Produktdetails
  • Verlag: Klöpfer & Meyer Verlag
  • Seitenzahl: 269
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 397g
  • ISBN-13: 9783937667669
  • ISBN-10: 3937667660
  • Artikelnr.: 13253298
Autorenporträt
Karin Kersten studierte Komparatistik in Göttingen und Berlin, wo sie heute lebt. Sie arbeitet als freie Autorin für mehrere Rundfunkanstalten und als Übersetzerin, u.a. von Djuna Barnes, Doris Lessing und Virginia Woolf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2005

Katechismus der Dauerwurst
Debütanten müssen nicht jung sein: Karin Kerstens Erstlingsroman

Eigentlich ist der Titel schon vergeben. "Die Aufgeregten" heißt die unvollendete Komödie, in der Goethe sich 1793 über die "Pfuscher" und "Schwärmer" unter den deutschen Revolutionären amüsierte. Rund zweihundert Jahre später ist vom Aufstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht viel geblieben, und so sind die Protagonisten in Katrin Kerstens gleichnamigem Romandebüt vor allem von der Sorge um das ganz private Glück angetrieben. Ella Hermann und Karla Diestelkamp, zwei Frauen "reiferen Alters", haben aus der verbreiteten Sehnsucht nach Selbstverwirklichung gleich ein ganzes Geschäftsmodell gemacht und auf einem Gewerbehof im Südwesten Berlins ein lebenspraktisches Dienstleistungszentrum eingerichtet: "Multiple Choice - Die Welt der Agenturen".

"Bellas physiologisches Studio" hat sich hier genauso niedergelassen wie ein auf Altersweisheit gegründetes Beratungsbüro und die von ehemaligen Häftlingen betriebene Transportfirma mit dem hoffnungsvollen Namen "rin & rut". Der idealistische Schwung der Gründerjahre hat sich allerdings inzwischen gelegt, und Karla und Ella, die auf dem "verwirrend vielteiligen Gelände" das Textbüro "Federstrich" betreiben, haben auch nie so richtig gut verdient. Jetzt bedarf das Dach der bislang nur notdürftig instand gesetzten Immobilie einer dringenden Erneuerung, und wenn sie nicht "weitere halbseidene Komponenten wie Wenneghem Shones Begleitservice" in die Mietergemeinschaft aufnehmen wollen, müssen sich die beiden etwas einfallen lassen: "Wir brauchen Geld. Viel."

"Krise, Krise, ach, verschwinde / Wie die Dauerwurst im Spinde", seufzt Karla, die "ahnungsvolle Gelegenheitsdichterin". Als "Schriftstellerin sine spe" arbeitet sie schon seit längerem an einer literarisch ambitionierten Chronologie des Gewerbehofes und seiner näheren Umgebung, kommt aber in letzter Zeit nicht so recht weiter mit ihrer an Peter Handke gemahnenden Erzählung "über einen merkwürdig uninteressanten Ort, an dem sich, gelinde gesagt, merkwürdig bewegungsarme Gestalten aufhalten". Sie ist darum eigentlich ganz froh, als die eher pragmatisch orientierte Ella beschließt, das in Rußland angeblich erfolgreiche Produkt des "großen Groschenromans" nach Deutschland zu importieren: "reißerisch zusammengeklierte Geschichten von Liebe und Gewalt". Zunächst sehen die beiden ihrem Low-Budget-Bestseller noch ganz zuversichtlich entgegen, doch bald überkommen Karla bereits die ersten Zweifel. "Gut schreiben können hatte sie schon gewollt, und wie wir wissen, bis heute nicht gekonnt", meldet sich hämisch die Stimme des Erzählers aus dem Hintergrund. "Doch von vornherein schlecht schreiben hatte sie eigentlich nie gewollt. Wie ging denn das nun wieder?"

Einen Moment lang spielt Karla mit dem Gedanken, einfach nur die Vorschriften des "kleinen Katechismus für Schriftsteller" umzukehren, mit dem ebenfalls zur "Welt der Agenturen" gehörende Schreibschule Wochenendlyriker und Feierabendromanciers auf den rechten Weg bringen will: "Du sollst keine originellen Namen verwenden", "Du sollst keine Träume erzählen" und so weiter. Die Idee wird verworfen, kommt allerdings auf einer anderen, übergeordneten Ebene doch noch zum Tragen. Karin Kersten hat den kontrollierten Regelbruch nämlich zum Formprinzip der "Aufgeregten" gemacht: Ihre Figuren heißen "Johann Halblang" oder "Frau Krickel", Karla beginnt den Tag grundsätzlich mit einem ausführlichen Protokoll ihrer nächtlichen Phantasiebilder, und wenn sie damit fertig ist, läßt Karin Kersten sie in endlos langen inneren Monologen "die Gedanken in der Schwebe halten" - und verstößt damit seitenlang gegen ein weiteres Gebot des Katechismus: "Du sollst nicht räsonieren."

"Schlechte Literatur" ist das natürlich nicht, eher richtig gute: "Die Aufgeregten" ist ein Roman, der sich auf charmante Art dem Mainstream der zeitgenössischen deutschsprachigen Belletristik entzieht. Auf philosophische Betrachtungen folgen fragmentarische Kindheitsbetrachtungen und Seiten voller komischer Selbstvergewisserungsprosa, und nachdem Karla von einem Edgar-Wallace-Film geträumt hat, findet sie sogar eine echte Leiche, die für den weiteren Verlauf der Handlung allerdings gar keine Rolle spielt. "Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben selbst", denkt Karla voller Verachtung. "Böh!"

Karin Kersten ist 1943 geboren, und die über sechzigjährige Debütantin schert sich nicht weiter um die stromlinienförmigen Formatvorgaben des jüngeren Literaturbetriebs mit seiner Vorliebe für traurige Beziehungsgeschichten, nostalgische Familienerinnerungen und urbane Szenerien. "Ein Großstadtroman" steht zwar dick auf dem Einband von "Die Aufgeregten", aber die Ironie dieses Untertitels ist kaum zu übersehen: Auf der Suche nach Inspiration macht Karla nicht nur eine konsequent ereignislose Reise in ihre Heimatstadt Braunschweig, sondern unternimmt vor allem lange Spaziergänge im verschlafenen "Zwischenreich" des Berliner Stadtrands mit seiner Mischung aus Villen, kleingewerblichen Flachbauten und verlassenen Militärgrundstücken. Hier, wo sich am Abend ein "lodernd gelbroter Saum" entlang des Himmels zieht, entstehen nicht nur große Groschenromane. Am liebsten würde man es gleich in den kleinen Katechismus für Schriftsteller schreiben: "Du sollst auch die Ränder achten." Erstes Hauptstück, oberstes Gebot. Amen.

KOLJA MENSING

Karin Kersten: "Die Aufgeregten". Ein Großstadtroman. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2005. 269 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.04.2005

Das dringend erwünschte zweite Leben
So war Westberlin: Karin Kerstens Großstadtroman „Die Aufgeregten”
Wie wird man Schriftsteller, ja, schärfer gefragt, Romanschriftsteller? Am besten wohl, indem man alle Hoffnung fahren lässt und die Angst vor der weißen Seite zur Angstlust wendet. Oder indem man, wie Karla Distelkamp in dem Roman „Die Aufgeregten”, die Schreibschule von Elena und Glen Kullen besucht und alle dort postulierten Regeln gründlich auf den Kopf stellt. „Nehmen Sie sich irgendeinen noch so banalen Gegenstand, eine Tasche, einen Schuh, greifen Sie ihn an, zeigen Sie ihm die Zähne . . .” verkündet die kreative Frau Kullen, und Karla Distelkamp macht sich an die Arbeit: „Ihre Gedanken kehrten, entzündet wie durch ein Brennglas, immer wieder zu ihrem Vorhaben zurück.”
Gesagt, getan. In einem unwirtlichen Gelände hinter der Rostlaube der Berliner Freien Universität, das die Bodenlosigkeit und Fährnisse des Erkundens wie des Schreibens gleichermaßen veranschaulicht, verliert Karla bei einem dämlichen Sturz das mitgeführte Exemplum, den noch unbeschriebenen Schuh. Und sie entdeckt, als sie nach ihm sucht, eine Leiche. Ein riesiges Sujet tut sich unversehens vor ihr auf: Schauplatz, Tatort, Zeugenschaft und das unvermeidliche Eintreffen eines Hundes (samt Spaziergänger), die Szene weitet sich im Handumdrehn zu einer grotesken Anhörung, in der Karla nolens volens ihr wackliges Berufsbild „Schriftstellerin” zu Protokoll geben muss - mit dem halbgaren Anhängsel: „ich würde es gern werden”.
Das unwiderstehliche Gehege
Doch bis es zu dieser hochkomischen, peinlichen Szene kommt, sind wir bereits mit Karlas Welt recht gut vertraut, haben uns eingerichtet in einem geräumigen Roman, der in einem fremd vertrauten Westberlin zwischen Larnaca Allee und Sargasso Platz spielt. Dort hausen jene alt und älter gewordenen Herren und Damen wie in einem Gehege (was Westberlin ja unbestritten war), das sie um nichts in der Welt verlassen wollen. Henks Mühle, eine Art verstädterte Domäne, heißt das Anwesen, auf dem sie ihre Idiosynkrasien pflegen und verfeinern können. Und außer von Karlas ausschweifendem Schreibradar, das auf eine heute verpönte „vorpsychologische Zeit” getrimmt ist, werden sie gelegentlich auch von der sanft mokanten Supervision ihrer Freundin Ella Hermann erfasst. Ehe wir uns versehen, haben wir auch schon - klarer Verstoß gegen die Kullensche Regel Nummer 3 „Du sollst keine besonders originellen Namen verwenden” - Friedrich Tergeune, Seppelainen, Waltraud Andermatte, AuwackiGEHT NÄHEN], Manfred ‚Manne’ Mahnke und die unsägliche Maklerin Eleonore Redden kennen gelernt. Und seltsam, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, es ist, als kämen diese Figuren, und was sie an Merkwürdigkeiten und sonderbaren Redensarten mit sich führen, wie gerufen.
Über dem wachsenden Lesevergnügen, die Lebenswelt dieser abgeklärt Aufgeregten kennenzulernen, hat man Frau Distelkamps Schreibschwierigkeiten aus den Augen verloren. Die Prosa von Karin Kersten beherrscht die sanfte Überrumpelung, den Kunstgriff, mit unwahrscheinlichen Situationen aufzuwarten und uns auf deren Lösung neugierig zu machen. So zum Beispiel, wenn Ella Hermann in einer Art Lackmus-Test für die werdende Autorin Distelkamp das aus Russland importierte, Kapielski-verdächtige Projekt des „Großen Groschenromans” aufs Tapet bringt: „reißerisch aufgemachte, reißerisch zusammengeklierte Geschichten von Liebe und Gewalt, die ihren Lesern, bei eifrigem Gebrauch, ein dringend erwünschtes zweites Leben ermöglichen.” Die schiere Not lässt Karla diesem Vorhaben zustimmen. Wie gewünscht, kasteit sie sich vor den Augen der gesamten Mühle für die Niederschrift des Machwerks. Der erste Entwurf für diesen Großen Groschenroman ist - wie für große Literatur nicht anders zu erwarten - die Karte einer imaginären Landschaft: „Karla schnalzte vor Erwartungsfreude, doch waren es letztlich eher die Wonnen der Erinnerung an längst geschriebene Romane der Weltliteratur, die sie bewogen, ihrer imaginären Landkarte noch eine Weile nachzuhängen.” Und wieselflink zieht sie uns am Schnürchen dieser nostalgischen Leseerinnerungen in das Realsubstrat eines ihr vertrauten Geländes. „Sollte dieser erste Große Groschenroman nach russischem Muster etwa in der Heide spielen? Karla schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das war die Landschaft. Wacholder. Erika. Wackersteine. Hitze. Sand. Fliegengesurr. Heidschnucken. Truppenübungsplätze. Safariparks. Na, da war ja einiges los. Und ganz nebenbei kannte sie sich dort aus.”
