischen Kampf über weite Strecken gewinnt. Sie benutzt dafür einen Trick, eine Nebenfigur. Aus dem Ex-Kommilitonen und Ex-Freund Urban ist ein dogmatischer Kulturfunktionär geworden. Im Verlauf der Krankheit geistert er durch die Erinnerungen und Träume der Fiebernden – bis die Genesende die Nachricht erhält, er habe sich erhängt. An diesen Selbstmörder, der dem DDR- Literaturwissenschaftler Hans Koch nachgebildet ist, hat Christa Wolf die Pflicht delegiert, den maroden, am Ende angekommenen Staat zu bedeuten.
So gewinnt sie den Raum, sich ganz der unmetaphorischen Krankengeschichte zuzuwenden, dem Auf und Ab der Fieberkurve, den Wadenwickeln, den charakteristischen Redewendungen und Gesten der Krankenschwestern und Ärzte, den Schläuchen der künstlichen Ernährung und den Aufenthalten im Dämmer nach der Betäubung – und dem Aufwachen aus labyrinthischen Träumen und Erinnerungen an die Kindheit im Krieg und eine Tante, die einen Juden liebte.
In der schlechten Federung des Krankenwagens, den ständig reißenden Handschuhen des Chefarztes, im Nichtvorhandensein des lebensrettenden Medikamentes ist die Mängelwirtschaft der DDR beiläufig anwesend, in den Gedichten Goethes das Vertrauen auf die Heilkräfte der Literatur. Käme beides anders als en passant vor, wäre die Erzählung schwächer. Todkranke können sich nicht auch noch um die Weltgeschichte und den Kanon kümmern. Hier entsteht ein Ton, der ohne Kleist- und Kassandra-Maske auskommt, der die empfindsame Larmoyanz, das symbolische Hochrechnen und die Märtyrer reflexionen nur noch gelegentlich wie Reste einer abgelegten Haut mitführt, der gelegentlich gar die Regionen von Scherz, Sarkasmus und Selbstironie streift: „Tief in mir kicherte jemand mit mir über mich.” Elegant wie ein philosophischer Dialog aus dem 18. Jahrhundert geht ein Gespräch über den Tod der Lebenslust voran, die das letzte Wort hat.
Christa Wolfs „Leibhaftig” ist ein starkes Stück Rekonvaleszentenliteratur. Ein Satz aus Susan Sontags Essay „Krankheit als Metapher” (1977), der aus der Genesung von einer plötzlichen Krebserkrankung entstand, könnte ihr voranstehen: „die gesündeste Weise krank zu sein besteht darin, dem metaphorischen Denken größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.”
LOTHAR MÜLLER
CHRISTA WOLF: Leibhaftig. Erzählung. Luchterhand Verlag, München 2002. 185 Seiten, 18 Euro.
Am Dienstag abend las Christa Wolf in der Alten Pfarrkirche in Berlin-Pankow. 800 Zuhörer kamen, darunter Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
Foto: gezett.de
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»Literatur war für sie der Passierschein in eine Möglichkeitswelt: Christa Wolf suchte zeitlebens den Anschluss an das, was sie für wahr hielt.« F.A.Z.