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Ein Schriftsteller schreibt einen Brief an einen „Cher Monsieur“, in dem er ihm von einer zutiefst verstörenden Beobachtung berichtet. Er hat gesehen, wie seine Freundin Henriette in einem Taxi einen Mann geküsst hat. Hin- und hergerissen zwischen dem Glauben an die Liebe Henriettes, die überzeugend ihre Unschuld beteuert, und der Gewissheit, dass das, was er gesehen hat, die Wahrheit ist, wird die Szene im Taxi zu einer Idée fixe, die die Grundfesten seiner Existenz erschüttert. Es kann nur eine Wahrheit geben, aber welche? Die Entscheidung über diese Frage ist dem Leser des Briefes…mehr

Produktbeschreibung
Ein Schriftsteller schreibt einen Brief an einen „Cher Monsieur“, in dem er ihm von einer zutiefst verstörenden Beobachtung berichtet. Er hat gesehen, wie seine Freundin Henriette in einem Taxi einen Mann geküsst hat. Hin- und hergerissen zwischen dem Glauben an die Liebe Henriettes, die überzeugend ihre Unschuld beteuert, und der Gewissheit, dass das, was er gesehen hat, die Wahrheit ist, wird die Szene im Taxi zu einer Idée fixe, die die Grundfesten seiner Existenz erschüttert. Es kann nur eine Wahrheit geben, aber welche? Die Entscheidung über diese Frage ist dem Leser des Briefes überlassen. Das raffinierte Vexierspiel, das der Autor Emmanuel Bove mit dem Leser treibt, ist zugleich eine Reflexion über Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2017

Der Freundin trauen oder den Augen
Einer lügt: Emmanuel Boves verstörende Erzählung "Was ich gesehen habe"

Ein Mann schreibt einen Brief. Vielleicht sitzt er dafür ruhig am Tisch, überlegt, wägt jedes seiner Worte und legt am Ende einen Stapel Blätter sorgfältig in einen Umschlag. Oder er springt auf, läuft erregt durchs Zimmer, vergräbt den Kopf in den Händen, kritzelt wild und streicht die Hälfte wieder durch. Der Text, der nun unter dem Titel "Was ich gesehen habe" gerade in einer bibliophilen Ausgabe auf Deutsch erschienen ist, neun Jahrzehnte nach dem Original und sechzehn Jahre nach der deutschen Erstübersetzung in der Zeitschrift "Krachkultur", lässt Raum für beide Vorstellungen von dem Briefschreiber, einem Schriftsteller namens Jean.

Die Frage aber, in welchem Zustand er sich dabei befindet, ist keine Kleinigkeit. Denn Jean meint, dass er seine Geliebte zufällig in einem vorbeifahrenden Taxi gesehen habe, just als sie einen Mann küsste, was sie anschließend, von ihm zur Rede gestellt, bestreitet. Nun, Wochen später, wendet sich Jean an einen ungenannten Adressaten, er legt, so schreibt er, sein Schicksal in dessen Hände, indem er ihn um eine Beurteilung des Falls bittet. Sein Leben hänge davon ab.

Der Autor des fiktiven Briefs ist der französische Schriftsteller Emmanuel Bove, eigentlich Bobovnikoff, geboren 1898 in Paris als Sohn eines russischen Juden und einer Luxemburgerin. Die Familienverhältnisse sind verworren, was Bove später literarisch verwerten wird, und der junge Autor, den die Schriftstellerin Colette entschieden fördert, entwickelt bald eine rastlose Produktivität. Als er 1945 stirbt, umfasst sein Werk 23 Romane und mehr als dreißig Erzählungen.

Bis heute wird er immer wieder vergessen und wiederentdeckt, in Deutschland zuletzt um die Jahrtausendwende. Und wer auch nur einige seiner Texte gelesen hat, wird darin einen vollkommen eigenen Ton entdecken, der sachlich und kühl vollkommen einsame Personen schildert, Menschen, die nirgendwohin passen, am allerwenigsten in die Gesellschaft anderer, und wenn es sie doch in engere Freundschafts- oder Familienbande verschlägt, endet die Sache zuverlässig in einer Katastrophe.

Auch Jean verteidigt derart eifersüchtig seine Beziehung mit Henriette, nicht zuletzt übrigens vor dem Leser, dem er den Zugang zu Henriettes Perspektive auffällig schroff verweigert, dass man seinen Schilderungen der ganz und gar glücklichen Gemeinschaft mit einer Frau, die Jean geradezu "anbetet", von der ersten Seite an misstraut. Bove streut dezent Hinweise auf Jeans fiebrige Erkältung an jenem Tag, an dem er Henriette bei der Untreue ertappt haben will, und man könnte es sich sehr leichtmachen, seine Beobachtung als Überspanntheit, seine Vorhaltungen als Ausdruck einer Obsession abzutun und sich eher zu fragen, wie lange eine offensichtlich engelsgeduldige Frau derlei noch mitmachen wird.

Aber Bove wäre nicht der meisterliche Psychologe, als der er sich ein Autorenleben lang mit großer Konstanz gezeigt hat, wenn er seinen Erzähler nicht fortwährend ungewollt Türen zu einer anderen Deutung öffnen lassen würde, die seinen Argwohn nähren - warum, beispielsweise, liest Henriette immer und immer wieder die von Jean verfassten Werke? Warum drängt es sie so, die Wohnung zu verlassen, warum wehrt sie seine Begleitung ab, warum gibt sie sich hinterher so, als läge ihr gar nichts an dem Gang in die Stadt, den sie doch so betrieben hatte?

Auch hier jedenfalls, auch in diesem Brief, der doch eigentlich von Henriette sprechen möchte, geht es im Grunde einzig um Jean, um seine Weltsicht, die alles verheißt, nur nicht ein ruhiges Glück an der Seite einer Frau. Und am Ende bleibt ein Dilemma, das Jean ebenso wenig aufzulösen vermag wie die von ihm angerufene Instanz, der Leser: Entweder lügt Henriette, und das in einer Dreistigkeit, die kaum zu glauben ist, oder es lügen seine Augen. Beide, die Freundin und die Sinnesorgane, verbinden Jean auf je eigene Weise mit der Welt, die ihn umgibt, und es ist grausam, sich zwischen ihnen entscheiden zu müssen.

Bove aber weicht keiner Grausamkeit aus, die zwischen Menschen entsteht, die einander nahe sind. Auch dies ein Grund für eine weitere Renaissance seines verstörenden Werks.

TILMAN SPRECKELSEN

Emmanuel Bove: "Was ich gesehen habe". Erzählung.

Aus dem Französischen von Helke Voß-Becher. Golden Luft Verlag, Mainz 2017. 24 S., geb., 12,- [Euro].

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