Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 15,00 €
  • Gebundenes Buch

An Dramatik nicht überbietbar, erst recht für einen Menschen der Sprache: Inmitten einer Kopfoperation wird der Patient aus der Narkose geweckt, und er muss - damit der Eingriff gelingt - um sein Leben reden. "Sprich oder stirb", heißt der unbedingte Befehl, Wachkraniotomie nennt es die Medizin.Virtuos portraitiert Jens Wonneberger einen Mann der wenigen Worte, der sich nun dem Erinnerungsstrom hingibt. Von der Kopffolter langsam genesend und seinerseits das Krankenhauspersonal 'sezierend', erzählt Wonnebergers Patient einen humorvollen wie tiefsinnigen Roman lang von seiner grußlosen Flucht…mehr

Produktbeschreibung
An Dramatik nicht überbietbar, erst recht für einen Menschen der Sprache: Inmitten einer Kopfoperation wird der Patient aus der Narkose geweckt, und er muss - damit der Eingriff gelingt - um sein Leben reden. "Sprich oder stirb", heißt der unbedingte Befehl, Wachkraniotomie nennt es die Medizin.Virtuos portraitiert Jens Wonneberger einen Mann der wenigen Worte, der sich nun dem Erinnerungsstrom hingibt. Von der Kopffolter langsam genesend und seinerseits das Krankenhauspersonal 'sezierend', erzählt Wonnebergers Patient einen humorvollen wie tiefsinnigen Roman lang von seiner grußlosen Flucht aus der Reisegesellschaft in die Berge und von seinem Absturz. Schien ihm der Grund seiner Flucht anfänglich klar, wird er im Lauf der Zeit immer fragwürdiger. Ist er vor seiner Frau Sabine geflüchtet, die die Reise arrangierte, um die Ehe zu retten? Vor den Bildungsbürgern auf Goethes Spuren oder vor Frau Röhrlich, die ihn mit Schreibaufträgen - zum Geldverdienen - bedrängte?Von körperlicherTätigkeit und äußerem Einfluss separiert, kreisen seine Gedanken immer wieder um Sabine oder - so sagt er sich - "Denke ich nur so oft an sie, um nicht an mich denken zu müssen?"In Wonnebergers neuem Roman wird die Aufforderung zum Sprechen zu einer Metapher für die Lebensnotwendigkeit des Erzählens, für den Sinn von Literatur.
Autorenporträt
Wonneberger, Jensgeboren 1960, lebt in Dresden. Er studierte zunächst Bauingenieurwesen und arbeitete anschließend als Reinigungskraft und Verkäufer.Seit 1992 ist er freiberuflicher Autor und Redakteur. Diverse Stipendien, 2010 Sächsischer Literaturpreis, 2017 Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds. Zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher. Zuletzt erschienen im Müry Salzmann Verlag "Goetheallee" (2014) und "Himmelreich" (2015).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2017

