Marktplatzangebote
7 Angebote ab € 3,90 €
  • Gebundenes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Goetz, Tegernsee
  • Seitenzahl: 200
  • Erscheinungstermin: 19. Mai 2009
  • Deutsch
  • Abmessung: 285mm
  • Gewicht: 1056g
  • ISBN-13: 9783980934930
  • ISBN-10: 3980934934
  • Artikelnr.: 26411623
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.07.2009

Zauberei und Zwecke
Ein Rückblick auf 60 Jahre bundesdeutsche Bildungspolitik
Diesen Schlüssel hielte man gern in Händen. Er soll nämlich, glaubt man der Bundesforschungsministerin, der Schlüssel sein „für individuelle Lebenschancen und für soziale und kulturelle Teilhabe”. Zugleich soll es sich um den „Schlüssel zu Deutschlands Zukunft” handeln, wovon ein ehemaliger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft überzeugt ist, und um den „Schlüssel zum Wohlstand”. So sieht es ein Sachbuch-Bestsellerautor, der Wohlstand wohl zu buchstabieren weiß. Dasselbe Gerät soll laut einem weiteren ehemaligen Präsidenten der DFG „ein Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg” sein. Zauberkräfte muss er haben.
Es ist leicht zu erraten, woran Annette Schavan, Wolfgang Frühwald, Bastian Sick, Ernst-Ludwig Winnacker denken. Der Bildung gilt ihr Rühmen. Sie sind vier jener „60 Köpfe”, die in dem zwischen Bildband und Historiographie changierenden Buch unter dem Motto „Einfallsreichtum” die Bildungsrepublik Deutschland verkörpern sollen. Hierzulande, heißt der Refrain, ist gut forschen und gut lehren. Eine einzige Stimme schert aus. Eine Schach-Juniorenweltmeisterin kann „leider nicht viele Vorteile im deutschen System erkennen”. Ihren „ausländischen Freunden” ergehe es besser.
Ansonsten ist es aufschlussreich, wie sehr die Geistesgrößen im Duktus ihrer Fachgebiete hausen. Eine Finanzwissenschaftlerin versteht unter Bildung einen „Treiber von Forschung und Innovation”, der die „Wettbewerbsdefizite im internationalen Vergleich” beseitigen solle. Eine Ökonomin sieht im „Humankapital den wichtigsten Wachstumsbeitrag”, die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz will „unser Land wieder nach vorne bringen”, ein Onkologe erhofft sich dank onkologischer Technologien „eine gesunde Zukunft”. National und anwendungsorientiert ist der vorherrschende Blickwinkel. Es braucht alte Fahrensleute wie Hans Maier, um das Grundsätzliche zu benennen: Bildung mache und erhalte neugierig, weltweit.
Dabei war der Kern der Debatten in den sechziger und siebziger Jahren die Frage, inwieweit Bildung, die nicht Erziehung sein will, ein Gegengewicht ausbilden müsse zum gesellschaftlich dominierenden Utilitarismus. Jürgen Busche erinnert in seinem Streifzug durch das „kurze Jahrzehnt” von 1961 bis 1969, zwischen Mauerbau und Willy Brandts erster Kanzlerschaft, an den beginnenden Abwehrkampf der Geisteswissenschaften. Einerseits gab es skurrile Einrichtungen wie den „Überforderungsbeauftragten” an der Freien Universität Berlin, der darüber wachte, dass die Lektürelisten nicht zu lang gerieten. Andererseits verhalfen die Achtundsechziger durch ihre Appelle für ein antielitäres, sozial breit verankertes Studium den bevorzugten Geisteswissenschaften gerade nicht zum Aufschwung: „Der Lehramtsstudent anstelle des Germanisten oder Romanisten oder Mathematikers ist in den sechziger Jahren entstanden.”
Noch größer wurde das Missverhältnis von Anspruch und Realität im folgenden Jahrzehnt. Christine Eichel zieht eine „ernüchternde Bilanz”; gerade die vielen Reformen von damals hätten zum heutigen Bildungsnotstand geführt. Das „Bürgerrecht auf Bildung” sollte mit einer antiutilitaristischen Spitze verwirklicht werden, Wilhelm von Humboldt gab das Idealbild ab – so weit, so vernünftig. Tatsächlich aber habe das In-eins von innerer Reform und äußerem Wachstum anonyme Massenuniversitäten hervorgebracht. Die Einführung der „Zentralen Vergabestelle für Studienplätze” (ZVS) von 1977 beschleunigte den Trend. Am Ende habe sich gezeigt, dass Bildungspolitik ihr Wesentliches verfehlt, wenn sie als „universales Organon” gesellschaftliche Widersprüche überbrücken will.
Lernten, so die arg zugespitzte Diagnose zutrifft, die folgenden Jahre aus dieser Überforderung? Griff man bewusst zum kleinen Karo, zum beharrlichen Pragmatismus in jenem Jahrzehnt, dem Markus vorsang, er gebe Gas, er wolle Spaß? Auf jeden Fall sind die Achtziger das heute am weitesten entrückt wirkende Jahrzehnt deutscher Bildungspolitik. In einem flirrend phantasievollen Text skizziert Reinhard Kahl eine Vergangenheit, die sehr vergangen ist. Schulen, Universitäten, Kindergarten hatten damals „gar keinen Ruf”. Ein abseitigeres Thema war nicht denkbar. Begonnen hatte das Jahrzehnt ängstlich und utopiefrei, mit Golfkrieg und Ölkrise, Jugendliche fühlten sich da überflüssig, ungebraucht.
Das Schreckgespenst hieß nicht Überforderung, sondern Überqualifikation. Die Kultusminister schnitzten fleißig mit am Fetisch, akademische Bildung erschien plötzlich als Armutsrisiko, die „Lehrerschwemme” wurde zum Unwort. Daraus aber und in „trotziger Abkehr von der Sorgenagitation vieler Lehrer und Eltern” entwickelte sich das „wunschlose Glück” von Markus und seiner Alterskohorte, eine politische Askese. Vor diesem Hintergrund gedieh eine eher bildungsfeindliche Ideologie. Der „Bedarf” stieg auf zum Schlüsselbegriff. Rechtfertigen vor ihm musste sich jede individuelle Studienentscheidung, jede planerische Maßnahme.
Der Endpunkt dieser Ideologie schimmert durch im Beitrag des Erziehungswissenschaftlers Helmut Fend, verfasst in einem grausamen Beamtendeutsch. Die Gegenwart sei gekennzeichnet durch eine „qualitative Erneuerung des Bildungswesens”. Stetig verbesserte „Qualitätssicherung”, sei es im Rahmen von „Bologna”, sei es dank „Governance”, habe auf allen Ebenen sicherzustellen, dass „den modernen Bedürfnissen der Wirtschaft und Gesellschaft” genüge getan werde. Das „Weltniveau” könne erreicht werden, die „Optimierung von Lehren und von Lernen” schreite munter voran.
Man staunt und grübelt. Handelt es sich beim Schlüssel zur Zukunft doch um ein magisches Requisit? Wächst aus einem Berg der Enttäuschungen glorios „Bologna” hervor und rettet unsere Bildung? Die Stärke des Buches ist es, trotz Fendscher Jubeltöne über das „intensive Qualitätsbewusstsein”, sich einer einsträngigen Moral zu verweigern. Ambivalenzen bleiben ungeschlichtet – auch in den Beiträgen Aleida Assmanns und Paul Noltes.
Die Bildungspolitik aber könnte sich einer Erkenntnis von 1919 durchaus wieder erinnern. Sie stammt von dem leidenschaftlichen Erzieher Rudolf Borchardt und besagt: Bildung erreicht das Geistige niemals direkt, nie technisch, sondern immer nur „auf dem Umwege des Ausgleiches der Seele gegen die Sinne, über Kämpfe des Sinnlichen mit dem Seelischen.” Ebendort ließe sich 2009 neu ansetzen. ALEXANDER KISSLER
JÜRGEN BAUMERT (Hrsg.): Einfallsreichtum. 60 Jahre Forschen und Lernen in der Bundesrepublik Deutschland. Ch. Goetz Verlag, Potsdam 2009. 202 Seiten, 29,90 Euro.
An der FU Berlin gab es einen „Überforderungsbeauftragten”
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Alexander Kisslers bespricht diesen von Jürgen Baumert herausgegebenen Sammelband über 60 Jahre bundesdeutsche Bildungspolitik mit mäßiger Begeisterung. Das Werk mit dem Tenor, hierzulande sei gut forschen und gut lehren, erscheint ihm insgesamt eher passabel. Dass die einzelnen Autoren Bildung jeweils im Rahmen ihres Fachgebietes verstehen, wundert ihn nicht weiter. Die dominante Perspektive der Beiträge sieht er in einem Begriff von Bildung, der "national und anwendungsorientiert" ist. Durchaus interessant findet er aber die Texte über die Bildungsreformen seit den 1960er Jahren, etwa von Jürgen Busche über die 60er Jahre oder von Christine Eichel über die 70er Jahre. Die Stärke des Buchs sieht er darin, dass es sich letztlich einer "einsträngigen Moral" verweigert und dass, wie in den Beiträgen von Aleida Assmann und Paul Nolte, Ambivalenzen "ungeschlichtet" bleiben.

© Perlentaucher Medien GmbH