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Produktdetails
  • Verlag: Nova & Vetera
  • Seitenzahl: 367
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 636g
  • ISBN-13: 9783936741117
  • ISBN-10: 3936741115
  • Artikelnr.: 13461693
Autorenporträt
Gilbert K. Chesterton, geb. 1874, gest. 1936 ebendort, war Zigarrenraucher und Dialektiker, Vielschreiber und Gourmand. Unter seinen hundert Büchern sind die bekanntesten Der Mann, der Donnerstag war (1908) und Die Geschichten von Pater Brown (1911-35).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2003

Fröhlicher Sündenfall
Ein Mann wie ein Vulkan: Die Autobiographie G. K. Chestertons

Kann man Gilbert Keith Chestertons Autobiographie, nach fünfzig Jahren wieder aufgelegt, das Leben Chestertons entnehmen? Wer Biographien Chestertons kennt - in Deutschland werden das meist die über Thomas von Aquin und Franz von Assisi sein -, wird das, bei allem Reichtum dieser Bücher, nicht erwarten. Chesterton war als Schriftsteller kein ökonomisch organisierender Zettelkastenbewirtschafter. Wenn er sich mit der ganzen majestätischen Fülle seiner von vielen Karikaturisten gezeichneten Person über ein Thema beugte, war das eher, als falle ein göttlicher Schatten darauf, in dem sich Chestertons Empfinden mit dem, was er behandelte, unauflöslich verband. Wer Chesterton liest, begibt sich vor allem in Chestertons Gesellschaft, und die bietet mehr als die Gegenwart einer imposanten Persönlichkeit, sie strahlt, wärmt, erheitert, vertreibt die zivilisatorischen Ängste und ersetzt sie durch eine echte Furcht, versperrt utopische Ausflüchte und eröffnet an ihrer Stelle eine wirkliche Hoffnung.

Chesterton ist eher eine Energie als eine zu analysierende Botschaft. Wer die Chesterton-Autobiographie gelesen hat, dem schwirrt der Kopf wie nach einem dionysischen Abend mit viel Wein und Zigarren, bei dem lauter "Genies" durcheinandergesprochen haben. Man denkt glücklich an diesen Abend, aber man könnte schwer wiedergeben, was alles gesagt wurde. Wenn im Folgenden der Versuch gemacht wird, dennoch gewisse Motive der Autobiographie herauszulösen, geschieht das beinahe gegen die Natur des Buches: Der Leser wird diese Motive jedenfalls nicht als "Stellen" wiederfinden, sondern eher als eine Essenz, mit der der Band getränkt ist.

Den Deutschen ist Chesterton vor allem durch ein Nebenprodukt seiner rastlosen, schier unermeßlichen Schreiberei bekannt, durch die "Father Brown"-Kriminalkurzgeschichten, die dann auch noch in Rühmann-Verfilmungen trivialisiert worden sind. Jedem, dem Chesterton durch einen dieser Schmunzel-Filme bekannt geworden ist, sei gesagt, daß sie von Chestertons Werk nicht einmal eine blasse Vorstellung vermitteln. Weit entfernt davon, Produzent konfessionell gefärbter Besinnlichkeiten zu sein, war er im öffentlichen Leben Englands, was für Deutschland und Österreich Karl Kraus war, der übrigens im selben Jahr wie Chesterton, 1936, gestorben ist.

Chestertons journalistisches Werk bibliographisch zu erfassen ist bis heute unmöglich. In der Autobiographie erfährt man über sein Arbeitsleben so gut wie nichts. Wenn man ihr glaubt, hat Chesterton sein Leben in Gelagen, Landaufenthalten und Wanderungen, mit Freunden und einem Strom bedeutender, mächtiger und kauziger Menschen zugebracht. Woran es bei ihm nie gefehlt haben kann, ist Zeit, wie es auch im Dasein eines Vulkans, der täglich sein Pensum Lava über den Kraterrand treten läßt, keine Probleme mit der Zeit gibt. Lange vor der Erfindung der Talk-Show war Chesterton außerdem Englands berühmtester Talkmaster. In Podiumsstreitgesprächen mit George Bernard Shaw nahm er an einem geistigen Dauerboxkampf vor überfüllten Rängen teil; Shaw gab den aufklärerischen Liberal-Sozialisten, Chesterton den Common-sense-Reaktionär-Anarchisten. Sein Leben war ein im höchsten Grade öffentliches, wie es in Deutschland für einen Mann seines geistigen Formats ganz unmöglich zu führen gewesen wäre.

