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Der Widerstand gegen das Hitlerregime aus den Traditionen der Arbeiterbewegung ist im Ostteil Deutschlands auf jenen der KPD fokussiert betrachtet und im Westen lange Zeit kaum beachtet worden. Erst nach 1989 setzte sich ein vorurteilsloser und umfassender Blick auf diesen wichtigen Aspekt der deutschen Geschichte durch. Hans-Rainer Sandvoß' materialreiche Arbeit zur besonderen Situation in Berlin spart keinen Aspekt des Arbeiterwiderstands aus und kann schon jetzt als Standardwerk gelten.

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Produktbeschreibung
Der Widerstand gegen das Hitlerregime aus den Traditionen der Arbeiterbewegung ist im Ostteil Deutschlands auf jenen der KPD fokussiert betrachtet und im Westen lange Zeit kaum beachtet worden. Erst nach 1989 setzte sich ein vorurteilsloser und umfassender Blick auf diesen wichtigen Aspekt der deutschen Geschichte durch. Hans-Rainer Sandvoß' materialreiche Arbeit zur besonderen Situation in Berlin spart keinen Aspekt des Arbeiterwiderstands aus und kann schon jetzt als Standardwerk gelten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2007

Hell aus dem dunklen Vergangenen
Einige zehntausend Berliner Arbeiter ließen sich nicht durch das "Dritte Reich" sozial korrumpieren

"Berlin bleibt rot", rief der SPD-Vorsitzende Otto Wels den 200 000 Menschen zu, die sich am 7. Februar 1933 im Berliner Lustgarten versammelt hatten, um gegen Hitler zu protestieren. Tatsächlich war die Reichshauptstadt eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Die SPD zählte Anfang 1933 in Groß-Berlin fast hunderttausend Mitglieder, die KPD kam auf knapp fünfzehntausend, und bei der schon teilweise unfreien Reichstagswahl am 15. März 1933 verbuchte die NSDAP in Berlin ein weit unterdurchschnittliches Ergebnis: 34,6 Prozent (in der Innenstadt gar nur 31,3 Prozent) gegenüber 43,9 Prozent im Reichsdurchschnitt. Bei der Volksabstimmung am 19. August 1934 votierten immerhin 570 000 Berliner mit "Nein" oder "ungültig", das waren - nach den vermutlich geschönten offiziellen Zahlen - rund 20 Prozent der Abstimmenden, während die Jastimmen im Reichsdurchschnitt bei 90 Prozent lagen.

Nach den Massenverhaftungen und Gewaltexzessen in den ersten Wochen des Regimes, nach der Auflösung der Arbeiterparteien und aller ihrer Nebenorganisationen, der Emigration maßgeblicher Führungskader und der Verschärfung der strafrechtlichen Sanktionen für alle Arten regimegegnerischer Aktivität wurde es auch in der Reichshauptstadt zu einer Sache der wenigen, "Widerstand" zu leisten; gebräuchlicher waren übrigens damals die Ausdrücke illegale Arbeit, oppositionelle Arbeit. Sie bestand überwiegend in Abfassung und Verbreitung antinazistischer Druckschriften oder hektographierter Blätter, Durchführung von Geldsammlungen zur Unterstützung der Familien von Inhaftierten, Fluchthilfe für Bedrohte, Übermittlung von Nachrichten über die Zustände im nationalsozialistischen Deutschland ins Ausland, Knüpfen politischer und sozialer Netze zwischen Regimegegnern. In den Kriegsjahren kam seit 1943 in einzelnen Fällen auch Sabotage am Arbeitsplatz hinzu. Zwar wurde das "Dritte Reich" durch all diese Aktivitäten nicht ernstlich beeinträchtigt, aber die Machthaber sahen in den Aktivisten des Widerstands doch gefährliche Gegner und verfolgten sie gnadenlos. Zu diesem Zweck wurde der Verfolgungsapparat enorm ausgebaut. Es gab auch Überläufer, bei der SPD und der KPD, zudem vermochte die Gestapo immer wieder Spitzel in die illegalen Zirkel vor allem der Kommunisten einzuschleusen, und gelegentlich setzte sie sogar Lockspitzel ein, die zu politischen Straftaten anstifteten, welche dann den Untergrundkämpfern zum Verhängnis wurden.

Mitte der dreißiger Jahre waren über tausend Berliner Kommunisten und Sozialdemokraten inhaftiert, die meisten von ihnen waren bestialisch gefoltert worden, um die Namen von Mitverschworenen aus ihnen herauszupressen. Zu den über zweihundert Männern und Frauen aus den Reihen der Sozialdemokratie, die angeklagt und verurteilt wurden, sind jene hinzuzurechnen, die ohne Verurteilung blieben, sowie diejenigen, deren oppositionelles Wirken nicht aufgedeckt wurde. Die Zahl verhafteter und abgeurteilter Kommunisten lag wesentlich höher: Einige tausend gerieten für kürzere oder längere Zeit in Haft, über tausend wurden zu Gefängnisund Zuchthausstrafen verurteilt. In den Kriegsjahren häufte sich dann die Zahl vollstreckter Todesurteile, sie geht in die Hunderte. Zumal die Kommunisten entrichteten einen hohen Blutzoll.