Demut kommt
nach dem Fall
Jens Wonnebergers neuer
Roman „Sprich oder stirb“
„Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecke aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ Die Sentenz aus Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ wird im neuen Roman des 1960 geborenen Dresdner Autors Jens Wonneberger zur gruseligen Realität. Sein Held liegt im Operationssaal, der Kopf arretiert in metallischen Schraubzwingen. Der Chirurg hantiert mit dem Skalpell in seinem Oberstübchen herum. Die Schädeldecke ist unappetitlich aufgeklappt, „ein Frühstücksei, das man mit dem Messer köpft“, und der Patient, kurzzeitig aus seiner Narkose geweckt, wird aufgefordert zu reden. Wachkraniotomie nennt man so etwas: Da der Arzt nahe am Sprachzentrum herumwerkelt, soll der Erzählfluss Auskunft darüber geben, ob beim Gemarterten Ausfallerscheinungen auftreten. Für einen Moment befürchtet der, man könne nun in sein Innerstes blicken, gar seine Gedanken lesen.
„Da begreife ich, dass es um mein Leben geht, ich nun um mein Leben reden muss“, und er beginnt von seiner Urgroßmutter zu erzählen, der Schneiderin Martha. Er durchkramt sein Gedächtnis und kehrt zurück in die Kindheit, und schon dieses stromernde Reden scheint Teil des Heilungsprozesses zu sein. Die Operation am offenen Hirn gelingt. Der Patient überlebt. Aber das eigene Leben muss nach und nach wiedergefunden werden – das eigene Leben, das ist vor allem die Sprache, die Erinnerung.
„Sprich oder stirb“ heißt Jens Wonnebergers Scheherazade-Variation, die an seinen Roman „Goetheallee“ (2014) anknüpft. Damals lernte man einen erfolglosen und schreibmüden Autor kennen, der sich selbst fremd geworden war. Die Leiden des nicht mehr ganz jungen Ich-Erzählers waren schön zu lesen, weil Missmut und Misanthropie die Beobachtungsgabe steigern können – auf seinen täglichen, ziellosen Spaziergängen durchs Viertel entfaltete sich dem Krisengeschüttelten zuweilen die Poesie des Alltäglichen. Das Buch, das in der Goetheallee begann, endete schließlich in der Goethe-Sackgasse. Während einer Busfahrt gen Italien, auf den Spuren des Dichters, brach die Autormisere vollends aus, floh an einer Raststätte der Autor vor Bildungsbürgerreisegruppe und Frau ins Gebirg. Ein Aufbruch ins Offene? Oder ein bodenloser Sturz?
„Sprich oder stirb“ lehrt uns nun, dass wohl beides zutrifft. Der Schriftsteller, auf der Suche nach sich selbst, schlägt sich mutterseelenallein durch die raue Natur. Auf einer „Marterltafel“ am Wegesrand, die ans Ende des Bergbauern Josef Niederndörfer erinnert, wird ihm prophetisch das eigene Schicksal angezeigt: „vom Fuß“ sei dieser im Jahr 1854 ab- und zu Tode gekommen. Vom Fuß kommt auch der Ich-Erzähler ab, im doppelten Sinn. Er stürzt aus der Selbstverständlichkeit des Lebens und aus großer Höhe in die Tiefe. Mit viel Glück gelangt er noch rechtzeitig in die Klinik.
Nach überstandener Operation hört er auch als Rekonvaleszenter nicht auf zu reden,mit Schwester Krystyna, auf die er heimlich ein Auge geworfen hat, mit seiner abwesenden Frau, die ihm fremd geworden ist, mit der Urgroßmutter, vor allem aber mit sich selbst. So verschwimmen in diesem Bewusstseinsstrom Zeit und Raum, langsam setzt sich das Vergangene Stück für Stück zu einer neuen Gegenwart zusammen. Man begreift rasch, dass dieses Kammerspiel nicht wie ein Arztroman in Freudentränen enden wird.
Eher mit dem Mut zur Selbsterkenntnis: „Ich denke wieder an jene Nacht in den Bergen, an den Morgen, als ich aus der verlassenen Scheune ins Freie getreten war, und plötzlich ist mir klar, dass mein Verstummen nichts mit der Angst um meine Genesung zu tun hat und schon gar nichts mit dem Assistenten. Ich wusste einfach nicht, wie ich den Sternenhimmel beschreiben konnte und das Glitzern des Taus in der Morgensonne, ich habe geschwiegen, weil der Zauber zu groß für meine Worte ist. Ich wusste einfach nicht, wie ich die Schönheit erzählen soll.“ Demut kommt nach dem Fall. Aber die Haltlosigkeit lässt auch die Worte wieder purzeln – vielleicht ist das die Wiedergeburt des Schriftstellers.
Der leider noch immer zu wenig beachtete Jens Wonneberger zeigt in seinem neuen Roman einmal mehr, wie sprachlich sparsam instrumentiert, auf kleinstem Raum und doch höchst filigran man sich in die zu scheitern drohende Existenz eines Menschen hineinbegeben kann. Und wie sich so die Seltsamkeiten der Existenz in einem Prozess der Selbst-Anamnese offenbaren. Sich selbst die Schädeldecke aufbrechen – Jens Wonneberger beweist, dass so etwas durchaus geht.
ULRICH RÜDENAUER
Dieses Kammerspiel wird nicht
wie ein Arztroman
in Freudentränen enden
Jens Wonneberger:
Sprich oder stirb. Roman. Verlag Müry Salzmann, Salzburg und Wien 2017. 174 Seiten, 19 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr