Produktdetails
  • Verlag: Liebe
  • Seitenzahl: 336
  • Erscheinungstermin: 24. Juni 2013
  • Deutsch
  • Abmessung: 221mm x 138mm x 24mm
  • Gewicht: 550g
  • ISBN-13: 9783941037878
  • ISBN-10: 3941037870
  • Artikelnr.: 36498834
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was der Lyriker, Übersetzer und Essayist Hans-Jürgen Heise in seiner nun vorliegenden Autobiografie aufschreibt, trägt für Walter Hinck mitunter Züge des Angelesenen, wenn der Autor sich mit Astronomie, Philosophie und Psychologie befasst. Mühsam kämpft sich Hinck auch durch die Familienkonstellationen des Autors und durch spröde Nachrichten aus dem Wohnort Kiel. Fesselnd hingegen beziehungsweise exemplarisch wird es für Hinck, sobald Heise seine Erfahrungen aus dem Nachkriegsberlin zum Besten gibt oder an sich selbst den Wandel politischer und sozialer Leitbilder nach dem Krieg illustriert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2013

Jede Nacht dockt das Universum an ein anderes an

Emotionaler Transfer: Hans-Jürgen Heises Autobiographie "Auf der Wanderdüne" und eine Sammlung seiner Gedichte offenbaren den Lyriker und Übersetzer als einen Albträumer der Astrophysik.

Auf der Wanderdüne" - so der Titel seiner Autobiographie - hat sich der Lyriker, Übersetzer und Essayist Hans-Jürgen Heise nicht im eigentlichen Sinne bewegt. 1930 im pommerschen Bublitz, dem heutigen Bobolice geboren, hat Heise den Zweiten Weltkrieg schon in Berlin erlebt und die Stadt, sieht man von einigen Umzügen ab, erst im Jahr 1958 verlassen; seitdem wohnt er in Kiel.

Der Buchtitel will denn auch eher im literarischen Sinne verstanden werden. Der junge, wendige Journalist sah seine Chance zunächst in der Redaktion des "Sonntag", der Ost-Berliner Kulturbund-Zeitung, rannte sich aber bald an der Mauer der ideologischen Betonköpfe fest und floh 1950 nach West-Berlin. In Kiel verdiente er als Lektor im Archiv des Instituts für Weltwirtschaft sein Brot. Auf einer Spanienreise mit seiner zweiten Frau, der Lyrikerin Annemarie Zornack, hat er ein entscheidendes Erweckungserlebnis: in Federico Garcia Lorcas andalusischem Geburtsort Fuentevaqueros und im Landstädtchen Baeza, wo geradezu ein "Wiedererkennungsschock" seine Erinnerung an den Geburtsort Bublitz trifft. Lange nachwirken wird, was Heise den "emotionalen Transfer" nennt.

Der Übersetzer von Gedichten Lorcas wird zum engagierten Übersetzer fremdsprachiger Lyrik. Schon während seiner Ost-Berliner Zeit hatte Heise unter Pseudonym in West-Berlin Naturgedichte veröffentlicht. Lyrik ist ihm "das absolute Gegenteil von Redekunst". Dieser Vorbehalt gegen ein Übergewicht des Rhetorischen und Gedanklichen im Gedicht und das Festhalten an der Metapher schließen aber poetologische Reflexion nicht aus. Die Autobiographie ist aufgefüllt mit Essays zur Ästhetik des Gedichts - über die Rolle der Inspiration und die Lyrikfeindlichkeit des Intellekts, über "Schattenränder der Aufklärung" und die "Gültigkeit des Flüchtigen".

Unbefriedigt von seinem Schulwissen, hat sich Heise mit erstaunlicher Zielstrebigkeit in Philosophie, Psychoanalyse, Hirnforschung, Astronomie und so weiter kundig gemacht. Da bleibt gelegentlich der Eindruck des Angelesenen nicht aus, aber Heise hält Distanz zu allen Theorien und wartet das "Open-End-Geschehen der Evolution" ab. Das autobiographische Erzählen geht ins Einzelne. Mühe machen dem Leser die verwickelten Familienverhältnisse. In besonderer Weise fesseln Heises Erfahrungen in Ost-Berlin und später das bunte Treiben in Kreuzberg, dem Bezirk West-Berlins, der damals noch Stadtteil der Arbeiter, "der Nutten, Strichjungen, auch der Ganoven" war, "die ein bisschen Bronx und Harlem spielten".

Dagegen wirken naturgemäß die Stadtnachrichten aus Kiel und dem Institutsarchiv reichlich spröde. So mutet eine Notiz aus den sechziger Jahren über Heises Kontakt zu Ulrike Meinhof - "die mir ein schmächtiges Honorar für Buchbesprechungen in dem Linksblatt ,konkret' überwies" - schon fast abenteuerlich an. Ob Heise die Verleihung des Professorentitels durch den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Björn Engholm im Jahr 1990 als eine Entschädigung empfunden hat, verrät er nicht.

Die Ehrlichkeit, mit der Heise Niederlagen eingesteht, ohne in seinem Selbstwertgefühl beeinträchtigt zu sein, kennzeichnet eine Generation, die sich durch eine Kriegsjugend und durch mehr als fünf Jahrzehnte deutscher Nachkriegsgeschichte, im Wandel der politischen und sozialen Verhältnisse und dem Wechsel der Leitbilder hat behaupten müssen. Insofern ist Heises "Auf der Wanderdüne" wohl eine exemplarische Selbstbiographie.

Eine Summe aus mehr als zwanzig Gedichtbänden zieht Heise in dem Band "Letzter Aufruf für Mr. H.". Die Gedichte, seit Ende der vierziger Jahre im freien Vers geschrieben, sind, unabhängig von der Chronologie ihrer Entstehung, nach Themengruppen geordnet. Wer hier nur Natur-, Landschafts- oder Seelenlyrik erwartet, wird rasch eines Besseren belehrt durch Titel wie "Ein ganzer Bus voll Frauen" (Loblied auf türkische Putzfrauen), "Die Welt als Aktienpaket" ("Der Mond, längst ein Inventurstück der Nasa") oder "Multiversum" ("Jede Nacht dockt das Universum an ein anderes an" - nicht umsonst "Alptraum eines Astrophysikers" genannt). Die Einbildungskraft dringt ins Unvorstellbare vor.

Für die Gruppe seiner Prosagedichte (man erinnert sich in diesem Zusammenhang auch an Walter Helmut Fritz' Prosagedichtsammlung "Cornelias Traum" von 1985) beruft sich Heise auf ein zu Baudelaire und Rimbaud zurückreichendes Genre und dem Prosagedicht ähnliche Formen bei Kafka und Robert Walser. Nicht von ungefähr fasst Heise seine Prosagedichte unter dem Titel "Fallgruben und Tapetentüren" zusammen. Sie führen zum Teil in eine surrealistische Welt, in der sich das Gesetz der Schwerkraft ins Gegenteil verkehren kann, in eine verfremdete Welt, in der Absurdes aufscheint, aber hinter Tapetentüren auch die Überraschung und das Wunderbare warten können. Hier haben selbst das Komische, das Groteske oder gar das Makabre ihren Platz. Hier versteckt sich der Lyriker in der Rolle des Erzählers. Diese Prosagedichte sind Textgebilde, in denen der Lyriker und der Erzähler miteinander in Wettstreit treten, bei unterschiedlichen Vorteilen. Aber immer bleibt das Prosagedicht janusköpfig.

WALTER HINCK.

"Letzter Aufruf für Mr. H.".

Gesammelte Gedichte und Prosagedichte 1948 - 2012.

Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2012. 320 S., geb., 20,- [Euro].

Hans-Jürgen Heise: "Auf der Wanderdüne".

Autobiographie.

Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2012. 311 S., geb., 20,- [Euro].

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