Hans-Rainer Sandvoß, stellvertretender Leiter der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand", legt nun den voluminösen Band über die "andere" Reichshauptstadt vor - nicht immer leicht zu lesen, aber imponierend durch die Fülle der Informationen. Es ist der große Vorzug der Darstellung von Sandvoß, dass er die illegale Tätigkeit aller Strömungen innerhalb der Berliner Arbeiterbewegung minutiös erfasst und entsprechend ihrem Gewicht ausführlich darstellt, fern eines jeden Gestus einseitiger Heroisierung. Im Vordergrund stehen natürlich Widerstand und Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten, aber ein umfängliches Kapitel gilt auch dem Widerstand der von ihm als "Zwischengruppen" bezeichneten unabhängigen Sozialisten und Kommunisten (Kommunistische Partei-Opposition, Sozialistische Arbeiterpartei, Rote Kämpfer, Internationaler Sozialistischer Kampfbund und Neu Beginnen). Die Angehörigen dieser zahlenmäßig kleinen Gruppen zeigten verhältnismäßig mehr Einsatzbereitschaft und Resistenz gegenüber der Gleichschaltung als die Mitglieder der Massenparteien. Und da sie die konspirative Arbeit umsichtiger betrieben als die illegale KPD, konnten sie der Infiltration durch Gestapo-Spitzel länger trotzen.

Die präzisen Darlegungen von Sandvoß beruhen aus einer breiten Quellengrundlage, wie sie umfassender kaum gedacht werden kann. Die Unterlagen der Verfolgerseite, Gerichtsurteile und Verhörprotokolle, sind unverzichtbar, bedürfen aber sorgfältiger quellenkritischer Bewertung. Deshalb ist es von Vorteil, dass Sandvoß über 1700 Verfolgten- und Entschädigungsakten auswerten konnte, die bereits in den Jahren 1945/46 angelegt wurden, also in großer zeitlicher Nähe zu den Geschehnissen. Hinzu kommen über dreihundert Befragungen von Betroffenen; den Großteil der Interviews führte Sandvoß selbst. Da von den Widerstandskämpfern, die überlebt haben, nicht wenige sehr alt wurden, konnten sie noch in den achtziger und neunziger Jahren befragt werden.

Wenn bei den Sozialdemokraten die Zahl aktiv tätiger Illegaler auch kleiner war als bei den Kommunisten, so reichte der Kreis entschiedener Regimegegner doch weit über jene zweihundert Verurteilten hinaus. Die Existenz eines informellen Netzes unter gesinnungstreuen Berliner SPD-Anhängern trat in Erscheinung bei Beerdigungen, die sich zu stummen Demonstrationen gestalteten. Besonders spektakulär war die Trauerkundgebung beim Tod der beliebten langjährigen Berliner Reichstagsabgeordneten Clara Bohm-Schuch am 24. Mai 1936. Ein Teilnehmer beschreibt sie so: "Die Halle des Krematoriums fasste nur einen kleinen Teil dieses großen Gefolges der Kameraden und Gesinnungsgenossen. Weit über 5000 Berliner Sozialdemokraten füllten den Platz vor dem Krematorium und verharrten in stummem Schweigen. Fast alle hielten in den Händen einen Strauß leuchtender Frühlingsblumen, aber der Weg zum Sarg war durch die Fülle der Menschen längst versperrt. Da ging plötzlich der Ruf durch die große Gemeinde ,Alle Blumen nach vorn', und nun erhob sich über den Köpfen der Menschen eine Welle leuchtender Farben, bis sie in der weiten Halle verebbte und den Sarg in ein Meer von Grün und Blüten versenkte."

Wenn es in der Viermillionenstadt Berlin nur einige zehntausend waren, die in dieser oder jener Weise ihre Regimegegnerschaft bekundeten, und nur etliche tausend, die aktive illegale Arbeit leisteten und damit ihre Freiheit - und in den Kriegsjahren das Leben - riskierten, so belegt dieser Befund doch, dass es in der Reichshauptstadt eine dem Regime ausnahmslos ergebene Arbeiterschaft nicht gegeben hat. Dieser Befund ist wichtig, da seit einiger Zeit mit viel medialem Getöse versucht wird, die Deutschen zu willigen Anhängern des NS-Regimes oder gar zu schamlosen Nutznießern der Diktatur zu stempeln. Mit Recht konstatiert Sandvoß, die These von der sozialen Korrumpierung der Bevölkerung durch die NS-Gesellschaftsordnung finde "zumindest für Berliner Arbeiterkreise keine ausreichende wissenschaftliche Begründung".

EBERHARD KOLB.

Hans-Rainer Sandvoß: Die "andere" Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945. Lukas Verlag, Berlin 2007. 668 S., 29,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hans-Rainer Sandvoß' umfangreicher Band über Widerstand und Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten in Berlin von 1933 bis 1945 hat Rezensent Eberhard Kolb tief beeindruckt. Er würdigt die auf umfassender Auswertung von Quellen basierenden Recherchen, den Reichtum an Informationen sowie die gründliche und detaillierte Darstellung. Die Stärke des Werks sieht er in der akribischen und ihrer Bedeutung entsprechend ausführlichen Schilderung der illegalen Aktivitäten sämtlicher Strömungen der Berliner Arbeiterbewegung, "fern eines jeden Gestus einseitiger Heroisierung". Neben der Darstellung des Widerstands der "offiziellen" Kommunisten und Sozialdemokraten findet Kolb auch ein instruktives Kapitel über den Widerstand unabhängiger Sozialisten und Kommunisten. Der Band macht in seinen Augen deutlich, dass in Berlin von einer Arbeiterschaft, die dem Nazi-Regime ausnahmslos ergeben war, nicht die Rede sein kann.

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