In seiner Autobiographie begegnen wir noch einmal einem England, das viel von der aristokratischen Atmosphäre der römischen Republik mit ihren senatorischen Parteien der Optimaten und der Popularen an sich hatte. Der politische Wettstreit zwischen Tories und Whigs war in ein weites gesellschaftliches und intellektuelles Umfeld eingebettet. Von den Schulen und den Universitäten an wurde die politische Betätigung, die Teilnahme an der politischen Willensbildung der bürgerlichen Eliten, systematisch entwickelt. Rund um die eigentlichen Parteien herum hatte sich ein Kranz politischer Salons gebildet, der trotz seiner Exklusivität ein erstaunlich großes Milieu umfaßte. Bei Wahlkampagnen, die den Charakter ausgedehnter Gesellschaftsspiele hatten, entfalteten sich die Parteien als Lebensform einer sich aus der Bourgeoisie beständig erneuernden politischen Klasse.

An diesem Leben nahmen Chesterton, sein Bruder Cecil und sein Freund Hilaire Belloc auf dem linken Flügel teil, obwohl das, was diese drei Sozialismus nannten, wenig mit dem zu tun hatte, was auf dem Kontinent unter Sozialismus verstanden wird. Es war auf jeden Fall ein antikorporativer Sozialismus, ein Kampf gegen Monopole und eine moderne Form von Leibeigenschaft, aber gewiß nicht, um statt dessen einen Staatsmonopolismus zu favorisieren. Chesterton träumte von einem anarchischen Mittelalter voll kleiner, unabhängiger Existenzen als der dem Menschen angemessenen, seine Möglichkeiten begünstigenden Lebensform. Doch je länger er die Entwicklung der englischen Politik verfolgte, desto stärker wurde sein Zweifel an der Zukunft des Parlamentarismus. Der Kampf der Parteien wurde, so fürchtete er, zur Fassade, hinter der sich die eigentliche Macht etablierte: die "Plutokratie", so nannte er das Kartell der international agierenden Finanzleute und Industriellen, das die Parteien an der Leine hielt und das Land in Kolonialkriege hetzte.

Chesterton war ein Patriot von der Sorte, die den Patriotismus generell und auch die Patrioten anderer Länder liebt: Deshalb kämpfte er für die Freiheit Irlands und verabscheute den Imperialismus. Den Eroberungskrieg Englands gegen die holländisch-südafrikanische Republik griff er an, weil dort keine englischen Interessen gefährdet seien; tatsächlich stützte Cecil Rhodes sich bei der Errichtung seines Imperiums vornehmlich auf deutsch-jüdische Bankiers, die "Rand-Lords", die für Chesterton "Outlanders" waren. Vor dem Ersten Weltkrieg gingen in England und Frankreich antijüdische häufig mit antideutschen Tönen einher. Und so offenbart sich der Mann mit dem tiefen Verständnis für andere Nationen denn auch als regelrechter Deutschenfresser, dessen Version des Ersten Weltkriegs lautet: "Preußen hat England überfallen, um England zu einem preußischen Vasallenstaat zu machen." Die Einsicht, daß England der eingebildeten Gefahr, preußischer Vasall zu werden, dadurch entkommen zu sollen glaubte, daß es der reale Vasall der Vereinigten Staaten wurde, blieb ihm verschlossen. Sein geliebter Bruder und Mitstreiter war in Frankreich gefallen. Vielleicht hätte Chesterton den Gedanken nicht ertragen, daß der Bruder in einem sinnlosen Krieg sein Leben hatte lassen müssen. Der Tod Cecils muß für ihn wie ein Zeichen des Untergangs für jenes England gewirkt haben, dessen politische Tradition und dessen volkstümlichen Geist er wie einen Menschen liebte.

Dabei war er selbst durch seine Konversion zur katholischen Kirche zu einem England auf Distanz gegangen, in dessen Öffentlichkeit der Protestantismus längst zu einem liberalen Agnostizismus mit antikatholischem Affekt geworden war. Wie alles in seinem Leben - seine Ehe ausgenommen - wurde auch diese Konversion zu einer öffentlichen Angelegenheit. So beredt Chesterton aber auch war, seine rhetorischen Ornamente dienten oft auch dazu, eine rätselhafte Dunkelheit zu erzeugen. Über den "actus fidei", der ihn zur katholischen Kirche führte, schwieg er sich aus; nicht hingegen über die Anstöße, die ihn der Religion geneigter machten. So war es ein wesentliches Abzeichen seines Temperaments, die ihn umgebende Welt nicht als etwas Selbstverständliches zu empfinden. Er behauptete, immer wieder neu darüber verblüfft sein zu können, daß es so etwas wie Gras gebe und daß es grün sei - er meinte zu spüren, daß die Welt nicht notwendig so sei, wie sie ist, sondern daß sich ein künstlerischer Wille hinter ihrer Beschaffenheit verberge. Diesem Willen dankbar zu sein war ihm ein Bedürfnis noch vor aller dogmatisch fixierten Religiosität.

An anderer Stelle erwähnt er das Wort eines Priesters, Father Waggett, der zum Vorbild des Father Brown wurde: "Wie dem auch sei, es muß für jeden offenkundig sein, daß die Lehre vom Sündenfall die einzige fröhliche Ansicht vom Leben ist." Ein solches Paradoxon war dazu gemacht, von Chesterton verstanden zu werden. Die von Adam und Eva ererbte Unvollkommenheit des Menschen war weit davon entfernt, ihn zu beunruhigen, sondern erschien ihm tröstlich. Der unvollkommene Mensch, jeder Mensch, auch der erhabene und mächtige, war nämlich nicht nur zum Bösen geneigt, er war auch komisch. Es war vielleicht vor allem dieser Gedanke, dem Chesterton mit seiner Bekehrung näherzukommen hoffte.

G. K. Chesterton: "Autobiographie". Aus dem Englischen übersetzt von Hubert Schiel. Verlag nova & vetera, Bonn 2002. 367 S., geb., 25,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kurt Flasch ist fasziniert von Gilbert Keith Chesterton, so sehr, dass er sich den "intelligenten Kauz" "zum Freund" gewünscht hätte, um mit zu lachen und zu parlieren. Das Thema Katholizismus und Mittelalter - Chesterton war ein einfältig-fanatischer Eiferer der religiösen Rückkehr dorthin - hätte er vermieden, aber über Chestertons Leben hätte er sich gern mit ihm unterhalten, war doch der Schöpfer des Pater Brown nicht nur ein vortrefflicher Autor "ironisch-sozialkritischer" Krimis, sondern auch ein eifriger Polemiker gegen alles, "was um 1900 in England als selbstverständlich galt oder literarische Mode war". Also gegen: Imperialismus, "literarischen Pessimismus" und Dandytum, gegen religiösen Skeptizismus, Rationalismus und Idealismus, und überhaupt gegen die Moderne an sich, der er den Katholizismus und den "Nonsense" entgegensetzte. Chesterton, schreibt Flasch, "skandalisierte und amüsierte (...) ganz England". Seine intellektuelle Haltung, "seinen politisch-philosophischen Hintergrund", seinen "wilden Exodus aus der modernen Welt" - all das vermittle die Autobiografie, die 1936, im Jahr seines Todes, veröffentlicht wurde und nun in einer Neuübersetzung vorliegt. Wenn man sich schon nicht mit Chesterton selber unterhalten kann ...

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