Karla und Ella fahren - immer die Fata Morgana des Großen Groschenromans vor Augen - in die Heide. Seit Arno Schmidt hat man keine derart weltentrückte Heidelandschaft mehr lesend durchwandert, in der versandende Fluss- und Flurnamen sich - in Orffscher Manier dröhnend - reimen. Der seltsame und für den Leser verzaubernde Moment entspringt immer wieder aus dem Vermögen der Autorin, diese öde und fast erinnerungsresistente Landschaft so vor uns aufzuschlagen, dass wir auch den abstrusesten Situationen zu folgen bereit sind. Diese in der deutschen Literatur seltene, sachte und gewitzte Manier der Überwältigung durch einen aus der Funktionalen gekippten Realismus erinnert an russische Schriftsteller wie Andrei Sinjavski („Die Graphomanen”) oder Sascha Sokolov („Die Schule der Dummen”), bei denen das Hochkomische, das Banale und das Lächerliche (der Situation) von der Melancholie (der Betrachtung) durchdrungen und noch gesteigert wird. Angesichts von Karlas kläglichen Versuchen „Material für einen Reißer” zu finden, hakt Ella, nachdem sie die bis dahin mühsam zusammengeklaubten Vorschläge abserviert hat, nach: „Sonst noch was?” „Einmal ist eine Thermosflasche runtergefallen, auf der Straße, beim Aussteigen, und war kaputt.” „Och nee, Karla, das ist nun wirklich nicht ausbaufähig. Was anderes?” Und nicht ohne Überraschung wartet die Autorin mit dem wie hingetuschten geheimnisvollen Satz auf: „Karla schwieg eine lange Weile, als warte sie diskret und wolle ihr eigenes Gedächtnis nicht stören.”
Das Aroma der Stadt
Der Große Groschenroman, den die Autorin zu unserem Vergnügen in ihrem eigenen Roman so verstaut hat, dass kleine Kostproben an unverhoffter Stelle daraus hervorschießen, ist ein mit viel Witz getarnter, ernst zu nehmender Roman, dessen Herstellung einiges von der virtuosen Handhabung der Mittel verrät, über die Karin Kersten verfügt. Ganz nebenbei entfaltet Karlas Welt ein Tableau des untergegangenen Westberlin. Doch bedarf es keiner besonderen Orts- und Zeitkenntnis, um das Aroma dieser entwichenen Stadt und seiner freiwillig dorthin verschlagenen Bewohner noch einmal zu schmecken. „Die Aufgeregten” haben vieles davon für uns aufbewahrt.
Wie wird man Schriftsteller? Neben Talent und Erzähllust bedarf es wohl einer tollkühnen Anstrengung, die einmal ins Spiel gebrachten Gestalten und Ereignisse mit leichter Hand durch das Terrain des Textes so zu führen, dass wir vergessen, nach der Plausibilität der Erfindungen auch nur zu fragen. Oder, um es mit den Worten von Karla Distelkamp zu sagen: „Sie möchte einfach nur ihres Abdrucks im gigantischen Wildwechsel ihrer Zeitgenossen sicher sein, nicht mehr und nicht weniger. Aber die Aufgabe ist sehr groß.” Karin Kersten hat diese Aufgabe bewältigt.
HANNS ZISCHLER
KARIN KERSTEN: Die Aufgeregten. Ein Großstadtroman. Klöpfer & Meyer, München 2005. 220 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Die Aufgeregten" sind ziemlich unaufgeregt, stellt Martin Krumbholz fest. Allerdings redeten sie als "gemäßigte Hysterikerinnen" so viel, wie der Tag lang ist; "Die Aufgeregten" von Karin Kersten, ein Debütroman, sei ein ausgesprochen dialogintensives Buch, so Krumbholz, das durch den verbalen Schlagabtausch seiner zwei Protagonistinnnen, zwei ledige Frauen im mittleren Alter, vor Einseitigkeit oder Flucht in die Innerlichkeit geschützt sei. Kersten produziert laut Krumbholz einen ganz eigenen Wort- und Dialogwitz, sie besitzt einen speziellen Humor, der den Rezensenten an Hermann Lenz erinnert. Erstaunlich lässig arbeiteten sich die beiden Figuren an ihrer Umwelt, an ihren Existenzängsten, an ihren Süchten ab, entfalteten in aller Ruhe ihre Schrullen, staunt Krumbholz, weshalb er den Untertitel "Großstadtroman" als eher untauglich empfindet und bei den "Aufgeregten" lieber von einer Peripherie-Geschichte sprechen würde. Da hinein passt auch das Krimi-Motiv, das mitten in den Roman platzt, schwärmt der Rezensent, und die Autorin in souveräner Weise mit der Spannung zwischen Trivialroman und anspruchsvoller Literatur spielen lasse.

© Perlentaucher Medien GmbH